Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 9

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2.


Mary erwachte, ohne zu wissen, was sie geweckt hatte. Um sie herum herrschte fahle Dunkelheit, die von einer unsichtbaren Lichtquelle aufgelockert wurde, sodass Mary die Weite des Meeres um sich herum wahrnehmen konnte.

Jennas Kopf lag noch immer in ihrem Schoß und sie spürte, wie verspannt ihre Schultern waren. Sie war im Sitzen eingeschlafen und nun war es gnädige, kühlende Nacht geworden.

Mary suchte das Boot nach Jeb ab, der auf der Ruderbank in sich zusammengesackt war und offensichtlich schlief. Weder Jenna noch Jeb rührten sich.

Mary nahm vorsichtig Jennas Kopf in ihre Hände und wand sich unter ihr zur Seite, um sich aufzurichten. Sie streckte ihre Glieder und ächzte, als die steifen Muskeln in Bewegung kamen. In der Luft lag ein metallischer Geruch, den sie zunächst nicht einordnen konnte.

Aber dann erinnerte er sich an die erste Welt. In der Steppe hatte es damals kurz vor Ausbruch eines heftigen Gewitters ebenfalls so gerochen. Etwas beunruhigt spähte sie aufs Meer, aber sie konnte in der Dunkelheit nur wenig ausmachen. Der Seegang schien etwas rauer geworden zu sein, denn nun hoben und senkten Wellen das Boot in einem langsamen Rhythmus.

Trotzdem wirkten die Umgebung ruhig und das Meer nicht bedrohlich. Mary entspannte sich ein wenig. Sie überlegte, ob sie sich wieder hinlegen sollte, als eine etwas größere Welle das Boot einen halben Meter anhob und eine leichte Erschütterung den Rumpf erzittern ließ. Gleichzeitig gab es einen hohlen, dumpfen Klang. Mary erschrak und drehte sich hastig um. Zum ersten Mal seit sie erwacht war, sah sie nun, was hinter ihr lag, und zuckte zurück.

Vor ihr ragte eine schwarze Wand auf. Sie verdeckte den Himmel vollkommen, so schien es. Den Kopf in den Nacken gelegt, wanderte ihr Blick über das Hindernis, gegen das der Seegang das Boot getrieben hatte. Zunächst begriff sie nicht, was sie da sah, aber dann machte sich Hoffnung in Mary breit.

Es war ein Schiff! Das Schicksal hatte sie zu einem Schiff geführt, das, ohne Fahrt zu machen, im Wasser lag. Marys Augen flogen darüber, aber es gab keinen Zweifel, es war tatsächlich ein Schiff. Das war sie also, die Rettung, die Mary schon erahnt hatte. Wieso wollte sich dann keine Erleichterung bei ihr einstellen?

Mary suchte und fand die Sturmlampe, die zur Bootsausrüstung gehörte, schaltete sie ein und ließ den Strahl nach oben wandern.

Die Schiffswand war nachtschwarz gestrichen und ragte mindestens fünfzehn Meter vor ihr auf. Jenseits der schwarzen Fläche konnte Mary den Himmel nicht erkennen.

Seltsam. Wo war der Stern? Sie ließ ihren Blick schweifen, da entdeckte sie etwas Helles am oberen Bordrand. Die dunkle Fläche wurde dort von einem weißen Schriftzug mit riesigen Buchstaben durchbrochen, von denen Mary glaubte, sie stellten den Schiffsnamen dar, aber aus ihrer Position heraus gelang es ihr nicht, das Wort zu entziffern.

Während Mary mit klopfendem Herzen nach oben starrte, wurde das Ruderboot erneut von einer Welle angehoben und gegen das Schiff getrieben, von dem Mary glaubte, es könne ein Frachter sein.

Ein Frachter. Marys Kehle schnürte sich mit einem Mal zu. Und dann traf sie die Erkenntnis. Sie kannte dieses Schiff. Sie kannte es gut. Sie hatte einen Großteil ihrer Kindheit an Bord verbracht.

Jenna wurde von einem Zittern geweckt. Sie öffnete die Augen und war – allein. Es dauerte eine Weile, bis sie sich orientiert hatte. Dann erinnerte sie sich: Sie saßen zu dritt in einem Boot fest. Jeb hatte sie aus dem Wasser gezogen, der Hai war fort, sie war in Sicherheit. Der Raubfisch war nicht wiedergekommen … aber warum wackelte nun das Boot?

Jenna legte ihre Arme um die zur Brust gezogenen Beine und wagte nur, ihren Kopf vorsichtig zu heben, um mit Mary oder Jeb zu sprechen.

Da sah sie Mary. Sie hatte sich an die rechte Bugseite gestellt, hielt eine Lampe in der Hand und blickte hinaus in die Dunkelheit. Jeb hingegen lag etwas entfernt auf der Ruderbank … nun rührte auch er sich.

»Da draußen, da ist etwas, das ihr euch ansehen solltet«, hörte Jenna nun Marys zittrige Stimme.

Jeb war von einem Ruckeln aufgewacht. Als er nun Marys Stimme vernahm, stand er hastig auf. Er hatte nur einen Gedanken und er hoffte, dass sich seine dunkle Ahnung nicht bewahrheitete.

Mit dem Aufstehen brachte Jeb das Boot zum Schwanken. Er wartete einen Moment, bis er sich ausbalanciert hatte, dann stieg er über die Ruderbank hinweg und beugte sich zu Jenna hinunter, die stocksteif auf der Mittelplanke saß und zu Mary hinüberstarrte.

»Was ist?«, fragte er.

Jenna blickte auf. »Ich weiß nicht.«

Plötzlich hörte er ein Geräusch, das ihn vollkommen irritierte.

Klonk.

Und wieder Marys Stimme, die seiner Irritation Hoffnung verlieh. »Jeb, Jenna, da ist ein Schiff.«

Er schaute zu Mary hinüber, die mit der Sturmlampe in die Finsternis … nein. Dort war zwar etwas Dunkles, aber es lag direkt vor ihnen. Es war nicht undurchdringliche Schwärze. Nein. Es war nichts weniger eine metallene Wand, die direkt vor Mary aufragte. Nach oben hin schien sie kein Ende zu nehmen.

Jeb blinzelte verwirrt, dann hatte er sich orientiert.

Jenna sah ihn fragend an, immer noch schlaftrunken und offenbar mitgenommen von dem Erlebnis mit dem Hai.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.

»Wir sind gerettet, Jenna.« Er deutete über das Boot hinaus und Jennas Augen wurden weit. »Ein Schiff«, sagte Jeb. »Das Schicksal hat uns ein Schiff geschickt.«

Er wusste nicht, warum er das sagte, schließlich war nicht mal klar, ob das Schiff sie tatsächlich retten würde.

Aber dennoch. In den Weiten des Meeres, das auf kurz oder lang ihren Tod bedeutet hätte, war dieses Schiff ihre einzige Hoffnung. Ein Anker und ein Ausweg.

Das Rettungsboot schwankte noch mehr, als sich nun auch Jenna aufrichtete. »Stimmt das, Mary?«

»Ich kenne dieses Schiff.«

»Wie meinst du das?«, fragte Jeb.

»Es ist so, wie ich es sage, aber darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.«

»Mary …« – »Später erkläre ich dir das, Jeb, aber nicht jetzt.«

Langsam stand Jenna auf und stakste zu Mary und Jeb hinüber, die beide auf die große Stahlwand vor sich starrten.

Marys Blick war hart und sie sprach kein weiteres Wort. Selbst in der Düsternis glaubte Jenna zu erkennen, dass sie totenbleich geworden war.

Jenna schaute fasziniert und mit verängstigtem Blick an die Stahlwand vor ihnen. »Was machen wir jetzt?«

»Wir müssen rufen, auf uns aufmerksam machen. Auf dem Schiff muss eine Besatzung sein«, meinte Jeb.

»Warum bewegt es sich nicht. Irgendwie wirkt das alles unheimlich auf mich. Ein Schiff taucht plötzlich wie aus dem Nichts auf, ohne dass wir es bemerkt haben. Oder hast du etwas gehört?«

»Nein, ich glaube, es war schlichtweg Glück, dass wir in seine Nähe getrieben wurden.« Jenna bemerkte an seinem Tonfall, was er von diesem zweifelhaften Glück hielt. Aber er sagte nichts weiter. Vielleicht wollte er Mary und sie nicht noch mehr beunruhigen.

Seufzend nahm Jenna seine Hand, um ihm zu verstehen zu geben, dass er nicht allein war. Sanft drückte er zurück.

Jeb wandte sich an Mary. »Sollen wir rufen?«

Marys Blick im Licht der Sturmlampe war unergründlich. Sie blinzelte nicht, sondern sah unbeweglich in die Nacht hinaus.

Dann sagte sie etwas, das Jeb einen Schauer über den Rücken jagte.

»Wir müssen auf das Schiff. Ich habe dort etwas zu erledigen.«

Jeb legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Hat es mit deiner Vergangenheit zu tun?«, fragte er, aber Mary presste die Lippen zusammen und drehte sich weg.

In der Ferne zuckte ein lautloser Blitz über den Horizont.

Jeb formte mit den Händen einen Trichter, dann begann er, laut zu rufen. Jenna tat es ihm gleich, Mary blieb stumm.

Auf dem Schiff rührte sich nichts. Keine Scheinwerfer gingen an und niemand beantwortete ihre Rufe.

Jeb brüllte so laut er konnte, klang dabei immer verzweifelter. Mary hatte ihre Hände auf die Ohren gelegt und hielt den Kopf gesenkt. Jenna nahm ihr die Sturmlampe ab und schwenkte sie wild umher, aber auf dem Schiff rührte sich niemand.

»So wird das nichts«, meinte Jeb sich räuspernd. »Entweder ist da keiner oder sie können uns nicht hören.«

Plötzlich kam Jenna eine Idee. »Wir müssen wieder näher an das Schiff ran und mit irgendetwas gegen den Stahlrumpf klopfen. Vielleicht reagiert dann jemand«, sagte Jenna.

Jeb nahm Jenna die Sturmlampe ab. »Ich versuch es damit. Wenn sie kaputtgeht, haben wir allerdings kein Licht mehr.«

»Wenn uns niemand entdeckt, spielt das auch keine Rolle, dann hocken wir halt im Dunkeln.« Jenna versuchte sich an einem aufmunternden Grinsen und Jeb konnte sehen, wie schwer es ihr fiel, unbeschwert und mutig auszusehen.

Die Wellen hatten sie etwas abgetrieben. Jeb gab Jenna ein Zeichen und beide beugten sich, jeder auf einer Längsseite des Bootes, zum Wasser hinab und begannen, mit den Händen zu paddeln. Es war mühsam, aber Zentimeter für Zentimeter schien sich das Boot vorwärts zu schieben, bis es mit einem leisen Klonk direkt neben dem Rumpf des Giganten zum Stehen kam. Jeb versuchte, sich irgendwie an der Stahlwand festzuhalten, damit das Boot nicht erneut abtrieb, aber das Metall war zu glatt, gab seinen Fingern keinen Halt. Noch einmal warf er einen Blick zu Jenna.

»Los!«, sagte Jenna.

Jeb hielt die Sturmlampe verkehrt herum und klopfte mit dem unteren Ende gegen den Stahl. Ein deutlich hörbares, metallisches Geräusch erklang, so als würde ein Hammer auf einen Amboss geschlagen.

Immer und immer wieder drosch Jeb gegen den Rumpf und jedes Mal jagte eine Erschütterung durch seinen Arm bis zur Schulter hinauf.

Und dann hörte er es. An Deck des Giganten sprang ein Motor an.

Endlich eine Reaktion. Jemand war an Bord des Schiffes, und wie es schien, hatte er sie bemerkt.

Der Kegel eines starken Lichtstrahls fiel herab und beleuchtete das Meer in einem etwas fünf Meter großen Kreis. Jeb legte beide Hände an die Schiffswand und stieß sich ab, damit das Ruderboot in den Lichtschein trieb. Er blickte nach oben, konnte aber geblendet durch den Scheinwerfer nichts erkennen.

Genau wie Mary und Jenna rührte er sich nicht. Sie hatten alle drei den Kopf in den Nacken gelegt und starrten zu den mächtigen Aufbauten des Schiffes.

Wieder erklang das Motorengeräusch. Diesmal lauter. Ein Ausleger schwang über die Reling. Wie ein gigantischer Finger ragte er über das Schiff hinaus und ließ langsam ein Stahlseil herab, an dem ein Transportnetz für Fracht befestigt war. Jeb erkannte große Maschen, während das Netz sich schlaff zu ihnen herabsenkte. Als das Netz auf ihrer Höhe war, hörte er über sich ein Surren, dann baumelte es direkt vor seiner Nase im leichten Wind.

»Sollen wir uns außen am Netz festhalten?«, fragte Jenna.

»Nein.« Jeb wandte überrascht den Kopf, als Mary sprach. »Hineinklettern. Durch unser Gewicht zieht sich das Netz zusammen, sodass wir nicht herausfallen können.«

»Sollen wir es wirklich wagen?« Jenna deutete nach oben. Der Lichtschein tauchte sie in einen unnatürlichen Glanz und ließ ihre blonden Haare aufleuchten. »Wir wissen nicht, was uns dort erwartet.«

»Wir müssen, Jenna«, sagte Jeb. »Unser Boot treibt steuerlos und ohne Ruder auf einem Ozean. Hier kommen wir nur mithilfe anderer weg. Das ist unsere einzige Chance.«

Jenna fasste Mary an beiden Schultern und zwang sie, sie anzusehen. »Mary, du weißt doch irgendetwas über diesen Frachter, oder? Sag es mir bitte, was hat es mit diesem Schiff auf sich?«

Mary wandte den Kopf, blickte zur Schiffswand hinüber, dann sagte sie: »Das Schiff gehört meinem Vater.«

Jeb schwieg. Marys Worte hatten ihn vollkommen überrascht und nun grübelte er über das Ausmaß dieser Aussage nach. War dies etwa wieder einer der Pfade in die dunkle Vergangenheit?

Das würde auch Marys einsilbige und abweisende Reaktion vorhin erklären, als sie nicht über das Schiff sprechen wollte. Jeb ahnte, was in ihr vorging. Wahrscheinlich wusste nur sie, was sie an Bord erwartete. Und es fiel ihr schwer, es in Worte zu fassen.

»Deinem Vater?«, echote Jenna.

Marys Stimme klang seltsam abwesend, als sie erzählte: »Das Schiff ist die MARY. Er hat sie nach mir benannt. Es ist ein Frachter, der im Jahr meiner Geburt das Dock verließ und seitdem zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten pendelt. Hauptsächlich transportiert es Maschinenteile in die USA und bringt auf dem Rückweg landwirtschaftliche Erzeugnisse, zum größten Teil Baumwolle, mit. Mein Vater ist der Kapitän. Außerdem gibt es noch acht Mann Besatzung an Bord. Polen, Letten und Esten.«

»Aber … aber, dann sind wir gerettet, in unsere eigene Welt zurückgekehrt«, stieß Jenna hervor.

»Für mich gibt es dort oben keine Rettung«, sagte Mary knapp.

Jeb war nun vollkommen verwirrt. Wovon sprach Mary da?

In seinen Ohren klang es so, als wäre sie die Erste von ihnen, die die Chance hatte, auf jemanden aus ihrer Familie, ihrer Vergangenheit zu treffen. Sie würde nicht mehr allein sein und dennoch wirkte sie bedrückter und düsterer als jemals zuvor.

Gleichzeitig zweifelte er daran, dass sie sich tatsächlich in Marys wahrem Leben befanden. Nach all den Strapazen war es unwahrscheinlich, dass ihre Odyssee so enden sollte. Schon in der letzten Welt, in Los Angeles, hatten sie geglaubt, heimgekehrt zu sein, schließlich hatte León auch seine Welt wiedererkannt. Aber die Ereignisse hatten sie eines Besseren belehrt und hier und jetzt war es wahrscheinlich nicht anders. Jeb glaubte nicht, dass es sich bei dem Frachter um das Eigentum von Marys Vater handelte, viel wahrscheinlicher war, dass das Labyrinth mit ihren Hoffnungen und Ängsten spielte. Grausam und perfide und immer unberechenbar.

Aber mochte es sein, wie es wollte, dieses Schiff war ihre einzige Chance, hier wegzukommen. Antriebslos auf dem unendlichen Ozean zu treiben, bedeutete den langsamen, sicheren Tod durch Verdursten oder Ertrinken. Von Deck erklang jetzt ein Hupen.

»Das Signal«, erklärte Mary. »Gleich wird das Netz wieder hochgezogen.«

Jeb legte Jenna und Mary je die Hand auf die Schulter. »Lasst es uns tun.«

Beide nickten stumm.

Mary griff nach dem Netz und kletterte geschickt durch die Öffnung hinein. Sofort sackte das Netz einen halben Meter nach unten und begann zu schwanken. Jeb konnte hören, wie hoch über ihnen der Motor des Krans gestartet wurde.

Er hielt das Netz ruhig, während Jenna hektisch einstieg, dann kletterte er ihr nach.

Ein weiteres, lang gezogenes Hupen ertönte.

Dann wurden sie hochgezogen.

Das Labyrinth ist ohne Gnade

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