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4 Die Gemeindeleitungsproblematik im Kontext der konziliaren Neudefinition von Kirche
ОглавлениеWie aber zeigt sich der c. 517 § 2 im Kontext der Ekklesiologie des II. Vatikanums? Nun gibt es Kirchenrechtler, die der Ansicht sind, „der CIC sei das letzte Buch des Konzils, vom Papst promulgiert und deshalb der hermeneutische Schlüssel zur Auslegung der Konzilstexte“329. Manche systematische Theologen wiederum sprechen von einer zwiespältigen Ekklesiologie des Konzils330 und es gibt auch Anstrengungen, unter dem grundsätzlich bedenkenswerten Stichwort einer „Hermeneutik der Kontinuität“ – schließlich knüpft das Konzil bekanntlich an biblische und patristische Traditionen an – dieses in seiner Eigenständigkeit zu minimieren, sein innovatives Potential zu schmälern331 und seinen „dogmatischen Fortschritt“332 zu leugnen.
Demgegenüber möchte ich meine Position hier klar markieren: Sie geht von der Priorität des Konzils vor dem Kirchenrecht, von der grundsätzlichen Konsistenz und Einheit seiner Ekklesiologie und von der Eigenständigkeit, dem innovativen Potential und dem dogmatischen Fortschritt seiner Positionen aus.
All dies betrifft unsere Fragestellung unmittelbar. Denn das Konzil etabliert in zentralen Bereichen unserer Fragestellung neue Zuordnungen. Ich möchte sie als dreifachen Horizontwechsel beschreiben. Diese Wechsel betreffen die Stellung der Kirche in der Welt, die Stellung des Priesters in der Kirche und die Stellung der Kirche zu ihrem Handeln.
Hinsichtlich der Stellung der Kirche in der Welt gilt: Die katholische Kirche definiert sich auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont der feindlichen Welt, sondern die Welt im Horizont des universalen kirchlichen Heilsauftrags. Sehr schön zugespitzt findet sich das in Gaudium et spes 44, wo es heißt: „Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ Das feindliche moderne Außen ist also nicht der Ort, wo die Kirche sich verliert, sondern wo sie sich findet und zwar über die problem- und handlungsorientierte Entdeckung ihrer eigenen Botschaft. Dogmatische Basis hierfür ist die konziliare Lehre von der Berufung aller Menschen durch Gott in Christus, einer Berufung,333 welche die Kirche zu bezeugen hat, die ihr aber selbst vorgängig ist und der sie also zu dienen, die sie nicht zu verwalten hat.334
Hinsichtlich der Stellung des Priesters in der Kirche gilt: Die katholische Kirche definiert sich auf dem II. Vatikanum nicht mehr im Horizont des Weihepriestertums, sondern das Weihepriestertum im Horizont des priesterlichen Volkes Gottes. Oder um es knapp und präzise mit den Worten Elmar Klingers zu sagen: „Auf dem II. Vatikanum ist der Platz des Priesters in der Kirche nicht die Hierarchie, sondern das Volk Gottes.“335
Alle in der Kirche stehen auf der gemeinsamen Basis des einen Auftrags, dieses Volk Gottes zu sein. Die Kirche ist für das Konzil das in Christus versammelte Volk Gottes auf dem Weg zu Gott. „Der große Durchbruch des Zweiten Vatikanums, sein Sprung nach vorn, ist das zweite Kapitel der Konstitution Lumen gentium über das Volk Gottes. Das Konzil benennt mit dem Ausdruck die Kirche insgesamt. Er meint alle ihre Mitglieder – groß und klein, hoch und niedrig, alt und jung“336 – so Elmar Klinger.
Es gibt eine Einheit der ganzen Kirche vor allen hierarchischen Stufungen. Das amtliche Priestertum ist von seiner Zuordnung zur Gesamtkirche her zu sehen. Das Konzil hat denn auch in seinen Diskussionen den Klerikalismus als Standesherrschaft der Priester über die Laien immer zurückgewiesen.337
Freilich ist zuzugeben, dass die konziliar kritisierte klerikale Monopolisierung kirchlichen Handelns nachkonziliar nach und nach wieder ein wirksameres Ordnungsmodell kirchlicher Realität zu werden begann338 und dies wohl nicht zuletzt auf der Basis des 1983 eingeführten neuen CIC. Immerhin hält Norbert Lüdecke über diesen fest: „Der CIC schafft mit dem Material des II. Vatikanischen Konzils eine kirchliche Ordnungsgestalt, welche die Ekklesiologie des Ersten unbehelligt lässt und zusätzlich abstützt.“339 Mag Lüdeckes Aussage auch eine zugespitzte Interpretation des Verhältnisses des CIC 1983 zum II. Vatikanischen Konzil sein,340 sie formuliert zumindest eine Kirchenrechtsinterpretation, die zunehmend an Einfluss gewinnt und dem Versuch einer faktischen Reklerikalisierung der kirchlichen Wirklichkeit Vorschub leistet, wie es auch diverse Instruktionen tun.341
Hinsichtlich der Stellung der Kirche zu ihrem Handeln aber gilt: Die katholische Kirche definiert ihre Pastoral nicht mehr im Horizont ihrer kirchlichen Institutionalität, sondern ihre Institutionalität im Horizont ihres pastoralen Grundauftrages. Das Konzil stellt der Kirche die Aufgabe, „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium 1) und so das „allumfassende Sakrament des Heiles“ zu sein, „welches das Geheimnis der Liebe Gottes zu den Menschen zugleich offenbart und verwirklicht“ (Gaudium et spes 45).
Die polare Einheit von „offenbaren“ und „verwirklichen“ formuliert nichts weniger denn eine „pastorale“ oder, philosophisch gesprochen, eine „pragmatische Wende“342 in der katholischen Ekklesiologie, also eine handlungsbezogene Reformulierung der kirchlichen Lehre von sich. Denn es heißt: Die Kirche offenbart diese Liebe, indem sie diese verwirklicht, in Wort und Tat, in Hingabe und Selbstlosigkeit. Allein schon dass man, bekanntlich nach langen Kämpfen und Auseinandersetzungen, eine „Pastoralkonstitution“ in die Quadriga der zentralen Konzilstexte aufnahm und damit den Pastoralbegriff mit dem Offenbarungs-, dem Kirchen- und dem Liturgiebegriff auf die gleiche Ebene stellte, belegt dies.
Das II. Vatikanum bedeutet eine echte Revolution im Pastoralbegriff der Kirche.343 Es überwindet nicht nur individualistische Engführung auf „Seelsorge und Seelenführung“ und die klerikale Engführung auf die Priester, vor allem überwindet es einen Begriff von Pastoral, der sie als sekundär gegenüber der Kirche und ihrer Lehre fasst.344
Operativer Zentralbegriff für diese pastorale Wende aber ist die Kategorie der „Zeichen der Zeit“ (Gaudium et spes 4),345 welche nicht irgendwelche mehr oder weniger zufälligen Kontextbedingungen kirchlichen Handelns meint, sondern die säkularen Herausforderungen, an denen sich das Evangelium zu bewähren hat, weil das Volk Gottes in ihnen Sinn, Bedeutung und Handlungskonsequenzen des Evangelium situativ neu entdecken muss.
Gegenüber der konziliaren Trias von Volk-Gottes-Theologie, gesamtheitlichem, existenzlegitimierendem Pastoralbegriff und pastoraler „Zeichen der Zeit“-Orientierung wirkt der c. 517 § 2 nun aber wie der ebenso ungeliebte wie ein wenig überraschende Versuch des Kirchenrechts, die de facto Vernachlässigung der Volk-Gottes-Theologie im CIC 1983 durch einen explizit nicht-theologischen, rein pragmatisch346 begründeten Öffnungsbeschluss an sensibler Stelle ein klein wenig zu relativieren.
Denn natürlich würde spätestens die offiziell nicht vorgesehene, hier und da aber versuchte347 relativ weiträumige Anwendung des c. 517 § 2 die Erlebnisrealität kirchlichen Handelns – zumindest in Europa348 – massiv verändern und einen Hauch von Volk-Gottes-Realität in den kirchlichen Innenbereich wehen lassen.