Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 6

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Prolog

Jenna schrie. Sie hatte den Mund weit aufgerissen, vor Schock, dass sie plötzlich durch die Luft geschleudert wurde.

Unter ihr erwartete sie eine stahlfarbene Oberfläche, und noch bevor Jenna begreifen konnte, wohin sie fiel, hatte sie Wasser geschluckt.

Um Jenna wurde es leicht, schwerelos. Dann war es schwarz.

Plötzlich, einen klammernden Druck auf ihrem Brustkorb lösend, strömte Luft in ihre Lunge. Gleichzeitig erbrach sie sich. Süße, frische Luft ließ ihren Brustkorb heben und senken. Sie atmete! Und musste gleich darauf husten. Trotzdem: Es war ein Gefühl, wie neu geboren zu werden.

Jenna hatte noch immer Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Sie befand sich im Wasser. Sie lebte. Da sah sie Jeb wohlauf vor sich und ein warmes Glücksgefühl durchströmte sie. Jeb, er lebte, aber warum sah er sie so sorgenvoll an?

Ein weiteres hartnäckiges Husten schüttelte sie. Als sie sich gefangen hatte, war ihre Stimme nur ein Krächzen. »Oh Gott. Was ist passiert?«

Da erst spürte sie die Umklammerung um ihre Brust. Panisch versuchte sie, sich aus dem Griff zu befreien, dann vernahm sie Marys Stimme hinter sich. Und begriff, dass es Mary war, die sie über Wasser hielt. Wasser, das sich links und rechts und in alle Richtungen um sie herum ausbreitete. Wo waren sie nur gelandet? Aber zumindest waren sie alle hier. Alle … die von ihnen übrig geblieben waren. Da war Jeb. Sein Lächeln beruhigte ihre angespannten Nerven. Und da war Mary, die ihr das Wasser aus der Lunge gepresst hatte. Die ihr das Leben gerettet hatte.

Wieder hustete Jenna heftig und sie war froh, dass Mary sie kräftig strampelnd unter den Armen hielt.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Mary, als Jenna sich gefangen hatte.

Jennas Blick suchte Jeb und er schwamm nun heran. Liebevoll sah er sie an. »Alles okay?«

Sie versuchte sich an einem Lächeln. »Na ja, meine Lunge brennt wie Feuer.«

»Weißt du, wo wir sind?«, fragte Mary nun Jeb.

»Ich sehe nur Wasser um uns herum. So weit das Auge blickt«, sagte er. »Wir müssen mitten in einem Ozean gelandet sein.«

»Dann sind wir verloren«, flüsterte Mary tonlos. Jenna bekam eine Gänsehaut, denn Mary hatte genau den Gedanken ausgesprochen, der auch ihr nicht aus dem Kopf gehen wollte.

Jeb jedoch, das sah Jenna in seinem Gesicht, war noch nicht bereit aufzugeben. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen geformt und immerzu drehte er sich schwimmend um sich selbst und suchte, den Horizont ab. Jenna war ihm dankbar dafür und versuchte die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit, die in ihr aufsteigen wollte, zu ersticken. Der Kloß in ihrem vom Salzwasser angerauten Hals brachte sie erneut zum Husten, und so hörte sie nur Jebs Worte, als er seinen Satz beinahe beendet hatte. »… kann es nicht enden. Es gibt einen Ausweg, eine Chance, die gab es bisher immer.« Er schaute Jenna und Mary eindringlich an, und sosehr Jenna an diese Chance glauben wollte, sie empfand genau das Gegenteil. Instinktiv wusste Jenna, dass sie eine mehr als miserable Schwimmerin war.

Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Jeb. Er stand mit dem Rücken zum Meer. Die Arme weit ausgebreitet lachte er zum wolkenlosen Himmel. Er rief sie, aber das Rauschen der Wellen verschluckte seine Worte. Dann wandte er sich um, rannte los und stürzte sich mit einem Hechtsprung in die Wogen. Jenna beobachtete, wie er mit kräftigen Armzügen ins Meer hinausschwamm. Sie wäre ihm gern gefolgt, aber irgendetwas hielt sie zurück.

Angst.

Woher kommt dieses Bild? Warum ist es mir so vertraut? Ist das wirklich geschehen oder nur ein Traum? Warum bin ich ihm nicht nachgelaufen?

Und dann erinnerte sie sich an einen Badeunfall in ihrer Kindheit. Sommerferien an der Nordsee. Sie war noch klein gewesen, als sie von ihren Eltern unbeobachtet mit ihrem Sandeimer zum Wasser ging, in die Wellen hineinstapfte und umgerissen und dann unter die schaumige Oberfläche gezogen wurde. Die Hand ihres Vaters hatte sie hochgerissen und sie wusste noch, was er als Erstes zu ihr gesagt hatte. »Wenn wir daheim sind, lernst du schwimmen. Das passiert dir nie wieder.«

Aber sie hatte nie richtig schwimmen gelernt. Ihre Angst vor dem Wasser war zu groß gewesen. Es reichte, um sich eine Weile über Wasser zu halten, aber weite Strecken konnte sie schwimmend nicht zurücklegen.

Ihr Vater hatte gesagt, sie würde nie mehr in eine so hilflose Lage kommen.

Und nun war es doch passiert.

Das beklemmende Gefühl in Jennas Brust ließ sich nicht abschütteln. Sie mahnte sich zur Ruhe, dann schaute sie sich um. »Dann zeig sie mir, diese Chance.«

»Der Stern«, sagte Jeb. »Um Mitternacht wird er aufgehen. Bis dahin müssen wir durchhalten. Er wird uns den Weg weisen.«

Den Weg aus dieser Wasserwüste? Aus dem Nichts, in dem wir verloren sein werden, wenn wir nicht bald Land erreichen oder gefunden werden? Wie lange dauert es, bis wir zu erschöpft zum Schwimmen sind? »Aber wohin, Jeb? Wohin soll er uns führen? Da ist nichts. Nur Wasser und Leere.«

Da hörte sie erneut Marys Stimme hinter sich. »Kannst du schwimmen?«

Jenna hatte diese Frage befürchtet. Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. Sie hatte einen Entschluss gefasst: Sie würde hier so lange vor sich hin paddeln, bis es zu Ende ging. Sie durfte nicht aufgeben.

»Ich lasse dich jetzt los«, vernahm sie Marys leise Stimme. Dann schwebte Jenna und begann, Wasser zu treten.

»León ist tot«, sagte Mary da leise. »Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Besser mit ihm sterben als das hier.«

Jenna schwieg und auch Jeb brachte kein Wort heraus. Er sah aus, als wäre er tief in Gedanken versunken. Und als würde auch er kämpfen. Darum, die Hoffnung nicht aufzugeben. Jenna wusste, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Es gab genau einen Grund. Und der war Jeb.

Wind war aufgekommen. Das Wasser begann, sich zu kräuseln, dann drängten leichte Wellen heran, die auf und ab stiegen. Ihre Körper schaukelten mit ihnen. Vom Himmel brannte die Sonne auf sie herab, das Wasser glitzerte. Am liebsten hätte Mary sich von dem funkelnden Schauspiel schläfrig werden lassen, irgendwann die Augen zugemacht … aber Mary spürte, wie die Angst langsam von ihr abfiel.

Wasser. Das war ihr Element.

Nirgends war Land zu sehen. Und doch beunruhigte Mary dies nicht. Wenn nur Jenna durchhielt. Mary hatte bemerkt, dass die andere, seit sie sie losgelassen hatte, sich mühsam über Wasser hielt. Immer wieder musste Jenna ihren Kopf weit über die Oberfläche recken, damit sie beim Wassertreten nicht unterging. Um Jeb machte sich Mary keine Sorgen. Er schwamm in kurzer Entfernung wiederholt um seine eigene Achse, hob den Oberkörper aus dem Wasser. Immer mit Blick auf den Horizont.

»Jenna, versuch, dich mit den Armen auszubalancieren und nicht nur mit den Beinen zu strampeln.« Mary wusste, dass Jenna dringend energiesparender schwimmen musste, wenn sie überleben wollte. Als sie sah, dass Jenna jetzt stabiler im Wasser stand, sagte sie: »Halte durch, Jenna. Das ist nicht das Ende.«

Jenna keuchte neben ihr auf. »Wieso denkst du das …«, sie spuckte Wasser aus. »Hier ist nichts, falls dir das noch nicht aufgefallen ist! Nichts, das uns retten könnte!«

Mary überlegte, ob sie Jenna von ihrer Ahnung erzählen sollte – aber welche Worte sollte sie dafür finden? Alles, was sie Jenna zum Trost sagen konnte, waren Floskeln. Vermutungen. Aber diese Vermutungen waren ihr so klar und deutlich vor Augen. Mary spürte, dass sie wahr werden würden. Sie kannte dieses Meer, diesen Ozean. Sie waren hier zwar nicht sicher. Aber ertrinken, nein, das wusste Mary, ertrinken würden sie nicht. Rettung würde kommen.

Gerade wollte sie ansetzen, Jenna ihre diffusen Gedanken zu schildern, als Mary etwas an ihren Beinen spürte. Instinktiv schaute sie unter sich, konnte aber nichts erkennen. Oder war die Bewegung von Jennas Beinschlag im Wasser gekommen?

Mary musste sich zusammenreißen, nichts zu sagen, um Jenna nicht noch zusätzlich zu verängstigen, wo diese doch gerade einen regelmäßigen Schwimmrhythmus gefunden hatte.

Da schrie das blonde Mädchen plötzlich neben ihr auf.

»Was ist?«, fragte Mary.

Jennas Stimme war laut und voller Angst. »Etwas … etwas hat mich am Bein berührt.«

Mary schluckte.

Jeb war nach Jennas Schrei zu ihnen geschwommen. Er sah sehr besorgt aus. Jenna blickte die beiden fragend an.

»Ich war es nicht, aber ich habe es auch gespürt – unter uns.« Marys Stimme zitterte und sie vergaß einen Moment, weiter auf der Stelle zu paddeln, um sich über Wasser zu halten. Sie tauchte kurz unter, doch sofort machte sie einen kräftigen Beinschlag und kam wieder nach oben. Sie schnappte beim Auftauchen nur ein Wort auf, das Jenna geradezu ungläubig aussprach: HAI.

Eben noch war sie fest davon überzeugt gewesen, alles würde gut werden.

Haie flößten Mary mehr Angst ein, als sie sich in diesem Moment eingestehen mochte. Scharfe Zähne, die starrenden Augen, die Erbarmungslosigkeit, die diese Tiere ausstrahlten. Dies war ihre Welt, hier waren sie die unangefochtenen Könige und ihr Hunger war grenzenlos. Bei der Vorstellung, unter ihr könnte so ein Tier lauern, wurde Mary beinahe übel.

Konzentriert starrte sie geradeaus. Nur nicht nach unten schauen. Sie hörte Jebs und Jennas Stimmen leise zu sich durchdringen, sie hörte, wie nervös Jenna klang, je einsilbiger Jeb wurde.

Mary drehte sich um ihre eigene Achse, beinahe hoffnungslos, aber bemüht, nicht zu verzweifeln. Noch nicht. Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie man sich in Gewässern, in denen sich Haie tummeln, verhalten sollte, um nicht wie Beute zu wirken. Jeb rief Jenna und Mary zusammen. Ja, sie mussten größer wirken. Ohne nachzudenken, schwamm sie auf die beiden zu. Doch Mary suchte noch immer das Wasser um sie herum ab.

Da …

Da schweifte ihr Blick über etwas, das zuvor noch nicht da gewesen war. Ein dunkler Punkt, nicht allzu weit entfernt. Die Wellen verdeckten ihn immer wieder, aber …

»Ich sehe da was«, rief Mary. Etwas trieb auf dem Wasser.

Die beiden anderen wandten sich erschrocken zu ihr um und folgten ihrem Blick.

»Seht ihr es?« Plötzlich verließ Mary alle Angst. Da war sie, die Rettung , von der sie geahnt hatte, dass sie kommen würde. »Was ist das?«, fragte Jeb atemlos.

Mary kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, es ist ein Boot.«

»Ein Boot?«

Sie nickte. »Es liegt verkehrt herum im Wasser.« Sie wunderte sich darüber, woher sie diese Gewissheit nahm. Aber das Boot, das kieloben dort schwamm, sah sie nun klar vor sich. Wie in einer Erinnerung, die sich in ihr empordrängte … aber warum erinnerte sie sich an ein Boot?

Sie mussten sich beeilen, bevor der Hai neugierig wurde und sie attackierte. Mary überlegte, wie sie die geschwächte Jenna möglichst schnell dorthin bringen sollten, als sie eine weitere heftige Bewegung neben sich spürte. Mary schrie auf.

Marys Schrei gellte in Jebs Ohren.

»Er ist wieder da!«

»Ich habe ihn auch gespürt! Hast du ihn gesehen?«, fragte Jeb aufgeregt.

»Nein, aber ich spüre ihn. Immer noch. Das Wasser verschiebt sich unter meinem Körper. Es zieht an mir …«

Jeb tauchte kurzerhand unter, um die Lage einzuschätzen. Eine Minute lang versuchte er, mit brennenden Augen, den Hai zu entdecken. Prustend tauchte er wieder auf. »Nichts! Da ist nichts zu sehen!«

»Ich habe ihn gespürt«, beharrte Mary.

Jeb überlegte, wie er Jenna in Richtung des Bootes ziehen könnte, da hörte er, wie sie mit fester Stimme sagte: »Das Boot ist nicht mehr weit. Ich schaffe das.«

Langsam schwamm Jenna voraus. Und Jeb wusste, dass sie recht hatte: Sie mussten sich von hier fortbewegen, wenn sie ihre eine Chance wahrnehmen wollten.

Immerhin: Der Hai war nicht wieder aufgetaucht. Das gab ihm Hoffnung.

Jenna nahm Zug um Zug. Sie blickte nur selten auf. Und Schwimmzug für Schwimmzug, das wusste sie, näherte sie sich dem Boot. Sie musste nur durchhalten.

Die blaue unruhige Oberfläche vor ihr schien endlos.

Wenn sie an den Hai unter ihren Füßen dachte, verließ sie alle Kraft – und so lenkte sie ihre Gedanken auf das Boot und auf die Möglichkeit der Rettung.

Die nächsten Minuten sprach keiner von ihnen. Stumm schwammen sie durch das Auf und Ab der sanften Wellen. Die Sonne brannte auf sie hinab, aber Jenna fokussierte alles auf das Ziel, das so nah war und doch noch so fern. Sie ließ die Angst nicht zu, dass das Boot sich mit jedem Schwimmzug und mit jeder Welle wieder genau so weit entfernen konnte. Sie verschluckte sich, hustete, strampelte weiter … da berührten ihre Finger endlich etwas Hartes.

Sie hatte es geschafft. Das Boot trieb kieloben im Wasser und war aus braunem, hartem Kunststoff, dessen Rand weiß gefärbt war.

Jenna spürte die beiden anderen neben sich. Mit letzter Kraft krallte sie sich an dem Boot fest, vor Panik, es könnte gleich wieder davontreiben.

»Es ist größer, als ich dachte«, keuchte Jeb.

Größer bedeutet mehr Stabilität, dachte Jenna. Aber wie um Himmels willen sollten sie das Boot umkippen?

»Helft mir.« Jenna sah, wie Jeb zur Längsseite des Bootes schwamm. Sie bewunderte seine Kraft, die er aus scheinbar unerschöpflichen Reserven zu nehmen schien, seit sie aus dem weißen Labyrinth entkommen waren. Doch der erste Versuch, das Boot anzuheben, scheiterte.

»Alle zusammen«, sagte Mary.

Jenna bezog neben Jeb Stellung, Mary nahm den Bug des Bootes in Angriff. Erst nach drei kraftraubenden Versuchen gelang es ihnen, das Boot umzudrehen. Jennas Arme fühlten sich wie Pudding an, aber eine Welle der Erleichterung überrollte sie. Jeb und Mary neben ihr lächelten schnaufend.

Aber eine Frage blieb, wie sollten sie ins Boot gelangen, zumal mit geschwächten Armen?

Jeb stemmte sich am Bootsrand hoch, nahm Schwung – und stürzte zurück ins Wasser. Er war beinahe am Ende seiner Kräfte. Bei jedem Versuch schob er sich etwas weniger hoch aus dem Wasser. Er wusste, dass er mit jedem Versuch zumindest dazulernte, aus welcher Position und mit welcher Technik er am besten über den Rand gelangen konnte.

Wenn er sich nur nicht schon so müde und erschöpft fühlen würde. Doch er musste es schaffen, wenn nicht für ihn selbst, dann doch für die beiden Mädchen.

Er hielt sich einige Minuten still am Bootsrand fest. Er hatte herausgefunden, dass das Boot am Heck am wenigsten nachgab.

Dort würde er sich mit einem kraftvollen Beinstoß mit dem Oberkörper über den Rand hängen. Dann, in einem zweiten Ruck, Stück für Stück seinen Oberkörper und schließlich seine Beine in das Boot ziehen.

So viel zur Theorie.

Seine Hände waren inzwischen verkrampft von den unzähligen Versuchen, ins Boot zu gelangen. Diesmal würde er seinen Oberkörper als Gewicht einsetzen, um sich ins Boot zu hieven. Innerlich nahm er Anlauf. Eins … zwei …

Drei.

Mit einem tiefen Atemzug schnellte er, seine Beine schlagend, nach oben. Er hängte sich ächzend über den Rand. Zentimeter für Zentimeter schob er nun seinen Oberkörper nach, mit jedem Atemzug ein Stück weiter. Schließlich zog er ein Bein hinterher, legte es quer über das Heck des Bootes, ließ sich nach vorne fallen und rollte kopfüber ins Bootsinnere.

Geschafft. Er erlaubte sich, einen Moment zu verschnaufen, dann richtete er sich auf und mit wenigen Handgriffen, die nur aus der Verzweiflung geboren sein konnten, gelang es ihm, Jenna und dann Mary in das Boot hineinzuziehen.

Sofort, da außerhalb des kühlen Wassers, brannte die Hitze umso mehr auf ihn hinab und Jeb ließ sich erschöpft nach hinten fallen.

Als er sich ein wenig erholt hatte, blickte er zu den beiden Mädchen hinüber, die sichtlich ausgezehrt im schwankenden Boot hockten. Sie zitterten vor Anstrengung. Jeb hatte nicht mal genug Kraft, sich aufzurichten, sondern genoss für einige Momente die absolute Bewegungslosigkeit, die er seinem Körper nach stundenlangem Schwimmen nun gönnen konnte. Da hörte er, wie Jenna einen überraschten Schrei ausstieß.

»Was ist?«, fragte er erschrocken.

»Hier ist … Essen. Wasserflaschen. Plastikbeutel.« Sie wühlte die Sachen hervor. »Eine große Plastikplane und ich … ich habe …« Sie zögerte. »… das ist ein …«

Mary stand auf und kletterte über die Ruderbänke hinweg zu ihr.

»… Kompass«, vervollständigte sie den Satz. »Damit kann man die Himmelsrichtung bestimmen.«

»Manche von den Sachen sind beschriftet …«, dann schwieg Jenna plötzlich.

Jeb staunte von seinem Platz in der Mitte des Bootes nicht schlecht, als die beiden Mädchen nacheinander noch eine Sturmlampe, Verbandszeug und eine Leuchtpistole unter der Klappe am Heck hervorzogen.

All das bedeutete Leben. Überleben. Jeb traute der ganzen Sache insgeheim noch nicht: Hatte das Labyrinth nicht zwar immer dafür gesorgt, dass sie Essen, Kleidung und Ausrüstung hatten? Und hatte das Labyrinth nicht dennoch unerbittlich versucht, sie alle zu töten?

Galle stieg auf und hinterließ einen bitteren Geschmack im Mund.

Das Labyrinth hatte es wahrhaftig geschafft, dass sie mittlerweile nur noch zu dritt waren. Das alles hatte er während des Kampfs ums Überleben, den sie nun schon stunden-, nein, tagelang führten, nicht mehr an sich rangelassen. Jetzt, da er das erste Mal in Ruhe innehalten konnte und sich zumindest vorerst in Sicherheit fühlte – da brach diese Erkenntnis mit umso größerer Heftigkeit über ihn herein.

Sie waren sieben gewesen.

Nun waren sie nur noch zu dritt.

Und das Labyrinth war noch lange nicht mit ihnen fertig.

Mary beugte sich zu Jenna herüber, als diese ihr mit bedeutungsvollem und fragendem Blick das Verbandpäckchen hinhielt. Tatsächlich, dort stand ein Name. Nein, nicht irgendein Name.

Ihr Name. MARY

Aus irgendeinem Grund war sie nicht überrascht. Doch an den Reaktionen von Jeb und Jenna, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, konnte sie die Unmöglichkeit dieses Zufalls ablesen.

Nein, ein Zufall war das sicher nicht.

Mary riss erschrocken die Augen auf, als sie begriff, was der Schriftzug in ihr wachrief.

Angst. Schande. Ausgeliefertsein.

Mehr aus einer Ahnung heraus als wirklich wissend, deutete sie mit der Hand nach vorne, zur Bugwand. »Hier steht etwas«, sagte sie leise. »Hier steht auch MARY. Mein Name. Was hat das zu bedeuten?«

Sie versuchte, die Erinnerung in ihrem Kopf zu fassen zu bekommen … »Ich … da ist ein Bild in meinem Kopf. Der Schriftzug, ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen.«

Das Labyrinth ist ohne Gnade

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