Читать книгу Verschollen am Nahanni - Rainer Hamberger - Страница 12
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ОглавлениеUnd nochmals herzliche Glückwünsche, Peter! Wann geht es dann mit dem Studium los?'“
„Mit dem Wintersemester, ich hatte Glück, dass ich gleich einen Studienplatz in Köln bekam.“
„Na ja, bei deinen Abiturnoten! Wir werden uns vorher sicher nochmals sehen. Unser Jochen wird ja auch einundzwanzig in diesem Sommer, im August. Da hoffen wir, dich mit deinen lieben Eltern zu unseren Gästen zählen zu dürfen.“
Die Augen des etwas pompös wirkenden Endfünfzigers im dreiteiligen dunklen Nadelstreifenanzug suchen in der Runde der sich verabschiedenden Paare nach dem Gastgeber und der Dame des Hauses.
„Da sind Sie ja, mein lieber Harder!“, sagt er mit seiner etwas schnarrenden Stimme, auf den Hausherrn zusteuernd, „also ich kann Ihnen nur zu dem Jungen gratulieren. Ich wollte, ich hätte so einen Erben! Bei ihm stimmt einfach alles.“
„Ja, er ist ein guter Junge. Jetzt, wo er den Wehrdienst hinter sich hat, liegt die Welt offen vor ihm.“
„Ach er war ja bei den Fallschirmjägern in Nagold, nicht wahr? Ist meine alte Waffengattung, Monte Cassino und so. Peter ist sportlich und hat wohl auch Disziplin im Leib.“
„Ja, er hat auch den Reserveoffiziers-Lehrgang mit Leichtigkeit geschafft“, lässt Karl Harder mit sichtbarem Stolz im Blick einfließen.
„Sehr gut, sehr gut! Also lieber Harder, wir sehen uns dann wohl nächste Woche, zusammen mit den Herren meiner Planungsabteilung. Da können wir die Steuergeschichte nochmals durchsprechen.“
Eine rasche Wendung zu Inge Harder, die hinzutritt.
„Liebe gnädige Frau, herzlichen Dank für die großartige Gastfreundschaft in Ihrem schönen Hause“, er küsst ihr galant die Hand, „und auch Ihnen nochmals Glückwunsch zu diesem Sprössling. Toller Junge! Aber das darf man ja jetzt gar nicht mehr sagen“, er greift lachend nach der Hand von Peter, um sie kräftig zum Abschied zu schütteln.
„Er ist ja schließlich ein erwachsener Mann!“
Und nach einem kurzen, auffordernden Nicken zu seiner etwas verschüchtert wirkenden Frau, geleitet er sie aus der Haustür, wo im hellen Licht der Gartenkandelaber der schwere Mercedes vorgefahren ist. Der Fahrer schließt die Türe hinter ihnen.
„Dieser Harder ist ein tüchtiger Mann“, lässt sich aus dem Fond die urteilsgewohnte Stimme vernehmen, „und seine Frau, ich muss schon sagen, sehr gepflegtes Haus! Und der Sohn, der wird mal was! Ich wollte, unser Filius wäre auch so zielbewusst. Aber der hat ja nur Partys im Kopf! Na ja, immer noch besser, als wenn er sich auf diesen Demonstrationen herumtriebe!“ Der Wagen fährt an.
Karl Harder hat im Vestibül die letzten Gäste verabschiedet. Er schaut auf die Armbanduhr, als er sich zu seiner Frau umdreht.
„Hat alles sehr schön geklappt, Inge, wirklich prima!“, sagt er anerkennend. Aber er bleibt ernst. Sein Blick begegnet ihren angstvoll fragenden Augen.
„Ja, dann werden wir es ihm jetzt eben sagen müssen. Ich habe es dir versprochen.“ Er legt mit einer schützenden Geste seinen Arm um ihre Schulter und führt sie langsam durch die breite Glastür in den weit ausladenden Wohnraum zurück, der vor wenigen Minuten noch mit Menschen angefüllt war. Jetzt ist es still. Und man spürt, wie bedrückt Karl Harder selbst ist.
„Da war ja wieder mal eine Menge Geld unter unserem Dach versammelt“, lässt sich da eine junge, gutmütig spöttelnde Stimme vernehmen. Peter, groß, sportlich, breitschultrig, blonder Haarschopf, steht an der in einem antiken Schrank eingebauten Stereoanlage, wo er eine Platte heraussucht. Der förmliche blaue Blazer wirkt ein wenig künstlich an ihm.
„Ich muss nach all der Feierlichkeit mal ein paar Takte Rockmusik hören“, sagt er leichthin.
Da schaut er auf und sieht seine Eltern mit ernsten Gesichtern in seltsam zögernder Haltung mitten in dem großen Raum stehen.
„Was ist denn mit euch los?“ fragt er überrascht.
„Ist jemand gestorben?“
Da merkt er, dass sein Ton deplatziert ist.
„Deine Mutter und ich wollten mit dir sprechen“, sagt Karl Harder mit sehr ernster Stimme.
„Hab' ich was falsch gemacht? Ich war freundlich zu allen.“
„Nein, das ist es nicht. Du hast dich sogar prima benommen. Ich weiß ja, dass du so was gar nicht besonders magst. Aber ich dachte, ich nehme deinen einundzwanzigsten Geburtstag zum Anlass, dich mal seriös in unserem weiteren Bekanntenkreis vorzustellen. Die Leute gehören zu unseren besten Kunden, und es werden ja deine Kunden sein, wenn du hier mal übernommen hast.“
Ein beklemmendes Gefühl kommt in Peter auf. So hat er seinen Vater noch nie erlebt.
„Das ist es aber doch nicht, was du mir sagen willst, oder?“
„Nein, Peter, aber lass uns zusammen ins Arbeitszimmer gehen.''
Peter lässt keinen Blick von ihm, während sie zu dritt hinübergehen und im Lichtkreis der behäbigen Stehlampe auf den Ledersesseln in der Sitzecke des sonst dunklen Raums Platz nehmen.
„Mutter, du sagst ja gar nichts“, versucht Peter das Geheimnisvolle dieses Moments zu durchdringen.
„Ach Peter“, sagt sie, sichtlich mit den Tränen kämpfend.
Peter starrt seinen Vater an.
„Also, sag es schon, was ist es?“
Peter steht dem Verhalten seiner Eltern verständnislos gegenüber.
„Ja, da muss ich weit ausholen Junge.“
Karl Harder, der sonst so selbstsichere Mann, klärt mit einem verkrampft wirkenden Husten die Stimmbänder.
„Du weißt ja, Peter, dass deine Mutter schon einmal verheiratet war. Sie hatte im Krieg diesen Flieger kennengelernt und hat ihn geheiratet, als sie gerade neunzehn war.“
„Ja, das weiß ich. Aber ...“
„Hör mir zu. Also, diese Ehe ist dann zerbrochen. Uwe Breuer, so hieß ihr Mann, hat die Scheidung eingereicht und ist, soviel wir wissen, nach Kanada ausgewandert, wir haben nichts mehr von ihm gehört.“
Er macht eine abwehrende Handbewegung, als Peter ihn wieder unterbrechen will.
„Deine Mutter hat mich kurz danach geheiratet. Ja, das alles weißt du. Als sie mir damals ihr Ja-Wort gegeben hat, da war auch die Rede von dir.“
„Wieso? Ich war doch noch gar nicht auf der Welt!“
„Nein, Peter.“
Er bedeckt für einen kurzen Moment seine Augen mit der rechten Hand, um sich dann einen Ruck zu geben.
„Aber deine Mutter ... Ich meine, du warst schon unterwegs.“
Peter starrt seine Mutter ungläubig an.
„Das heißt?“
„Ja, Peter, es heißt, dass ich“, er schluckt, „dass ich nicht dein leiblicher Vater bin!“
Für einen langen Augenblick ist es totenstill im Raum. Peter schaut ohne jedes Verstehen zwischen diesen beiden Menschen hin und her. In seinem Gehirn hallen die Worte nach, ohne dass er sie begreift. Eine Welt stürzt in ihm zusammen.
Er steht auf und geht mit unsicheren Schritten zu der Bücherwand hinüber. Da steht er, mit auf dem Rücken verschränkten Armen gegen die Bücherreihen gestützt. Er starrt wortlos seine Mutter an.
Da fängt Karl Harder leise an zu sprechen.
„Deine Mutter und Uwe Breuer haben sich innerlich aneinander aufgerieben. Deine Mutter hat alles Erdenkliche unternommen, das Auseinanderleben zu verhindern. Sie waren sich auch nach langer Quälerei wieder nähergekommen. Aber dann hat ein Unfall, bei dem ein Mensch zu Tode kam, ohne dass es Breuers Schuld war, ihn aus der Bahn geworfen. Er kam gar nicht mehr zu deiner Mutter zurück, sondern hat die Scheidung eingereicht. Und deine Mutter hatte keine Gelegenheit mehr, ihm zu sagen, dass du unterwegs warst.“
„Du hast es ihm verschwiegen, Mutter?“
„Peter“, sie unterbricht ihr verzweifeltes Weinen und räuspert sich, „selbst wenn ich gewusst hätte, wo ich ihn finden könnte, in mir war alles ausgelöscht, hätte ich ihn zwingen sollen, bei mir zu bleiben, wenn er mich nicht mehr liebt?“
Sie schluchzt laut auf und presst das Taschentuch gegen ihren Mund.
„Schau, Peter, deine Mutter hat mir erst sehr viel später gesagt, dass Uwe Breuer nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hat. Ich hatte Inge schon immer geliebt, aber es bei mir behalten. Als ich sie dann bat, mich zu heiraten, da habe ich versprechen müssen, du sollst spätestens an deinem einundzwanzigsten Geburtstag erfahren, wer dein leiblicher Vater ist. Und ich habe auch versprochen, dass ich dem Kind, das sie erwartete, ein wirklicher Vater sein werde. Und, bei Gott, ich habe mein Bestes versucht.“
Inge Harder hat gerötete Augen, als sie jetzt zu Peter aufschaut. Sie sitzt an dem kleinen Sekretär am Fenster des Wohnzimmers, aus dem sie voller schwerer Gedanken auf die gepflegten Rosenbeete hinaussah, bevor Peter eben hereinkam. Man sieht ihr an, wie sehr sie unter dem Gespräch gelitten hat.
„Komm Junge“, sagt sie mit resignierter Stimme und in einem Ton, als wüsste sie, dass eine schlechte Nachricht auf sie warte.
„Wir setzen uns dort hinüber“, auf die Sofaecke deutend. Sie setzen sich und sie nimmt seine beiden Hände in die ihren.
„Ich weiß nicht, ob wir das richtig gemacht haben, es dir erst jetzt zu sagen. Wir wollten, dass du eine unbeschwerte Jugend hast.“
„Die habe ich gehabt, und das werde ich dir und Vater auch nicht vergessen. Aber seit gestern Abend ist halt vieles anders, nein!“
Er hindert sie daran, ihre Hände von den seinen zu lösen.
„Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich mache euch ja gar keine Vorwürfe. Mir ist heute Nacht klargeworden, dass er eine Menge Schuld an dem allem trägt, weil er einfach abgehauen ist.“
Er braucht einen Augenblick, um sich zu fassen.
„Ach Gott, wer kann nach so langer Zeit noch wissen, wer Schuld hatte“, sagt sie ruhig.
„Vielleicht war einfach die Zeit gegen uns. Ich war ein junges Ding, als er plötzlich heiraten wollte. Zu gründlichem Prüfen hatten wir beide keine Zeit. Sicher hat bei ihm eine Rolle gespielt, dass er sah, dass der Krieg verloren war. Er wollte jemand haben, zu dem er zurückkehren könnte. Seinem Elternhaus war er entfremdet. Ich war von ihm begeistert, er sah ja auch toll aus.“
Sie lächelt. „Aber dann wurde er gleich an die Front gerufen und geriet wenig später in Gefangenschaft. Und dann brach hier alles zusammen. Die paar Briefe, die über das Rote Kreuz aus Kanada kamen, was besagten die schon? Auf jeden Fall stand er 1948 plötzlich vor meiner Tür hier in Düsseldorf. Aber festgewachsen ist er hier nie. Er sprach öfters vom Auswandern nach Kanada. Er hatte einfach sein Herz nicht hier. Und geschäftlich ging es für ihn auch nicht vorwärts. Ich hatte meine gute Stellung bei deinem Vater. Ich meine bei Karl. Wir haben uns mehr und mehr auseinander gelebt. Er zog dann aus unserer Wohnung aus. Nein, da war keine andere Frau. Ich war einfach sehr viel bürgerlicher als er. Aber er wäre beinahe zu mir zurückgekommen, wir hatten uns versöhnt, und als unsere zweite Hochzeit gefeiert wurde, passierte der Unfall! Er ging fort und hinterließ mir einen Brief, in dem er alle Schuld des Zerwürfnisses auf sich nahm, er wolle mich nicht an sich fesseln. Du warst schon unterwegs, obgleich ich es erst ein paar Wochen später merkte. Es hat mich fast den Verstand gekostet.“
Peter hatte seine Mutter mit keinem Wort unterbrochen. Er drückt ihre Hände, um sie jetzt loszulassen und langsam aufzustehen.
„Mir ist so eigenartig zumute, als könnte ich diesen Mann verstehen. Ich glaube, ich habe das Foto, das du mir gestern Abend gegeben hast, ein paar Stunden lang angesehen. Er ist mir auf eine seltsame Art vertraut geworden.“
Er unterbricht sich selbst, starrt vor sich hin, um sich dann zu seiner Mutter umzudrehen.
„Mutter, ich weiß, dass ich diesen Mann, der mein Vater ist und von dem ich bis gestern Abend nichts wusste, finden muss!“
„Aber er hat nie mehr etwas von sich hören lassen!“, antwortet sie mit einem bangen Gesichtsausdruck.
„Dann muss ich ihn eben suchen. Ich weiß, dass das nicht leicht sein wird. In Amerika und Kanada gibt es keine polizeiliche Meldepflicht wie hier. Aber hattest du nicht den Namen des Farmers, bei dem er während des Krieges gearbeitet hat?“
„Ja, der Name muss irgendwo sein, aber ich hatte keine Adresse. Ich weiß nur, dass es irgendwo in einer Provinz im Westen war, ich glaube sie heißt Saskatchewan oder so. Aber, Peter, das war vor mehr als fünfunddreißig Jahren. Ob es diesen Farmer überhaupt noch gibt?“
Peter bekommt einen entschlossenen Gesichtsausdruck.
„Ja, es wird viel Zeit kosten, in so einem Land einen Menschen zu finden. Aber die Zeit werde ich mir nehmen.“
Er dreht sich wieder zu ihr um.
„Ich habe heute Nacht einen Entschluss gefasst, Mutter. Ich werde nicht Betriebswirtschaft studieren. Nein, bitte, unterbrich mich jetzt nicht! Und ich werde auch Vaters Betrieb nicht übernehmen!“
„Um Gottes Willen, Peter, tu ihm das nicht an!“ sagt sie mit fahl gewordenem Gesicht.
„Verstehe mich nicht falsch, ich liebe ihn, wie ich dich liebe. Aber eigentlich wollte ich das alles nie so richtig, mich, wie ihr das alles genannt habt, in ein gemachtes Nest setzen! Und ich habe immer gesagt, wenn es nach mir geht, möchte ich Journalist werden. Die Welt ist so aufregend und interessant, das kann man in einem Büro wie dem von Vater ja gar nicht spüren, da geht es nur um Geld.“
„Aber Geld macht frei, sagt man“, wirft Inge Harder ein.
„Wirklich? Ich sehe immer nur, wie es euch alle in den Bann schlägt und versklavt. Nein, Mutter, ich habe mich heute Nacht entschlossen, Journalist zu werden! Da gibt es in München die Deutsche Journalistenschule. Dort werde ich mich bewerben. Und wenn ich auf eigenen Beinen stehen kann, werde ich nach Kanada gehen und den Mann suchen, der mein Vater ist!“