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5 Perspektiven einer zukünftigen Sozialgestalt von Kirche
ОглавлениеPastoraltheologie ist als gegenwartsorientiertes und risikoreiches Fach auf der Schwelle zur Zukunft349 eine jener theologischen Disziplinen, die Musils berühmten „Möglichkeitssinn“ nicht nur entwickeln darf, sondern muss. Nun gilt zwar, dass die Zukunft kaum je so unvorhersehbar gewesen sein dürfte wie gegenwärtig, da sie weder mehr, wie vor der Moderne, die Verlängerung einer normierenden Vergangenheit, noch, wie modern, die Vorgeschichte einer glorreichen Zukunft, sondern voller Überraschungen ist, und zudem ist ziemlich unklar, wie, ja ob komplexe soziale Systeme überhaupt im größeren Ausmaß heute noch steuerbar sind350 und ein ziemlich neuen Kontextbedingungen ausgesetztes System wie die katholische Kirche gleich gar.351 Mit diesen Einschränkungen kann man aber natürlich schon fragen: Was ergibt sich aus dem bisher Gesagten für eine zukünftige Sozialgestalt der Kirche?
Erstens: Alle zukünftigen Sozialformen der Kirche werden davon ausgehen müssen, dass die Kirche nicht mehr die Herrin über die Partizipationsmotive ihrer eigenen Mitglieder ist und auch nicht mehr werden wird.
Dies erfordert eine grundlegende Transformation der kirchlichen Pastoralmacht und diese Transformation kommt einer Selbstüberschreitung gleich. In früheren Formen der kirchlichen Pastoralmacht hatte das totalisierende Element dominiert: Alles sollte unter die Pastoralmacht kommen, so in der Pianischen Epoche, oder es hatte, so in der Gemeindetheologie, das individualisierende Element in einer emanzipatorischen Variante dominiert: Das pastoraltheologische Stichwort hierfür lautete „Subjektwerdung“.
Heute aber ist das Selbstlosigkeitsmerkmal notwendig der Horizont aller kirchlichen Pastoral. Grundsätzlich interessiert sich auch heute noch Pastoral für jeden Einzelnen und jede Einzelne und grundsätzlich interessiert alles an ihr und an ihm. Aber diese beiden Merkmale verlieren den ambivalenten Horizont von „Überwachen und Bewachen“, den sie in der klassischen Pastoralmacht und ihrer agrarischen Hirtenmetapher352 hatten. Sie werden von Forderungen an andere – alle müssen alles in den Kontext der Religion einbringen – zu Anforderungen an die Kirche: Sie werden zur Aufgabe, niemandem und keinem seiner Probleme auszuweichen. Sie werden also von Zumutungen der Kirche an ihre Mitglieder zu Zumutungen der Menschen an die Kirche.
Zweitens: Die Kirche muss sich weitgehend erst noch jenes Instrumentarium bereitstellen, mit dem sie auf die Herausforderung ihrer epochalen Entmachtung in den Köpfen, Herzen und Hirnen ihrer eigenen Mitglieder reagieren kann. Der c. 517 § 2 ist vielleicht der allererste (und natürlich ungenügende) Vorschein davon.
Die katholische Kirche wird um eine grundlegende Umstellung ihres Steuerungsinstrumentariums und überhaupt schon ihres Steuerungsdenkens nicht herum kommen.353 Es wird nicht mehr länger zielführend sein, klassisch modern in Sozialformen und gar noch primär in Über- und Unterordnungskategorien zu denken und damit in einer institutionellen wie inhaltlichen Selbstverständlichkeitsfiktion zu verharren.
Der eigenen flüssigen Realität unter liquiden Kontextbedingungen wäre es angemessener, situativ, also im doppelten Index von Ort und Zeit, und dabei aufgabenorientiert zu denken und auf dieser Basis dann flexible Sozialformen seiner selbst zu entwickeln, in einem offenen Such- und permanenten Evaluationsprozess. In Anfängen ist das an der pastoralen Basis wahrscheinlich schon längst der Fall.
Drittens: Die Kirche wird unter den spätmodernen Bedingungen des religiösen Marktes viele differenzierte, vernetzte und konkurrenzfrei agierende Orte brauchen, wo sie sich ihrer pastoralen Aufgabe, der konkreten und kreativen Konfrontation von Evangelium und Existenz, stellt.
Der Weg von einer kirchlichen Konstitutionsstruktur, bei der vorgegebene Gemeinschaftsformen ihre Aufgaben suchen, zu einer Konstitutionsstruktur, deren Basis aufgabenbezogene, selbstlose Vergemeinschaftungsformen bilden, scheint die aussichtsreichsten Perspektiven zu bieten.
Das zentrale Merkmal vernetzter sozialer Strukturen ist die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Vernetzungsknoten, die aufgabenbezogene Vernetzungsflexibilität und die weitgehende Vernetzungsautonomie, also das weit reichende Recht der einzelnen Orte, die eigenen Vernetzungsstrukturen selbst zu knüpfen und zu lösen.354 Die territoriale Fassung der kirchlichen Basisorganisation wird dann zentrales Element einer selbstlosen Angebotsstruktur der christlichen Botschaft, die auch dorthin geht, wo die Kirche endgültig alle religionsgemeinschaftliche Macht verloren hat. Der theologische Begriff für dieses selbstlose Angebot der Nähe Gottes in Wort und Tat aber heißt Gnade.355 Die bleibenden Aufgaben der Territorialpfarrei wären daher gnadentheologisch zu reformulieren.