Читать книгу Das Labyrinth ist ohne Gnade - Rainer Wekwerth - Страница 13

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6.


Wo war Jenna?

Mary lief hektisch über das Deck, rief ihren Namen, aber das blonde Mädchen blieb verschwunden. Hatte sich die spanisch aussehende Frau getäuscht und Jenna war Jeb in den Frachtraum gefolgt, also in die genau entgegengesetzte Richtung?

Ihr Blick schweifte umher. Die Nacht war nicht länger stockdunkel, das Schimmern am Horizont, ein aufflammendes Wetterleuchten, das von einem heftigen Gewitter warnte, sorgte dafür, dass sich Mary mühelos zurechtfand. Sie hielt sich im Schatten der Container, glitt an den Metallwänden entlang, damit sie vom Führungshaus aus niemand entdecken konnte. Ihre Rufe nach Jenna würde er nicht hören, dazu war sie zu weit weg.

Mary hatte inzwischen die Hälfte des Decks abgesucht und noch immer keine Spur von ihr. Wo war sie? Hatte sie sich vielleicht verletzt, war im Dunkeln gestolpert? Hier lagen Taue herum, und die Container standen nicht immer bündig, sodass man sich durchaus bei den engen Kurven stoßen konnte.

Wieder rief sie Jennas Namen.

Mary sah sich um. Ihr Blick wanderte nach oben und sie entdeckte den Stern. Da, endlich! Wahrscheinlich hatte sie ihn aus dem Boot heraus nicht sehen können, da sich der Containerfrachter zu hoch über ihnen aufgetürmt hatte. Aber jetzt war er da. Nicht weit entfernt, rechts von ihr, funkelte er am Himmel.

Für Mary war dies das verlässliche Zeichen, dass irgendwo dort zwei Tore auf die letzten Überlebenden warteten. Irgendwo dort lebte ein bisschen Hoffnung, aber nur für zwei von ihnen.

Mary spürte Tränen aufsteigen, zwang sie aber zurück. Sie musste Jenna finden. Und dann Jeb.

Immer größere Sorge breitete sich in ihr aus. Dieses Schiff war ein gefährlicher Ort und der Mann dort oben in der Steuerzentrale jemand, der zu allem fähig war. Hatte er etwas mit Jennas Verschwinden zu tun? Und war womöglich Jeb bereits zurückgekehrt und wartete im Aufenthaltsraum auf sie beide? Sprach er gerade mit der Spanierin?

Alles in ihr drängte danach zurückzugehen, insgeheim hoffend, dass Jenna ebenfalls dort war, aber sie durfte kein Risiko eingehen, musste erst das komplette Deck absuchen, Jenna konnte irgendwo hier sein.

»Jenna! Hörst du mich?«

Ein Blitz zuckte über den Himmel, hinterließ eine gleißende Spur am Horizont. Sie hatte direkt in das Licht geblickt und für einen Moment war Mary wie blind, aber schließlich nahm sie wieder die Konturen der Container wahr. Dann zerriss ein Donnerschlag die Stille. Der Schall überrollte sie und Mary hatte das Gefühl, die Vibration, die damit einherging, würde ihren ganzen Körper erschüttern. Sie atmete tief ein und wieder aus, schmeckte plötzlich den Metallgeschmack der Luft auf ihrer Zunge. Sie wandte sich um. In alle Richtungen. Ja, etwas hatte sich verändert. Wind war aufgekommen. Kühler Wind, der ihr jetzt ins Gesicht wehte.

Und Mary wusste, dass ein Sturm aufziehen würde.

Gebückt hastete sie weiter.

Jenna betrat das Deck und ein kräftiger Wind wehte ihr entgegen. Irgendwo klirrte eine Metallkette und der helle Ton ließ sie zusammenzucken. Rasch blickte sie sich um, konnte aber im ersten Moment niemanden ausmachen. Dann entdeckte sie den Stern. Links von ihr stand er am Himmel, als könne er alle Zeiten überdauern, ja, als gäbe es keine Zeit für ihn.

Jenna schnupperte in den Wind. Die Luft roch salzig, aber auch etwas metallisch. Blitze zuckten durch die Nacht. Noch war das Gewitter weit entfernt, aber Jenna konnte spüren, dass ein Sturm aufkam.

Gott sei Dank sind wir auf diesem großen Kahn. Im Ruderboot hätten wir keine Chance gehabt.

Plötzlich hatte sich etwas in ihrer Umgebung verändert. Ein Schatten bewegte sich, trat aus einem anderen Schatten heraus, um dann mit dem nächsten wieder zu verschmelzen. Sie vernahm leichtfüßige Schritte in einiger Entfernung von ihr.

»Mary!«

Jenna rief noch mal ihren Namen. Lauschte.

Ja, sie hörte etwas, aber es war keine Antwort auf ihren Ruf. Jemand sang. War das Mary?

Es klang wie ein altes Kinderlied, dessen Melodie Jenna kannte, aber der Text wollte ihr nicht einfallen.

»Mary!«

Wieder glitt ein Schatten über Deck. Vielleicht fünfzig Meter entfernt verschwand er um die Ecke eines Containers.

Was soll das? Wo will Mary hin?

Ein Verdacht keimte in Jenna auf, dass Mary zu ihrem Vater wollte. Warum sonst sollte sie im Dunkeln über das Deck schleichen? Mary hatte gelogen, es gab einen direkten Zugang zur Steuerzentrale und sie war auf dem Weg dorthin.

Jenna mochte sich nicht ausmalen, was passieren konnte, wenn Mary so leichtsinnig war und sich allein auf eine Konfrontation mit ihrem Vater einließ.

Sie will sich ihm stellen. Ihn herausfordern und vernichten.

Jenna schluckte, dann hastete sie los.

Vor ihr teilte sich das Deck in fahle und vollkommene Finsternis. Immer wenn ein Blitz am Himmel aufleuchtete, konnte sie sich orientieren. Gleichzeitig wurde sie jedes Mal geblendet und brauchte einen Moment, um wieder klar zu sehen.

Zwei Mal sah sie Marys Schatten oder das, was sie für ihren Schatten hielt. Sie bewegte sich ruhig und sicher auf dem Schiff. Es war nicht so, dass Mary schlich oder sich gebeugt hielt. Im Gegenteil. Jenna hatte das Gefühl, sie ging aufrecht mit wehenden Haaren über das Deck, so als wäre sie auf der Suche nach etwas.

Hier in der Dunkelheit war das blaue T-Shirt, das Mary trug, nur ein grauer Fleck. Kaum auszumachen. Es war der Schattenriss ihrer Figur, dem Jenna folgte, wenn er für einen kurzen Moment sichtbar war. Der Wind hatte weiter zugenommen, und obwohl Jenna angestrengt lauschte, hörte sie Mary nicht mehr.

Als ein weiterer Blitz durch die Nacht zuckte, sah sie Mary in zwanzig Meter Entfernung stehen. Das dunkelhaarige Mädchen hatte die Arme weit ausgebreitet, den Kopf in den Nacken gelegt und rief etwas, das Jenna nicht verstehen konnte, da der Wind die Worte sofort aufs Meer hinaustrug.

Moment. Wehende Haare … die Figur der Gestalt war schlanker, wirkte irgendwie nicht jugendlich.

Zögerlich machte Jenna einen Schritt nach vorn. Ihr Fuß glitt aus, sie kam ins Stolpern, fiel aber nicht. Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, stand Mary noch an derselben Stelle, doch sie hatte sich umgewandt, blickte nun in ihre Richtung. Ihr Gesicht lag dabei im Schatten, aber nun sah Jenna es: Das war nicht Mary.

Diese Gestalt war größer und sie hatte auch kein blaues T-Shirt an. Nein, diese Person war in ein Nachthemd gekleidet, wie man es in Krankenhäusern trug. Wie ein Gewand aus alter Zeit flatterte es im Wind, verschmolz mit den glatten, langen schwarzen Haaren in einer Bewegung.

Jenna wollte etwas rufen.

Sie streckte die Hand nach der Gestalt aus.

Dann verspürte sie plötzlich einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf und glitt zu Boden. Ins Nichts.

Jeb hatte die Sturmlampe in seinen Hosenbund gesteckt und der Lichtstrahl begleitete ihn, während er langsam die Metallsprossen hinabstieg. Er lauschte angestrengt in die Dunkelheit unter sich, aber er hatte den Laut nicht noch einmal gehört.

Obwohl es nicht mehr als sieben Meter waren, die er überwinden musste, kam ihm der Abstieg unendlich lang vor. Die Sprossen lagen eng beieinander, sodass er sich höllisch konzentrieren musste, um nicht abzustürzen. Je weiter er nach unten kam, desto stickiger wurde die Luft. Sie legte sich auf seine Bronchien, presste die Lunge zusammen. Es fühlte sich an wie ein aufkommender Panikanfall, einer von der Sorte, die Jeb zu fürchten gelernt hatte. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, lief ihm den Hals hinab und den Rücken hinunter. Seine Hände waren feucht, glitten rutschend über die Sprossen, aber den Halt verlor er nicht. Mit einem tiefen Atemzug erreichte er den Boden des Frachtraums. Die Beine leicht gespreizt, stand er in der riesigen Halle und ihn durchströmte ein Gefühl der Erleichterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Jeb ließ den Strahl der Sturmlampe umherwandern, aber dieser reichte kaum zu den umliegenden Stahlwänden und verlor sich in der Dunkelheit.

Hier unten war nichts. Keine Fracht, alles leer wie im Maschinenraum. Jeb machte einen Schritt nach vorn. Seine Füße wirbelten Staub auf und er musste husten. Seine Nase juckte. Mit einem lauten Niesen wurde er das Kribbeln los.

Er sondierte den Raum, auf der Suche nach der Tür, die ihn hoch zur Brücke bringen würde. Links und rechts war nichts als nackter Stahl, vor und hinter ihm Leere. Seinem Gefühl nach musste er nach rechts, dort wo seiner Meinung nach das Heck lag und der Aufgang zum Führungshaus liegen musste.

Er dachte kurz an Jenna und Mary. Er würde ihnen nicht erzählen, dass es nur leere Räume waren, die er durchquert hatte. Dass es keine Maschinen gab. Es würde sie nur in Unruhe versetzen.

Er musste weitergehen, den Mann in der Steuerzentrale aufsuchen und erfahren, worum es hier auf diesem Schiff eigentlich ging. Für Mary, aber auch für Jenna und ihn. Das Labyrinth war hart, grausam, aber es gab immer einen Weg, weiterzukommen, die nächste Welt zu erreichen. So würde es auch diesmal sein. Musste es sein.

Jeb erinnerte sich, dass er nicht mal auf dem Rettungsboot den Stern gesehen hatte. Es gab hier unten keinerlei Zeichen dafür, ob es irgendwo zwei rettende Tore gab … er würde weitersuchen müssen. Wenn es geschafft war, dann würde er den beiden Mädchen die Tore überlassen. Mary sollte nicht zurückbleiben und Jenna neben Mary eine faire Chance auf das letzte Tor haben.

Aber zunächst einmal musste er weiter. Jeb leckte sich über die trockenen Lippen. Der Staub hatte sich auf seine Zunge gelegt, die sich inzwischen wie ein Stück Holz anfühlte. Er hatte einen unbändigen Durst.

Er war noch keine fünf Meter weit gegangen und schon fühlte sich sein Mund wie eine Sandgrube an. Verwundert blieb er stehen und leuchtete auf den Boden zu seinen Füßen.

Der Staub lag wie ein grauer Teppich auf dem Stahlboden. Kleine Wolken stoben auf, sobald er sich bewegte. Wieder kitzelte es in seiner Nase.

Sein Blick fiel auf einen kleinen Stein, der neben seinem rechten Schuh lag. Jeb bückte sich und hob ihn auf. Im Licht der Lampe drehte er ihn hin und her. Unter seinen Fingern zerbröselte er.

Das war kein Stein. Dazu war er viel zu porös.

Was ist das?

Er ging in die Knie. Erst jetzt entdeckte er, dass zwischen all dem Staub unzählige dieser Steine in allen möglichen Formen lagen. Alle waren sie klein, kaum daumennagelgroß und von einer Konsistenz, die ihn an gebackenes Mehl erinnerte. Erneut zerrieb er einen kleinen Stein. Dann roch er an seinen Fingern. Er kannte diesen Geruch.

Er hatte mit seinem Großvater die heiligen Stätten besucht und dort die alten Rituale miterlebt.

Das waren keine Steine.

Das war Knochenstaub.

Das Labyrinth ist ohne Gnade

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