Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 12
ОглавлениеMary durchquerte die Kombüse, als sie im Aufenthaltsraum Stimmen flüstern hörte.
Jeb ist zurück. Ist mein Vater bei ihm? Warum flüstern sie?
Zögerlich ging Mary weiter. In ihrem Magen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus und ihre Knie waren weich, so als hätte sie nicht mehr die Kraft, sie zu tragen. Sie schluckte schwer und betrat den Aufenthaltsraum.
Die Uhr zeigte 04:18 Uhr und 45 Sekunden. Es war eine Viertelstunde vergangen, seit Jeb aufgebrochen war.
Seltsam, mir kam die Zeit viel kürzer vor.
Sie wollte darüber nachdenken, aber was sie nun sah, wischte jeden Gedanken beiseite.
Zu ihrer Überraschung waren da weder Jeb noch Jenna und auch nicht ihr Vater. Vor ihr am Tisch saß eine südländisch aussehende Frau mit schwarzem Haar, durch das sich graue Strähnen zogen. Ihr Kopf war vornübergebeugt, sie murmelte etwas vor sich hin und dann entdeckte Mary den Rosenkranz in ihren Händen. Sie sah, wie die schwarzen Holzperlen unablässig durch die Finger der Frau wanderten. Sie war klein, kleiner als sie selbst, mit einer rundlichen Figur, die in einem abgetragenen blauen Kleid mit verblassendem Blumenmuster steckte. Die Fremde schien sie nicht zu bemerken, denn sie zeigte keinerlei Reaktion, als Mary näher trat.
»Hallo«, sagte Mary leise, um die Frau nicht zu erschrecken, doch deren Kopf ruckte hoch. Dunkelbraune, fast nachtschwarze Augen starrten sie ängstlich an. Die Frau sagte etwas, das für Mary wie Spanisch klang, hob den Rosenkranz an die Lippen und küsste ihn.
»Hallo«, wiederholte Mary.
Die Frau plapperte etwas.
»Ich bin Mary.« Sie deutete mit dem Finger auf die eigene Brust. »Darf ich fragen, wer Sie sind?« Sie zeigte auf die Frau.
Ein Schwall spanischer Worte folgte, aus dem Mary den Namen ›Rosalia‹ heraushörte.
»Ist das Ihr Name? Rosalia?«
Die Frau nickte eifrig.
»Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«
Das Geplapper ging erneut los und Mary wurde klar, dass die andere Frau sie nicht verstehen konnte. Obwohl es sinnlos war, fragte sie: »Haben Sie ein großes blondes Mädchen gesehen?« Sie machte die entsprechenden Gesten, schließlich schien die Fremde zu begreifen, was sie von ihr wissen wollte.
»Sí, sí, sí.« Die Frau streckte ihren Arm aus und deutete in den Gang, der an Deck führte.
»Da lang?«, fragte Mary. »Ist sie da lang gegangen?«
Heftiges Nicken.
»Gut, ich lasse Sie kurz allein. Ich komme gleich wieder.«
Sie machten die Zeichen, die erklären sollten, was sie sagte, aber die Frau hatte sich wieder ihrem Rosenkranz zugewandt und betete noch inbrünstiger als zuvor.
Bevor Mary weiterging, betrachtete sie die Fremde noch einmal. Irgendetwas an der Frau kam ihr bekannt vor, aber woher, wusste sie nicht. Vielleicht lag es an diesen Augen, die in einem Glanz schimmerten, den sie schon einmal gesehen hatte.
Als sie den Raum verließ, war es 4:22 Uhr.
Jenna durchschritt verunsichert die Kombüse. Wie war Mary an ihr vorbeigekommen? Die Toilette, zu klein, um sich darin zu verstecken, war leer gewesen und einen zweiten Ausgang gab es nicht. Wenn Mary sich also nicht in Luft aufgelöst hatte, dann musste sie die Toilette auf demselben Weg verlassen haben, wie sie den Raum betreten hatte. Und dann hätte sie Mary sehen müssen.
Jenna war beunruhigt. Ihr wurde heiß und kalt bei dem Gedanken daran, dass sie und Mary sich verloren hatten. Außerdem: Menschen verschwanden nicht einfach. Irgendetwas mit diesem Schiff stimmte nicht. Sie konnte es spüren, es war fast wie ein Flüstern, ein Wispern von Stimmen, die sie warnen wollten.
Ich muss Mary finden. Und ich muss zu Jeb. Er sagte, er würde uns um 4:33 Uhr abholen, also werde ich einfach warten.
Sie hastete voran und stolperte fast in den Aufenthaltsraum. Vor sich bemerkte sie eine verschwommene Bewegung. Ihr Verstand registrierte zunächst nicht, was sie da sah. Dann wurden aus den Schatten zwei Menschen. Eine alte, abgemagerte Frau und ein kleines Mädchen. Verloren standen sie vor ihr, die Augen weit aufgerissen. Die Frau war so dürr wie ein trockener Ast und ihre runzeligen Augen waren zwei kaum sichtbare Schlitze. Unzählige Falten formten ein Gesicht, das von zahlreichen Entbehrungen erzählte. Ihre Haare, dünn und grau, fielen strähnig auf die gebeugten Schultern herab.
Das Mädchen an ihrer Hand mochte kaum älter als sechs Jahre sein. Die mandelförmigen Augen waren fast schwarz und blickten sie ängstlich an. In der Hand hielt sie einen braunen Beutel, der aussah wie Leóns Rucksack, der in der ersten Welt verloren gegangen war.
Wer sind diese Menschen?
Aus den Augenwinkeln nahm sie an der Wand eine weitere Bewegung wahr. Es war die Wanduhr, die neben dem Fernseher hing. Unablässig zählten dort die Zahlen runter.
34:04:59
34:04:58
34:04:57
Ein feuriges Unwohlsein durchströmte Jennas gesamten Körper. Eben hatte das Ding noch die richtige Zeit angezeigt … was war passiert? Hatte sie eben die Uhr falsch gelesen … wie spät war es gewesen? 04:03 Uhr, wenn sie sich recht erinnerte. Sollte sie sich verguckt haben? Wo zum Teufel war Mary?
Heißt das, wir haben noch viel Zeit? Oder ist es für die unbekannten Strapazen, die noch vor uns liegen, bereits viel zu knapp?
Bevor Jenna eine Frage formulieren konnte, krächzte die Alte etwas und zunächst glaubte Jenna, sich verhört zu haben. Es war nur ein Wort, aber gleichzeitig eine Frage.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte sie mit trockenem Mund.
Dann verstand sie, was die Frau murmelte: »Tian?«
Jenna wurde schwindlig. Zuerst verschwand Mary, dann spielte ihr die Zeit ein unheimliches Spiel und nun das. Es war, als würde eine kalte Hand nach ihrem Magen greifen und ihn zusammenpressen. Weiße Punkte blitzten vor ihren Augen auf.
»Tian«, wiederholte sie schwach und schüttelte den Kopf.
Die Alte richtete ihren Zeigefinger anklagend auf Jenna. Dann brach ein Schwall unverständlicher Worte über ihre schmalen Lippen.
»Ich kenne Tian«, sagte Jenna, weil ihr nicht Besseres einfiel. »Besser gesagt, ich kannte ihn.« Sie senkte den Kopf und flüsterte: »Er ist tot.«
Doch die alte Frau begriff nicht, was sie sagte. Plötzlich sprach das kleine Mädchen. »Ich bin Szu.«
Jenna schaute sie an. »Du verstehst mich.«
»Tian ist mein großer Bruder. Er ist in seinem Zimmer.«
»Er ist dein Bruder?«, antwortete Jenna schwach.
»Er spielt nie mit mir, aber manchmal geht er mit mir auf den Spielplatz.«
Jenna schluckte. Sie brachte es nicht über sich, dem Mädchen noch einmal die schreckliche Wahrheit zu sagen. Tian war im Labyrinth gestorben. Er würde nicht mehr mit ihr auf den Spielplatz gehen. Hier nicht und auch nicht dort, wo sie glaubte, dass ihr Bruder war. Tian hatte seinen Preis bereits bezahlt.
»Bestimmt hat er das immer gerne gemacht«, flüsterte Jenna.
»Oma regt sich sehr auf. Sie schimpft viel mit Tian, aber jetzt nicht mehr«, sagte Szu.
Jenna fing sich wieder, aber begreifen, was hier geschah, das vermochte sie nicht. »Wie seid ihr auf das Schiff gelangt?«
Das Mädchen blickte sie stirnrunzelnd an. »Schiff? Du bist lustig. Wir waren noch nie auf einem Schiff. Das ist unser Zuhause.« Sie machte eine umfassende Handbewegung.
Jenna musste sich setzen und brachte erst mal kein Wort mehr heraus.
Wo war sie hier? Wer wusste, wie spät es in Wirklichkeit war? Vielleicht hatte sie nicht nur Mary, sondern auch Jeb längst verpasst und die halbe Stunde war schon längst vorbei. Und wer waren diese beiden seltsamen Gestalten, die offenbar Tian kannten? Wieso glaubte das kleine Mädchen, dass es hier zu Hause war?
Während Jenna ihre Gedanken versuchte zu sortieren, was ihr nicht gelang, beugte sich die Alte zu Szu hinunter und ihr faltiger Mund formte leise Worte, eine Art Singsang, den Jenna nicht verstand. Sie hatte so viele Fragen, aber dann sah sie plötzlich eine Bewegung.
Da! Hinter dem Bullauge. Ein Schemen. Etwas Blaues blitzte auf, lief über das Außendeck. Das musste Mary sein. Sie trug ein blaues T-Shirt. Jenna war verwirrt. Wo wollte Mary hin? Warum war sie nicht im Inneren des Schiffes geblieben?
Sie muss etwas entdeckt haben. Etwas hat sie nach draußen gelockt oder getrieben. Vielleicht ist Mary in Gefahr. Ich muss zu ihr!
Gleichzeitig wollte sie bei der alten Frau und dem Mädchen bleiben und mehr darüber herausfinden, was sie von Tian wussten. Jenna zögerte einen Augenblick, dann traf sie eine Entscheidung.
»Szu, ich lasse euch kurz allein. Ich gehe nach draußen, bin aber gleich wieder da. Bleibt bitte hier, ich habe noch viele Fragen.«
Das Mädchen blickte sie an und nickte. Die Alte beachtete sie nicht.
Jenna wandte sich um und rannte durch den Gang zur Außentür.
Jeb richtete sich ächzend auf. Sein Schädel dröhnte und ein blitzender Schmerz jagte von der einen Schläfe zur anderen. Zunächst verstand er nicht, was geschehen war, aber dann fiel ihm alles wieder ein. Mit beiden Händen tastete Jeb seinen Kopf ab, entdeckte aber kein Blut oder eine Wunde. Glück gehabt.
Dann wurde ihm bewusst, dass er das Messer nicht mehr in der Hand hielt. Hatte er es verloren? Er schaute sich um, fand es aber nicht. Vielleicht war es in die Tiefe gefallen, als er die Tür zum Maschinenraum aufgestoßen hatte.
Vor ihm, hinter der offenen Tür, lag der Abgrund. Die Sturmlampe leuchtete mit bleichem Geisterfinger auf die gegenüberliegende Wand. Jeb tastete vorsichtig über das Metallgitter, auf dem er kniete. Er fühlte die Kante der offenen Tür, danach fassten seine Finger ins Leere. Er griff nach der Sturmlampe, richtete ihr Licht auf das schwarze Nichts vor ihm und ließ den Strahl in die Tiefe gleiten. Das Messer war nicht zu sehen, keine Klinge blitzte unter ihm auf.
Jeb traute sich kaum, lange nach unten zu schauen. Aber es war unfassbar. Der große, weite Raum war vollkommen leer. Keine Maschinen, Turbinen, Antriebswellen oder was sich sonst hier befinden sollte. Nur eine gähnende Leere, die Furcht in ihm aufkeimen ließ.
Wie kann das sein? Das Schiff muss einen Antrieb haben, wie sonst sollte es auf das offene Meer gelangt sein? Wie den Ozean durchqueren?
Dann zuckte ein Gedanke in ihm auf. Die Erklärung war so lächerlich, dass er sich dafür verfluchte, dass er so ängstlich war. Jemand hatte die Schilder an den Türen vertauscht. Dies hier war der Frachtraum. Die Schiffsmaschinen lagen hinter der anderen Tür. So musste es sein.
Trotzdem blieb die unangenehme Frage, warum es eine Tür gab, die ins Bodenlose führte, in einen Abgrund, in den man stürzen konnte.
Die Menschen auf diesem Frachter haben einen düsteren Sinn für Humor. Beinahe hätte ich mir den Hals gebrochen.
Entschlossen machte er zwei Schritte zurück und verschloss den Frachtraum, als ihm siedend heiß einfiel: Mary und Jenna! Die Uhrzeit! Wie lange hatte er bewusstlos hier gelegen? War die halbe Stunde bereits um? Er musste zu ihnen!
Jeb atmete tief durch und wollte sich gerade wieder abwenden, um zur Kombüse zurückzulaufen, da hörte er ein lautes Geräusch. Abrupt wandte er sich um und leuchtete mit der Sturmlampe vor sich. Der Strahl der Lampe traf die andere Tür.
Da, da war es wieder. Es klang wie ein Scharren, ein Pochen. Und es kam von der anderen Seite der Tür.
Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Er umfasste die Sturmlampe fest und hielt sie so, dass er sie notfalls auch als Waffe benutzen konnte. Vorsichtig trat er vor die Tür. Leise drückte er die Klinke herunter. Sie ließ sich leichter als die rechte öffnen, ein Zeichen, dass sie öfter benutzt und geölt wurde. Fast lautlos schwang das schwere Metall zurück.
Zögerlich ging Jeb nach vorn, ließ den Strahl der Lampe umherschweifen.
Seine Augen suchten …
… und fanden nichts.
Es war nicht auszumachen, woher das Geräusch gekommen war. Denn dieser Raum war ein identischer Zwilling des anderen und ebenso leer.
Jeb schluckte schwer.
Was hat das alles zu bedeuten?, fragte er sich. Seine schweißnasse Hand klebte förmlich am Griff der Sturmlampe fest. Sie war das Einzige, das ihm vertraut vorkam. Sein Blick fiel auf Metallsprossen, die direkt unter ihm in der Tiefe verschwanden.
Hier ging es runter, aber wohin würde ihn die Leiter führen?