Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 8

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1.


Mary war in einer anderen Welt, die nur in ihrem Kopf existierte. In einer Welt aus Schatten, die zur Tür hereinfielen und das Zimmer eroberten, bevor ihnen der wahre Schrecken folgte.

Aber sie war nicht allein. Im Zimmer nebenan wimmerte leise ihr kleiner Bruder David.

Das Plätschern der Wellen gegen den Bootsrumpf verstummte und sie hörte die Schritte. Seine Schritte. Wie er vor der Tür auf und ab ging, so als denke er nach, so als bereue er, aber das waren nur Augenblicke, denn es geschah immer wieder. Es gab keine wahrhafte Reue, nur seinen schweren Atem, wenn er ihr ins Ohr flüsterte, dass sie Papas kleines Mädchen war.

Mary hörte, wie die Tür zum Zimmer ihres Bruders aufschwang, ein kaum vernehmbares Ächzen der Scharniere. Dann die flüsternde Stimme ihres Vaters.

Jetzt sagt er, dass David schlafen soll, alles in Ordnung ist, aber nichts ist in Ordnung. Niemals wieder. Nicht für David und auch nicht für mich.

Die Tür ächzte erneut, dann verschwanden die Schritte.

Zurück blieb Einsamkeit.

Tränen.

Und das Gefühl unendlicher Demütigung.

Leise schob sie die Bettdecke zurück und erhob sich. Der Boden war kalt unter ihren Füßen und sie fröstelte. Unsicher stand sie da.

Ich muss zu David. Ihn in den Arm nehmen, ihm vorlügen, alles wird gut werden. Seine Tränen werden mein Nachthemd durchnässen und ich werde mich schämen.

Doch Mary wagte es nicht, die Tür in ihrem Kopf aufzustoßen. Nicht mehr. Sie zählte von sieben rückwärts, damit die Angst sie nicht überrollen würde. Das würde sie nicht mehr zulassen. Sie würde …

Mary zählte.

Sieben.

Sechs.

In ihr stiegen weitere Erinnerungen hoch. Erinnerungen daran, auf einem knarzenden, ächzenden Schiff zu sein. Ein Schiff, das ihr Angst machte und …

Fünf.

… aber auch Geborgenheit verhieß. Geborgenheit? Kurz hielt Mary inne. Nein – da kamen nur Bilder …

Ich stehe an der Tür, wage nicht, sie zu öffnen und hinauszuhuschen. ER ist irgendwo da draußen, geht auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. ER wird mich hören und dann.

Wird er zu mir kommen. Seinen alkoholschweren Atem über mein Gesicht wehen.

Mit Fragen wie:

»Hast du Papa lieb?«

Mary wand sich, nahm mehr wahr, wo sie sich befand. Hörte nur von fern die beiden Stimmen von Jeb und Jenna neben sich.

Hast du Papa lieb?

Der Anfang klingt richtig, aber das letzte Wort gehört nicht in diesen Satz.

Hasst du Papa?

Das war die Wahrheit. Die einzige. Vier. Drei.

Ich hasse dich. Ich wünsche dir die Wahrheit in den Augen der anderen, wenn sie dich ansehen, wissend, was du getan hast.

Aber das wird nicht geschehen.

Ich bin in einer anderen Welt.

Zwei.

Kämpfe um mein Überleben.

Aber irgendwie bist du ins Labyrinth geraten.

Zu mir.

Und jetzt wird deine kleine Mary dich finden.

Eins.

Jeb beobachtete Mary, die sich im Bug des Bootes hingesetzt hatte. Sie hatte gesagt, sie müsse nachdenken, und sich seitdem geweigert, von den Rationen zu essen. Nur eine kleine Flasche Wasser hatte sie getrunken.

Jenna und er hatten anfangs noch versucht, mit ihr zu reden, immerhin bestand die Möglichkeit, dass die Namensgleichheit ein Zufall war, aber Mary blieb stumm. Mit ausdruckslosem Gesicht und leerem Blick starrte sie schweigend vor sich hin.

Nachdenklich kaute Jeb auf einem Hartkeks herum. Neben ihm saß Jenna und schmierte sich das Gesicht mit der gefundenen Sonnenschutzcreme ein. Eine dicke weiße Schicht war auf ihrer Haut, die sie mit den Fingern verteilte.

Es ist, als hätte jemand dieses Boot für uns bereitgestellt und an alles gedacht, was wir brauchen.

Das Ruderboot schaukelte im Wasser. Um sie herum gab es keine Orientierungspunkte und so ließ sich schwer feststellen, ob sie sich überhaupt bewegten. Jeb schluckte den letzten Bissen Keks hinunter, dann wandte er sich an Jenna. »Was machen wir mit ihr?«

Jenna hielt inne. »Sie braucht Zeit, dann wird sie sich erinnern – vielleicht wissen wir dann mehr über diese Welt.«

»Sie hat nicht mal was gegessen.«

Jeb erntete einen kalten Blick von Jenna. »Verstehst du das etwa nicht?«

Der harte Ton in ihrer Stimme verwunderte ihn. Natürlich verstand er. Léon war tot und der Schock über die Entdeckung ihres Namens auf dem Boot hatte sie verstummen lassen, aber es gab doch Hoffnung. Oder? Sie hatten Vorräte, Wasser, Medizin, sie konnten eine Weile durchhalten. Vielleicht würde irgendwann ein Schiff am Horizont auftauchen und sie retten.

Die anderen sind gestorben, aber wir sind noch da. Wir haben es verdient zu leben.

Und dennoch war da der harte Klang in Jennas Stimme. Auch sie hatte sich verändert. Das Labyrinth hatte sie verändert. Jeb sah den bitteren Zug um ihre Mundwinkel, aber wie konnte es auch anders sein. All die Strapazen, die Ängste gruben sich in das Innerste ein, brachten Verborgenes zum Vorschein.

Bald würde sich der glühende Tag dem Ende neigen und die Sonne langsam am Horizont im Meer versinken. Jeb hoffte, dass die Nacht ihnen wieder den Stern zeigen würde, dann konnte ihre Reise weitergehen.

Immer dem Stern entgegen.

Jeb blickte Mary an. Die Arme um die Beine geschlungen, so klein zusammengerollt, als wolle sie sich vor der Welt verstecken. Sein Herz brannte, denn es gab nichts, was er für sie tun konnte.

León war tot.

Der letzte Satz war so schlicht und so wahr, dass er ihn fast überwältigte. León war tot. Nichts konnte etwas daran ändern. Er würde ihm nie wieder gegenüberstehen, seine Wildheit und seinen durch nichts zu erschütternden Kampfeswillen bewundern.

Compadre, du warst mein Gegner, aber auch mein Freund. Du hast mir immer die Hoffnung gegeben, dass es sich lohnt zu kämpfen, dass Aufgeben keine Option ist. Nun bin ich allein mit Jenna und Mary und weiß nicht, was ich tun soll.

Jenna soll leben. Heimkehren. Aber Mary hat es ebenso verdient. Sie ist so tapfer.

Doch Mary war nun innerlich zerbrochen. Alle Lebenskraft schien sie verlassen zu haben, so als wäre sie bereit zu sterben.

Kann ich damit leben? Kann ich Mary opfern, damit Jenna das letzte Tor erreicht? Wie sollen wir mit all dem nur fertigwerden? Jenna? Macht es nach all dem überhaupt Sinn, in die eigene Welt zurückzukehren, wenn so viele andere dafür draufgegangen sind?

Jeb wand sich aus seinen Gedanken. So weit wollte er noch nicht denken. Nur bis zur nächsten Stunde des Überlebens und zur nächsten. Was danach kam, würde sich entscheiden.

Neben ihm saß Jenna und starrte aufs Meer hinaus. Die Oberfläche glänzte und funkelte im Sonnenlicht, alles schien so unendlich friedlich zu sein. Die Stille war einzigartig.

Jeb dachte über das nach, über die Bruchstücke, die er mittlerweile von seinem Leben erfahren hatte. Über die Bilder, die er im weißen Labyrinth gesehen hatte.

Seinen Vater.

Seine Mutter.

Ihren Tod.

Danach nichts mehr. Nur noch vollkommene Schwärze. Als ob er aus diesem Nichts in seinem Kopf bestehen würde.

Wie bin ich hierhergekommen?

Die Fragen quälten ihn. Sein Kopf schmerzte im unbarmherzigen Licht der Sonne, die auf seine Schädeldecke brannte, so als versuche, sie einen Weg in seine Gedanken zu finden. Licht ins Dunkel.

Licht ins vollkommene Nichts.

Jeb zog sein T-Shirt aus, tauchte es ins Wasser und band es sich wie einen Turban um. Er spürte, dass Jenna ihn beobachtet und lächelte ihr zu. Er nahm ihre Hand. Sie sollte spüren, dass sie diese eine große Gewissheit war, die er noch hatte. Er liebte sie. Er würde sie retten um jeden Preis.

Jenna nickte mit einem zaghaften Lächeln, schwieg aber.

Auch sie braucht Zeit für ihre Gedanken. Still und endlos treiben sie dahin, wie der Ozean, der sich um uns herum ausbreitet.

Jeb atmete auf. Sein Turban brachte etwas Kühlung und die Schmerzen in seinem Schädel ließen nach. Er wurde schläfrig.

Jeb wusste nicht, wie lange er gedöst hatte, aber als er die Augen aufschlug, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass das Boot leicht schaukelte. Er blickte sich um, in alle Richtungen.

Das Meer lag ruhig vor ihm, keine Welle kräuselte seine Oberfläche und es gab auch keinen Wind, der über ihn hinwegstrich.

Und dennoch bewegte sich das Boot.

Seltsam.

Dann durchzuckte ihn ein Gedanke: Etwas unter ihnen hatte es ins Wanken gebracht.

Und plötzlich verstand Jeb.

Der Hai. Er war zurückgekehrt, zog seine Bahn unterhalb des Bootes.

So nahe, dass das Rettungsboot zu schaukeln begann.

Der Hai spürt, dass es hier etwas zu holen gibt. Wird er angreifen? Greifen Haie Boote an?

Jeb wusste es nicht, was nicht gerade dazu führte, dass er ruhiger wurde. Er spürte, dass sein Puls sich beschleunigte. Dieser neue Gegner war genauso unbarmherzig und er kannte keine Angst. Im Wasser, seinem Element, war er der ultimative Jäger.

Alles, was wir tun können, ist, uns ruhig zu verhalten.

Fünf Minuten vergingen, dann schwappte eine kleine Welle gegen das Boot. Ein dunkler Schatten schwamm unter dem Kiel hindurch und verschwand wieder in der Tiefe.

Verdammt! Das war nahe.

Sein Blick huschte zu Mary hinüber, die offensichtlich eingeschlafen war. Jenna hatte sich nach vorn gebeugt, die Hände im Nacken gefaltet. Ihre Augen waren geschlossen.

»Jenna«, raunte er leise.

Sie drehte den Kopf. Ihre blonden Haare glänzten im Sonnenlicht, aber sie selbst machte einen erschöpften Eindruck.

»Was ist?«, flüsterte sie.

»Der Hai ist wieder da.«

Jeb sah, wie sich Jennas Körper anspannte. Sie saß stocksteif da, wie versteinert, mit eingefrorenen Gesichtszügen.

Ihre Lippen bebten, als sie sagte: »Ich … ich habe Angst, Jeb.«

»Ja, ich weiß.«

Er konnte jetzt nicht aufstehen oder zu ihr rutschen, dadurch käme das ganze Boot ins Schaukeln. Mary würde vielleicht aufwachen, erschrecken und etwas Dummes tun. Nein, er musste bleiben, wo er war. Die Nerven behalten.

»Wo ist er?«, fragte Jenna.

»Zieht unter uns seine Kreise. Ich will nicht nachsehen, die Bewegung des Bootes könnte ihn neugierig machen.«

»Was tun wir jetzt? Warten?«

Jenna suchte das Bootsinnere ab, er wusste, was sie suchte: Paddel. Aber da war nichts.

Sie waren dem Ozean und seinen Launen, seinen Bewohnern und den Bewegungen der Wellen ausgeliefert. Da kam Jeb eine Idee. Vielleicht war es der blanke Wahnsinn. Vielleicht ging die Sache sogar buchstäblich nach hinten los, Jeb kannte sich da nicht so genau aus. Aber es war zumindest eine Möglichkeit, etwas anderes zu unternehmen, als bloß zu warten. »Ich brauche die Leuchtpistole.«

Jenna runzelte die Stirn. »Es ist heller Tag, wozu …«

»Vielleicht kann ich ihn abschrecken«, unterbrach sie Jeb.

»Blödsinn.«

Eine andere Möglichkeit haben wir aber nicht, dachte Jeb, sagte jedoch nichts dazu. »Gib sie mir.«

Jenna drehte sich vorsichtig um, öffnete die Klappe zu den Vorräten und zog die Leuchtpistole heraus, die sie Jeb reichte.

Jeb betrachtete den Gegenstand. Die Pistole war klobig und sah aus wie eine antike Waffe aus einem alten Westernfilm.

»Weißt du, wie das Ding funktioniert?«, fragte Jenna.

Er hatte keine Ahnung, aber so schwierig konnte es ja nicht sein. »Ich denke schon.«

Er klappte die Pistole auf. Eine dicke Patrone lag darin. Gut. Dann hob er die unhandliche Waffe an und zielte zur Probe. Das Ding war dafür gedacht, eine Leuchtpatrone direkt in den Himmel zu jagen, für gezieltes Schießen war es nicht geeignet, aber Jeb wusste, er musste den Hai sowieso nahe ans Boot heranlassen, bevor er die Pistole benutzen konnte. Immerhin hatte so eine Leuchtpistole eine große Reichweite, wenn man sie abschoss. Das hieß, sie besaß eine enorme Wucht. Er erwartete, dass die Patrone auf einer kurzen Strecke stark genug war, dass sie das Wasser durchstieß. Jeb hoffte, dass das Geschoss den Hai für einen Moment erschreckte und blendete, bevor die Patrone im Wasser erlosch. So viel zur Theorie. Wenn die Sache nicht funktionierte, waren sie dem Hai ausgeliefert. Mit einem Paddel hätten sie nicht nur rudern, sondern auch nach dem Vieh schlagen können. Er seufzte.

»Oh Mann, dass klappt niemals«, raunte Jenna.

»Wir müssen es versuchen.«

Jeb richtete sich auf und sondierte die Umgebung.

Das Meer lag wie ein Spiegel vor ihm.

Keine Bewegung auszumachen.

Minuten vergingen. Seine Augen begannen zu brennen. Wenn er noch weiter auf die funkelnde Oberfläche starrte, würde er blind werden.

Er wollte sich gerade abwenden, als er in etwa fünfzig Metern Entfernung eine dreieckige Flosse auftauchen sah. Der Hai war an die Oberfläche gestiegen. Langsam schwamm er auf das Boot zu. Unter der Flosse war sein mächtiger Körper nur zu erahnen, aber Jeb spürte die urtümliche Kraft dieses Tieres. Fast gemächlich hielt es auf das Boot zu, dann, zehn Meter vor dem Boot, tauchte der Hai unter dem Kiel durch.

Wieder schwappte eine kleine Welle gegen die Bordwand, aber ansonsten geschah nichts. Jeb stieß den angehaltenen Atem aus.

Neben ihm stöhnte Jenna auf. »Ich halte das nicht aus, Jeb.« Ihre Stimme zitterte. »Ich habe eine solche Angst. Erst das Wasser und jetzt das. Ich halte es nicht aus.«

»Psst. Versuch, dich zusammenzureißen, bitte«, beschwor er sie eindringlich. »Noch kann alles gut werden.«

»Was wird gut?«, erklang da eine Stimme in seinem Rücken. Mary war aufgewacht. Jeb drehte sich nach ihr um.

Er versuchte gar nicht erst, sie anzulügen. »Der Hai ist zurückgekommen. Er umkreist das Boot.«

Die ohnehin schon blasse Mary wurde noch weißer im Gesicht. »Meinst du, er greift uns an?«

Jeb zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber ich bin vorbereitet.« Er schwenkte die Leuchtpistole, damit Mary sie sehen konnte.

»Damit willst du ihn vertreiben?«, fragte das dunkelhaarige Mädchen.

»Es ist alles, was wir haben.«

Jeb wollte sich gerade wieder in Stellung bringen, als das Rettungsboot von einem heftigen Stoß erschüttert wurde. Die linke Seite hob sich fast einen Meter aus dem Wasser. Mary wurde nach hinten geworfen, Jeb hart auf die Knie geschleudert. Noch während er fiel, sah er, wie sich ein gigantischer Rachen mit mehreren Reihen rasiermesserscharfen Zähne öffnete und in die nach unten sackende Bordwand biss. Jeb sah für einen Moment einen riesigen Schlund und weiße Zacken, direkt vor sich, ein starres, kaltes Auge blickte ihn an. Das Auge eines Jägers, der seine Beute fest ins Visier genommen hatte.

Für einen Moment schien es so, als könne der Hai wirklich zubeißen, aber dann rutschte er mit dem Oberkiefer vom Bugrand ab.

Prompt wurde das Boot in die andere Richtung geschleudert und warf seine Insassen unkontrolliert von einer Bordwand zur anderen. Es drohte zu kentern. Mary schrie gellend auf. Von Jenna hörte Jeb nichts. Er richtete sich mit wackelnden Knien auf, versuchte, das Boot stehend wieder einigermaßen auszubalancieren, zog den Hahn der Leuchtpistole zurück und machte sich bereit, auf den Hai zu feuern. Doch das Tier hatte sich wieder in die Tiefe des Meeres zurückgezogen.

Der Hai war enorm gewesen. Riesenhaft, übernatürlich groß. Jebs Blick streifte die Bordwand, die der Hai fast zu packen bekommen hatte – dort waren mehrere tiefe Kerben im Hartplastik, wie mit messerscharfen Klingen geritzt.

Jeb bemühte sich, die Spuren des Angriffs mit seinem Körper zu verdecken, während er das Wasser rund um das Boot absuchte. »Alles in Ordnung?«, fragte er nach hinten.

Noch bevor eine Antwort kam, spürte Jeb es. Von einer schrecklichen Gewissheit erfüllt, warf er sich herum und brachte das Boot damit gefährlich zum Schaukeln.

Der Platz neben ihm – leer.

Jenna war über Bord gegangen.

Jeb brüllte auf. Schrie nach Jenna. Dann sah er sie. Nur wenige Meter entfernt durchstieß ihr Kopf die Oberfläche. Sie prustete Wasser aus, hustete.

Sein Blick jagte herum.

Da! Die dreieckige Flosse tauchte wieder auf. Offensichtlich war der Haifisch auf Jenna aufmerksam geworden.

Der Raubfisch spürte, dass etwas Lebendiges im Wasser war. Er wendete, schwamm aber nicht direkt auf das Boot zu, sondern zog einen großen Kreis darum, hielt lauernd auf seine wehrlose Beute zu.

»Jenna!«, rief Mary.

Jeb hingegen brachte kein Wort heraus. Jenna wandte sich ihm zu. Nur vier Meter trennten sie vom Boot.

Jenna wusste, dass sie in Gefahr war. Keine Frage, in ihrem Gesicht stand die nackte Angst. Sie wirbelte im Wasser um die eigene Achse, versuchte, den Hai auszumachen. Dann schien sie ihn entdeckt zu haben. Sie hielt sich stocksteif und still im Wasser. Sie sagte kein Wort, schrie nicht.

Langsam, als ob er wüsste, dass ihm nichts auf der Welt diese Beute würde streitig machen können, kam der Hai näher.

Jeb erwachte aus seiner Starre und blickte auf die Leuchtpistole in seiner Hand. Sein Kopf war wie leer gefegt.

Was tun? Auf den Hai schießen?

Es konnte sein, dass er ihn verfehlte und stattdessen Jenna traf.

Ins Wasser springen?

Bis er bei Jenna war, würde es schon zu spät sein.

Den Hai irgendwie ablenken?

Unmöglich, das Biest hatte sein Opfer fixiert. Da kam Jeb eine Idee, eine Idee, die ihm das Blut in den Adern erfrieren ließ, aber es war das Einzige, das ihm in diesem Moment einfiel.

»Jenna!«, brüllte er. »Schwimm zu uns!«

Jeb richtete sich zu voller Größe auf, brachte das Boot dadurch erneut ins Schwanken, aber davon ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Er blendete alles um sich herum aus, hörte nicht mehr Marys Rufe und Jennas Keuchen, während sie begann zu schwimmen.

Vollkommen auf den Hai fokussiert, riss Jeb die Leuchtpistole hoch und zielte. Er musste schießen, das Risiko, Jenna zu treffen, dabei eingehen.

Und dann spürte er es. Eine unbändige Klarheit erfüllte ihn. Er würde nicht danebenschießen. Er würde treffen.

Der Hai war groß. Er bot daher eine enorme Zielscheibe. Die Chance, dem Tier bei seinem ersten Angriff in den Schlund zu schießen, hatte Jeb verpasst.

Die nächste Gelegenheit würde er nutzen und der Schuss musste sicher treffen, sonst waren sie dem Hai endgültig schutzlos ausgeliefert und ihr Kampf im Labyrinth hätte an dieser Stelle ein völlig sinnloses Ende gefunden. Jeb blickte in den Himmel hinauf.

Sein Atem wurde ruhig.

Die Hände zitterten nicht mehr.

Jenna hatte das Boot erreicht, das sah er aus den Augenwinkeln. Jeb flehte stumm darum, dass sie nicht ans Boot fasste und es ins Schwanken brachte. Er konnte nicht zu ihr schauen, musste sich auf den Hai konzentrieren, der nur noch wenige Meter entfernt war. Jeb hoffte, dass Jenna instinktiv verstand, was er vorhatte. Für einen kurzen Moment, so hoffte er, würde sie die Beute abgeben. Den Köder.

Der Hai mit seinem mächtigen Körper durchschnitt die Wasseroberfläche. Er hatte es nicht eilig und schwamm langsam auf das Boot zu.

Er näherte sich auf drei Meter.

Der schwarze Rücken des Tieres und die messerscharf aussehende Rückenflosse wurden wie an einem unsichtbaren Faden auf das Boot zu gezogen.

Auf Jenna zu.

Der Hai machte Anstalten, aufzutauchen und Jenna anzugreifen. Er war nur noch zwei Meter entfernt, da riss Jeb den Abzug durch. Das Geschoss jagte auf Flammen aus dem Lauf. Durchbrach die Oberfläche an der Stelle, an der gerade der Hai mit seiner spitzen Schnauze auftauchte, und bohrte sich tief in das grimmig starrende linke Auge des Tieres.

Der Hai warf sich herum, schnellte aus dem Wasser, seine glänzende Schwanzflosse peitschte direkt neben Jennas Kopf auf das Wasser. Sein Schlag verfehlte sie nur um Haaresbreite, dann krachte er zurück auf die Oberfläche, verschwand zuckend und eine rote Spur hinterlassend in der Tiefe.

Mit einem Mal herrschte unnatürliche Stille. Nur das Klatschen des aufgewühlten Wassers an der Bootswand war zu hören.

Jeb erwachte aus seiner Anspannung, als Jenna unter ihm aufschluchzte. Ihre Hände lagen nun an der Bordwand, sie bebten und vermochten kaum, Jenna über Wasser zu halten, so zittrig waren sie. Jeb warf die Leuchtpistole achtlos beiseite, bückte sich und fasste nach Jenna. Dann zog er sie aus dem Wasser und drückte sie an sich. Er hielt sie fest, während sie am ganzen Körper zitterte. Er nahm ihren Kopf in beide Hände und kämmte ihr mit den Fingern die nassen Haare aus dem Gesicht. Ihr Gesicht war nass vor Tränen und vom Meerwasser, sie schluchzte und bibberte. Und Jeb hielt sie. Hielt sie einfach nur fest, so fest er konnte. Er küsste sie immer und immer wieder überall, auf die Augen, an der Schläfe, am Mundwinkel, auf die Stirn. Jennas Gesicht schmeckte salzig, aber es war warm.

Lange sagte keiner von ihnen ein Wort, bis auch Mary zu ihnen kam. »Es ist alles gut«, flüsterte sie und streichelte Jenna über den Rücken.

Jenna schlotterte in Jebs Umarmung, aber es schien, als würde sie sich langsam beruhigen. Ihre Lippen öffneten sich, aber es kam kein Wort heraus. Jeb ahnte, was sie sagen wollte.

Er sprach das aus, was sie hören wollte. »Er ist weg und kommt nicht wieder.«

Da ließ ihre Körperspannung nach, sie sackte regelrecht in sich zusammen. Jeb hielt sie weiterhin fest und bettete sie sanft im Heck des Bootes.

Jenna war stumm. Mary setzte sich zu ihr und zog Jennas Kopf in ihren Schoß. Sie strich über Jennas Haar. Dazu summte sie leise ein Lied.

Und schließlich wurde Jennas Atem ruhiger.

Sie schlief ein.

Das Labyrinth ist ohne Gnade

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