Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 10

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3.


Stetig surrend ging es höher. Mehrfach schwang das Netz bedenklich und die Bordwand kam ihnen gefährlich nahe. Einmal dachte Jenna, sie würden gleich dagegenprallen, aber im letzten Moment kehrte sich der Schwung wieder um.

Sie waren eng zusammengepresst. Mehr übereinander und aufeinander als nebeneinander lagen sie im Netz. Längst wusste Jenna nicht mehr, welche Gliedmaße zu wem gehörte. Jeb hatte die Sturmlampe ausgeschaltet und so war in der fahlen Dunkelheit kaum etwas auszumachen.

Das Netz drehte sich beständig um die eigene Achse, sodass Jenna mal aufs offene Meer und mal auf die Schiffswand blickte, die langsam an ihr vorbeizog.

Und dann entdeckte sie den Schiffsnamen in gigantisch großen weißen Buchstaben: MARY.

Darunter der Heimathafen: Portsmouth.

Sie schaute zu Mary hinüber, aber ihre Augen waren in der Düsternis nicht auszumachen.

Kann es wirklich sein, dass dieses Schiff Marys Vater gehört? Wird er dort oben auf uns warten?

Jenna kannte Marys Geschichte, sie wusste vom Missbrauch ihres Vaters. Wie sollten sie sich verhalten, wenn sie diesem Mann gegenüberstand? Ihm um den Hals fallen, weil er sie gerettet hatte? Wohl kaum. Und was würde Jeb machen, wenn er die ganze Wahrheit über Mary erfuhr? Jeb war ein ruhiger Typ, aber Jenna glaubte, dass seit Langem ein dumpfer Zorn in ihm lauerte, der nur auf eine Gelegenheit wartete, auszubrechen und sich Luft zu verschaffen.

Plötzlich endete die Fahrt. Sie hatten das Deck erreicht. Ein lautes Klacken ertönte. Das Netz schwankte, setzte sich dann aber wieder in Bewegung, schwang über die Reling, wurde abgelassen und hielt einen Meter über dem Deck.

»Ich steige zuerst raus«, sagte Jeb neben ihr.

Mühsam befreite er sich von den beiden anderen und kroch aus dem Netz. Jenna folgte ihm, dann Mary.

Mit festem Boden unter den Füßen blickten sie sich um.

Das Erste, was Jenna wahrnahm, war der Scheinwerfer, der an den Aufbauten des Schiffes befestigt und aufs Deck gerichtet war. Es konnte sich nicht um den gleichen Scheinwerfer handeln, der sie zuvor auf dem Meer angeleuchtet hatte, denn er war fest montiert und warf sein Licht von oben herab.

Als Nächstes bemerkte Jenna die zahlreichen Metallcontainer, die sich an Deck befanden. Geordnet und lange Schatten werfend, verwandelten die Container das Deck in ein Labyrinth aus Licht und Schatten. Es gab Wege und Gassen zwischen ihnen und viele Stellen, an denen die Finsternis regierte.

Ihr Blick wanderte weiter zum Kran. Das Licht blendete sie, sodass sie nicht ausmachen konnte, ob sich jemand in der Nähe befand, der den Kran per Fernbedienung steuerte, denn ein Führerhaus gab es nicht. Jennas Augen suchten das Deck ab, aber es war keine Menschenseele zu sehen.

Neben ihr begann Jeb, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten.

»Warum ist da niemand?« Er klang eher verärgert als verängstigt. »Und wer hat den Kran gesteuert?«

Mary deutete mit der Hand zu den Schiffsaufbauten am Heck des Schiffes.

»Er ist dort! Mein Vater. Er wartet auf mich.« Ihre Stimme klang zerbrechlich und war fast nur noch ein Flüstern.

Jenna blickte ihren Arm entlang. Haushoch erhob sich die Steuerzentrale des Schiffes über das Deck. Wie eine Burg, die ein flaches Tal majestätisch regierte. Dort oben brannte ein schwaches Licht hinter den matten Glasscheiben. Jenna glaubte, einen Schatten auszumachen, der Schemen eines Menschen, der auf sie herabsah. Regungslos, nur ein dunkler Schattenriss vor einem kaum auszumachenden Hintergrund.

Jeb wandte den Kopf und sah Mary an. »Dann gehen wir jetzt dahin.«

»Sinnlos, von Deck aus erreicht man das Steuerhaus nicht. Es gibt nur einen Zugang, unter Deck, der vor einer Tür endet, die von innen abschließbar ist. Mein Vater hat Angst vor einer Meuterei seiner Besatzung, die er kaum kennt und deren Sprache er nicht versteht. Er ist besessen von dem Gedanken, dass einer der Letten oder Polen ihn über Bord werfen und die Ladung stehlen könnte.«

»Ist das denn möglich? Eine ganze Schiffsladung stehlen?«, wollte Jenna wissen.

»Oh ja, das geschieht ständig. Schiffe werden nachts auf offener See aufgebracht, die Besatzung gefesselt oder ermordet und die Ladung gelöscht.«

»Und du erinnerst dich jetzt an all das?«, fragte Jenna.

»Nicht alles, aber vieles ist wieder da.« Mary wandte sich ab.

»Dann weißt du auch, warum du hier bist. Im Labyrinth.«

Mary schüttelte den Kopf und legte beide Hände an ihren Kopf, als wollte sie die Erinnerungen darin wachrütteln. »Sobald ich darüber nachdenke, wie das alles zusammenhängt, legt sich ein schwarzes Tuch über meine Gedanken. Ich sehe die Bilder meiner Vergangenheit, höre die Stimmen meiner Eltern, spüre fast Davids kleine Hand in meiner, aber wer ich bin und was ich hier soll … ich habe keine Ahnung.«

»Mir geht es genauso«, gab Jeb zu. »Wie ich ins Labyrinth geraten bin, kann ich mir nicht einmal ansatzweise erklären. Mein Kopf brennt regelrecht, wenn ich mich mit diesem Gedanken beschäftige.«

Jenna konnte die Gefühle der beiden nicht nachvollziehen. In ihr schmerzte es nicht, wenn sie sich mit dem Gedanken, wie sie hier gelandet war, beschäftigte. Da hallte einfach nur eine Leere in ihr. Vielmehr waren ihr die Geschichten von Mary und Jeb, so wie die beiden sie ihr erzählt hatten, so klar vor Augen, als hätte sie gar keine eigene Vergangenheit. Was natürlich Quatsch war, schließlich wusste sie beispielsweise, dass ihre Großmutter lebte und sie mit Nachnamen Sommer hieß. Da gab es also etwas in ihr, das sie verdrängt hatte … und wenn sie sich die schrecklichen Geschichten der anderen ins Gedächtnis rief, dann war sie froh, dass es so war.

Sie mussten weiter, so viel war klar, daher setzte sie an: »Ich denke, wir sollten …« Jenna wurde durch plötzlich einsetzende Dunkelheit unterbrochen. Das Licht des Scheinwerfers war erloschen. Unvermittelt standen sie wieder in der Finsternis und es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten und sie zumindest die Container als Schemen ausmachen konnte.

Jenna lauschte in die Nacht, versuchte herauszufinden, ob außer ihnen noch andere Menschen an Deck waren, aber irgendwie war da das Gefühl, allein zu sein.

»Es ist niemand hier«, sagte Mary neben ihr. »Die Besatzung ist weg. Nur mein Vater …« Sie schluckte.

»Wie bitte?«, stöhnte Jeb. »Woher willst du das wissen? Sie könnten unter Deck sein, schlafen. Und wer hat dann den Kran bedient?«

»Mein Vater.« Marys ganze Bitterkeit schwang darin mit. »Er ist allein oben auf der Brücke und wartet, dass ich zu ihm komme.«

»Aber Mary, kann das sein? Wie steuert man ein Schiff ohne Besatzung?« Jenna wollte immer noch daran glauben, dass sie hier auf dem Frachter nicht der Vergangenheit aus Marys Albträumen begegnen würden. Sie wollte daran glauben, dass hier ein normales Schiff im Ozean lag, das sie gerettet hatte.

Sie klammerte sich geradezu an dieser Hoffnung fest.

»Hast du es noch nicht kapiert, Jenna?« Mary fuhr sie geradezu an, wenn sie auch leise sprach. »Hier haben wir noch lange nicht die Rettung erreicht, die wir uns alle am Ende erhoffen. Das hier ist eine Welt des Labyrinths. Das heißt, es wird hier genauso gefährlich, genauso albtraumhaft und genauso tödlich für einen von uns enden wie bisher. Wir sind nicht in meinem realen Leben. Wir sind in der Hölle meines Lebens!«

Jenna schrak erschrocken zurück. So hatte sie Mary noch nie erlebt, was war nur in sie gefahren?

Ein dicker Kloß stieg in ihrem Hals auf. Jenna erinnerte sich an Los Angeles. In dieser wahnwitzigen Abfolge von schrecklichen Welten bot die Stadt den einzigen Anhaltspunkt dafür, dass diese Welten irgendwie mit ihnen allen zu tun hatten. Los Angeles war die ins Chaos gestürzte Heimat von León gewesen. Sein Albtraum, seine Vergangenheit – nur noch viel schlimmer.

Wofür aber standen die anderen Welten bisher, wenn Mary so sicher war, dass der Ozean und dieses Schiff Teil ihrer Welt darstellten? Die Steppe, die Eisstadt, das weiße Labyrinth … das ergab doch alles keinen Sinn!

Bevor sich Jenna noch weiter den Kopf zerbrechen konnte, fuhr Jeb zwischen Mary und sie: »Stopp! So kommen wir nicht weiter. Wir gehen jetzt zum Führerhaus. Wo müssen wir lang?«

»Unter Deck, durch den Maschinenraum hoch zur Steuerkanzel. Das ist der einzige Weg«, erklärte Mary.

»Was erwartet uns dort?«

Mary zögerte, dann flüsterte sie leise: »Ein Mann, der alles verloren hat.«

Mary ging vorneweg. In ihrer Hand hielt sie die Sturmlampe aus dem Boot, die ein fahles Licht auf den Boden vor ihnen warf. Sicher bewegte sie sich zwischen den Containern hindurch und steuerte zielstrebig auf das Heck zu. Dort gab es eine Metalltür, die ins Innere des Schiffes führte, das wusste sie.

Die Tür war nicht abgeschlossen, aber so massiv, dass man sie nur schwer öffnen konnte. Schon als der erste Spalt sich auftat, fiel helles Licht nach draußen. Jeb half Mary und zog sie ganz auf. Vor ihnen breitete sich ein langer, schmaler Gang aus, an dessen beiden Seiten sich Türen befanden. Die Luft, die ihnen entgegenströmte, roch abgestanden und nach altem Papier. In die Decke des Ganges waren Lampen eingesetzt, deren Licht auf einen abgewetzten Linoleumboden fiel. Graue, nackte Wände, gestrichen in einer nicht definierbaren Farbe begleiteten sie, als sie eintraten und den Gang entlanggingen.

Die Türen rechts und links waren sämtlich verschlossen, aber Mary wusste, dass sich dahinter die Kabinen der Besatzung befanden.

Mary kannte alles. Den Geruch, den Geschmack der Luft, die Düsternis und Trostlosigkeit, die Boden und Wände ausstrahlten. Dies war nie ein Schiff der Freude, sondern immer ein Ort des Schweigens gewesen. Niemand hatte jemals hier Freude gehabt. Ihr Vater war streng und verschlossen gewesen, stets darauf bedacht, Abstand zu den Seeleuten zu halten.

Mary hatte auf diesem Schiff zwei Mal den Atlantik überquert. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder. Endlos scheinende Wochen hatte sie mit David an Deck Verstecken gespielt, Hüpffelder gemalt oder Seilspringen geübt, aber die Tage waren zäh gewesen, schienen aus viel mehr Stunden als an Land zu bestehen und die Abende waren trostlos im Kreis der Familie, die sich kaum etwas zu sagen hatte.

Ihre Mutter hatte David stets früh schlafen gelegt und war dann selbst zu Bett gegangen. Dann war Mary mit ihrem Vater allein gewesen. Oft hatte sie Bilder gemalt, während er dumpf über Seekarten brütete und sie ab und zu lange betrachtete. Viel öfter jedoch hielt er den Kopf über ein Glas Whisky gesenkt, die Augen gerötet vom Schlafmangel.

Manchmal hatte er mit ihr gesprochen, von Seefahrten erzählt, die er lange vor ihrer Geburt unternommen hatte. Von fremden Ländern, fremden Häfen und fremden Menschen gesprochen. Diese Momente waren kostbar, denn sie erfuhr, dass ihr Vater einmal ein glücklicher Mensch gewesen sein musste. Warum er jetzt nicht mehr glücklich war, musste in Marys Erinnerung mit ihrer Mutter zu tun haben. Eine schwache kränkliche Frau aus gutem Hause mit blassem Gesicht war sie, still, schweigend, fast unsichtbar. Manchmal war es Mary vorgekommen, als wäre ihre Mutter wie eine der Prinzessinnen aus den Märchen, die Jahrhunderte schliefen und dann von einem Prinzen wach geküsst wurden. Nur dass ihre Mutter niemals ganz erwacht war. Ein Teil von ihr schlief immer noch.

Vielleicht war ich so schwach, weil sie schwach ist.

Aber nun war sie nicht mehr schwach. Sie hatte vier Mal überlebt und kaum vorstellbare Anstrengungen auf sich genommen, um jetzt hier zu sein. In einer schrecklichen Version ihres alten Lebens, an das sie sich nur zu gut und nur zu schmerzlich erinnerte. Nun hatte sich der Kreis geschlossen. Auf dem Schiff ihres Vaters.

Dad, wirst du diesmal mich fürchten, so wie ich gelernt habe, dich zu fürchten?

Mary dachte an all die Nächte, in der er sie besucht hatte. An seinen nach Whisky riechenden Atem, an den Ölgeruch seiner Hände, der sich niemals abwaschen ließ. An seine leise geflüsterten Worte. Hass und Ekel stiegen in ihr auf. Das waren im Moment stärkere Gefühle als ihre Angst. Aber was, wenn sie ihm gegenüberstand?

Bin ich wirklich schon so weit?

Sie biss die Zähne hart aufeinander.

Eigentlich spielt es keine Rolle, ob ich so weit bin oder nicht. Mein Schicksal muss sich erfüllen.

»Wo geht es da hin?«, fragte Jeb neben ihr und durchbrach Marys Gedanken. Sie hatten das Ende des Ganges erreicht und standen vor einer weiteren Tür.

»Das ist der Aufenthaltsraum der Mannschaft. Dahinter liegt die Kombüse.« Mary wunderte sich nicht mehr, dass hier tatsächlich alles genau so wie in ihrer immer klarer werdenden Erinnerung war. Als sie sah, dass Jeb die Augenbrauen fragend anhob, fügte Mary hinzu: »Die Küche des Schiffes.«

Jeb drückte den Türgriff herunter und vor ihnen lag ein fast quadratischer Raum von fünf Metern Seitenlänge. Rechts von der Tür gab es festgeschraubte Tische und Bänke, links sah man einen Durchlass, aus dem das Essen aus der Kombüse gereicht wurde, daneben eine offen stehende Tür. Im Hintergrund erkannte Mary den Treppenabgang zu den Fracht- und Maschinenräumen des Schiffes.

Sie selbst war nur selten hier gewesen. Der Koch hatte ihnen stets das Essen in ihren eigenen Kabinen serviert, und in den Frachträumen zu spielen, war ihr verboten gewesen.

Mary schaute die anderen an. »Habt ihr Hunger?«

Sowohl Jenna wie auch Jeb schüttelten den Kopf. »Nein«, meinte Jenna. »Nur Durst! Ich schaue mal, ob ich in der Küche Wasser finde.« Jeb nickte und betrachtete nachdenklich den Fernseher, der in einer Ecke des Zimmers an der Wand befestigt war.

Jenna wandte sich in Richtung Küche und verschwand im Nebenraum.

Jeb runzelte die Stirn und sagte dann: »Wenn wir den einschalten, erfahren wir vielleicht etwas über die Welt, in der wir uns befinden«, meinte er.

»Der ist nur für Video und DVDs gedacht.« Mary wusste nicht, wieso sie das wusste, es war einfach klar, dass dem so war.

Jenna trat aus dem Durchgang der Kombüse und brachte ihnen drei Gläser mit Wasser. »Ist zwar nur aus dem Wasserhahn, aber es riecht einigermaßen trinkbar.« Kaum hatte Jenna ausgesprochen und ihnen die Gläser gegeben, trank sie ihr großes und randvoll gefülltes Glas in einem Zug leer.

Mary nahm ebenfalls einen kleinen Schluck und merkte erst dann, wie nötig ihr Körper die Flüssigkeit benötigt hatte. Das Wasser schmeckte nach Eisen oder irgendeinem Metall, aber in diesem Moment war das egal.

Jenna wischte sich mit dem Arm über den Mund und fragte Mary: »Ist es so, wie du es in Erinnerung hast?«

»Ja. Der Name, der Aufbau des Schiffes, die Tatsache, dass es an Deck keinen Zugang zur Steuerzentrale gibt, das alles lässt keinen Zweifel zu.«

Jenna sah sie nachdenklich an. »Wir müssen vorsichtig sein.«

Mary wollte etwas erwidern, aber unvermittelt richtete sich Jeb auf. »Ich gehe. Ich suche den Zugang zum Führerhaus und spreche mit deinem Vater oder wem auch sonst, den ich dort finde.«

»Nein! Das muss ich tun.« Sie hörte das Zittern in ihrer Stimme und verachtete sich dafür. In Jebs Blick erkannte sie, dass er ihre Angst sehr wohl erkannt hatte. Wahrscheinlich hatte er deshalb angeboten, ihre Aufgabe zu übernehmen.

»Du bist nicht allein und ich kann dir helfen. Du weißt nicht, wie du ins Labyrinth gelangt bist, vielleicht droht dir erneut Gefahr. Wenn das dort oben dein Vater ist, dann kommst du nach, aber lass mich erst die Lage sondieren.«

»Er hat recht«, sagte Jenna. »Vielleicht lauert dort oben jemand auf uns, den wir nicht kennen – und den du nicht einschätzen kannst.«

»Und was soll ich machen, während Jeb das ganze Risiko auf sich nimmt? Herumsitzen und die Hände in den Schoß legen?«

»Ja. Du und ich wir bleiben hier und warten, bis Jeb zurück ist.«

Mary schwieg. Auf der einen Seite spürte sie Erleichterung darüber, dass sie sich nicht ihrem Vater stellen musste. Noch nicht. Auf der anderen Seite war sie wütend auf sich selbst.

Wenn nur León da wäre, dank ihm habe ich mich stark gefühlt.

Aber er war nicht da und würde niemals wiederkommen. Mary ging hinüber zu einer der Bänke und setzte sich. Plötzlich fühlte sie sich schwach und hilflos. Wieder einmal. Der Kummer über Leóns Tod raubte all ihre Kraft. Sie legte beide Arme auf den Tisch und verbarg ihr Gesicht darin.

Jeb nickte mit dem Kopf zu Mary hinüber, sagte aber kein Wort. Jenna verstand ihn auch so und wusste, dass er seinen Plan in die Tat umsetzen würde und sie und Mary hier warten sollten.

»Ich brauche eine Waffe. Irgendetwas, mit dem ich mich verteidigen kann«, sagte er leise.

»Vielleicht findest du etwas in der Kombüse, die wirkte zwar eben ziemlich leer. Dort muss es theoretisch Messer geben.«

»Gute Idee. Bin gleich zurück.« Jeb verschwand durch die Tür und Jenna ging zu Mary hinüber und setzte sich neben sie. Sie zögerte einen Moment lang, dann legte sie Mary sanft die Hand auf die Schulter.

Mary bewegte sich nicht. Kein Laut kam von ihr. Nicht einmal ein Schluchzen.

»Willst du mit mir reden?«, fragte Jenna. Als das andere Mädchen nicht antwortete, fragte sie weiter: »Woran erinnerst du dich?«

Mary schaute auf, dann hielt sie inne. Ein Schleier schien sich über ihre Augen zu legen. Um ihren Mundwinkel zuckte es, als sie begann zu sprechen: »Ich erinnere mich an endlose Tage auf hoher See. Auf dem Atlantik. Endlose Stunden bei schönem Wetter an Deck. Unendlich erscheinende Stunden, wenn wir wegen Sturm nicht hinausdurften.«

Sie schwieg für einen Moment, dann sprach sie weiter: »Ich hatte ein rotes Fahrrad, so eines mit Stützrädern am Hinterrad, mit dem bin ich von morgens bis abends über das Deck geflitzt. Seltsamerweise hat das meinen Vater nie gestört, obwohl er ein strenger Mann ist und großen Wert auf Ordnung an Bord legte. Er winkte mir aus der Steuerkanzel zu, wenn ich meine Runden drehte. Eines Tages kam er zu mir herunter, stellte sich vor mich hin und sagte, es wäre an der Zeit, das Fahrradfahren richtig zu lernen. Dann bückte er sich und schraubte zu meinem Entsetzen die Stützräder ab. Ich weinte, aber er wiederholte nur, dass es an der Zeit wäre und ich es probieren solle.«

»Was geschah?«

»Ich setzte mich auf den weißen Fahrradsattel, er hielt mich fest, dann schob er mich an, damit ich ins Rollen kam.«

Mary sah auf ihre Hände, als sie weitersprach: »Nach zwei Metern bin ich hingefallen. Er sagte, ich solle es noch einmal versuchen. Ich tat es und fiel erneut. So ging es den ganzen Vormittag, ich schaffte es einfach nicht, die Balance zu halten.« Sie sah Jenna an. »Weißt du, auf einem Schiff gibt es ständig leichte Bewegungen, auch wenn du denkst, es liegt ruhig in der See, einen halben Meter rauf oder runter bewegt es sich immer und das macht es so schwer, das Gleichgewicht zu halten. Ich schaffte es einfach nicht.«

Jenna hatte nun Marys Hände in ihre genommen. »Wie reagierte dein Vater?«

»Er wurde wütend, sagte, ich solle mich nicht so blöd anstellen, es wäre nur mein Kopf, der verhindert, dass ich es kann, nur meine lächerliche Angst hinzufallen, die mich verkrampfen ließe. Dabei war es das gar nicht. Ich wollte meinem Vater beweisen, wie gut ich Fahrrad fahren konnte, wollte, dass er stolz auf mich war, aber inzwischen war ich so oft hingefallen, dass meine Beine mit blauen Flecken übersät waren. Schließlich reichte es ihm. Er nahm mir das Fahrrad weg und befahl mir, zu meiner Mutter zu gehen. Er selbst stellte sich an die Reling und schleuderte mein geliebtes Rad über Bord. Danach bin ich niemals wieder Fahrrad gefahren, bis heute nicht.«

»Das ist traurig«, meinte Jenna.

»Ja, aber ist schon merkwürdig, woran ich mich erinnere und woran nicht. Warum mir ausgerechnet das blöde Fahrrad eingefallen ist, weiß ich nicht.«

»Es hat mit dir zu tun, mit diesem Schiff und deinem Vater«, sagte Jenna.

Jetzt hob Mary endlich den Kopf und richtete sich etwas aufrechter auf. »Hast du neue Erinnerungen in dir entdeckt?«, fragte sie Jenna.

»Ja, aber es ist bislang nicht greifbar. Noch nicht.«

»Versuch, es einfach mal in Worte zu fassen.«

Jenna nickte und kam Marys Aufforderung nach. Es war Zeit, dass sie ihre Gedanken konkret aussprach, vielleicht würden sie sich dann sortieren. »Merkwürdigerweise kommt in meinem Kopf immer nur Jeb vor.«

Mary lächelte sie an: »Na, DAS kann ich dir erklären!«

Jenna lachte. Es tat so gut, mal wieder unbeschwert zu lachen! »Es ist anders, als du denkst. Manchmal habe ich das Gefühl, wir kennen uns schon aus der Zeit vor dem Labyrinth. Ich kann es spüren, Jeb ist mir nicht fremd. Vieles an ihm wirkt vertraut auf mich. Die Art, wie er spricht, lächelt, sich bewegt. Vielleicht so, wie wenn man einmal einen Schauspieler im Film gesehen hat, und nun steht man vor ihm. Alles wirkt vertraut und doch ein wenig … entrückt, nicht greifbar eben. Ich kann es nicht richtig erklären und den Gedanken fassen kann ich auch nicht, aber wer weiß, wann es auch bei mir Klick macht mit meiner Vergangenheit. So wie bei dir. Auch wenn ich mir gar nicht vorstellen mag, wie es für dich sein muss, dich an all das zu erinnern, was dein Vater dir angetan hat.«

Sie drückte Marys Hand und sie spürte, dass die Traurigkeit und das Widerstreben von Mary abfiel, da nun Jeb ihren Vater aufsuchen würde.

In diesem Moment kam Jeb zurück. Er hielt ein scharf aussehendes, großes Küchenmesser in der Hand und stellte mit der anderen einen Wasserkanister auf den Tisch.

»Ich hab’s probiert. Schmeckt abgestanden, aber nicht ganz so metallisch wie das Wasser aus dem Hahn. Essen gibt es auch, aber nur Konserven, die könnte man mit einem der Messer in der Küche aufkriegen, falls ihr Hunger bekommt. Ich kann die Aufschriften nicht lesen und weiß nicht, ob das Zeug noch haltbar ist, aber wenigstens ist etwas da.«

»Nimmst du nur das Messer mit?«

Jeb nickte und sah Jenna an. »Ich bin in einer halben Stunde zurück.« Er wies auf die digitale Wanduhr neben dem Fernsehgerät. Jenna fiel sie nun zum ersten Mal auf. Es war 04:03 Uhr und 18 Sekunden. »Dann treffen wir uns wieder hier. Bis gleich.«

Er schaute Jenna lächelnd an und trat zu ihr herüber. Er wechselte das Messer in die andere Hand und nahm die Sturmlampe in die rechte. »Bin so schnell wie möglich zurück. Und dann suchen wir die Tore.«

Jenna nickte stumm. Die Tore, ja. Sie stand auf und strich Jeb sanft seine dunklen langen Haare aus dem Gesicht. »Pass auf dich auf.«

Das Labyrinth ist ohne Gnade

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