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Zum Appetitmachen in die Kellerbar
ОглавлениеFür das Bild war auf Dauer beim besten Willen keine Wand mehr frei. Sie bemühte sich, es zu verkaufen, bekam aber nur Absagen: Das im Krieg zerstörte Leipziger Bildermuseum hatte damals weder Räume noch Geld. Kunstliebhaber stellten sich in den Hungerjahren auf das Sammeln von Kartoffeln um. Selbst der große Heinz Rühmann nahm bei seinen Auftritten im Leipziger Raum nur Honorare in beißbarer Form. Private Makart-Liebhaber, sollte es die in Leipzig gegeben haben, kannte meine Mutter nicht. In der Familie hob man vor dem ölreichen Riesenschinken mangels Platz und Kunstverstand abwehrend die Hand. So war sie froh, dass sich der Wirt des Leipziger Nachtlokals »Cottbusser Postkutsche«, den sie zufällig beim Zeitungskauf kennen gelernt hatte, spontan zu einer Besichtigung vor Ort bereit fand. Nach dem dritten Boonekamp – er hatte schwer gegessen und irgendwelche Verdauungsprobleme – schob er schließlich seinen kalten Zigarrenstummel vom linken in den rechten Mundwinkel und begann zu nicken. Ja, so etwas könne er sich für seine Kellerbar am Brühl als »Appetitmacher« schon vorstellen, meinte er mit der praktischen Philosophie des neureichen Kunstbanausen. Er bot ihr wohl 100 oder 200 Mark, auf den Pfennig genau hat sie uns das nicht berichtet, und das Bild verschwand in der »Postkutsche«.
Die Bar segnete lange vor der DDR das Zeitliche. Nur ältere Leipziger, die unter den verführerischen Meerjungfern und ihren vollen Busen und Netzen vielleicht einst den ersten Kuss tauschten, mögen sich noch an die Nachtlokalzeit des »Fischzugs« erinnern. Ich sah das Bild nie wieder.
Bis ich eben im Orsay-Museum völlig unerwartet dem Original gegenüber stand. Cousine Ruth, die Zeugin der aufregenden Wiederentdeckung war, sich sehr für die dramatische und teilweise rätselhafte Geschichte interessierte und im Gegensatz zu mir mit französischer Korrespondenz in Kunstangelegenheiten keine Mühe hatte, schrieb einen Brief an Museumsdirektor Henri Loyrette. Der Conservateur Général antwortete postwendend. So erfuhr ich vom wechselhaften Schicksal der beiden »Abundantia«-Gemälde, die 1870 als erstes wichtiges Auftragswerk Makarts entstanden waren, aber niemals, wie vom Auftraggeber eigentlich vorgesehen, im Speisesalon des neu erbauten Palais Hoyos in Wien aufgehängt wurden. Die Gründe sind unklar, Makart-Forscher Gerbert Frodl vermutet, es sei zu einem Streit zwischen dem Maler und seinem Kunden gekommen. Schon 1871 ging das Bilderpaar auf »Wanderschaft« durch verschiedene Galerien, war einige Zeit auch im Besitz des Berliner Bankiers Blumenthal und landete 1889 in der Neuen Pinakothek in München.
Warum Lewins vom Verschwinden des Originals ausge-gangen waren, erhellte der weitere »Lebenslauf« der Gemälde: Adolf Hitler hatte »Die Gaben der Erde« und »Die Gaben des Meeres« nach einem Besuch der Pinakothek ganz begeistert für sein persönliches Museum ausgewählt, das nach dem »Endsieg« in Linz entstehen sollte. Deshalb hatten die Nazis die Bilder rechtzeitig in einem Depot im Salzkammergut »in Sicherheit« gebracht und Nachrichtensperre über sie verhängt. 1951 wurde das Gemäldepaar vom »Collecting Point« München nach Frankreich transportiert und 1973 an den Louvre verkauft. Seit 1986 hängt es im Orsay-Museum. Wie schlecht das Geschäft war, das meine Mutter gemacht hatte, geht aus einer dem Schreiben beigelegten Anzeige von Sotheby’s London vom Juni 1997 hervor, wo eine Version der »Gaben der Erde« für 45 000 bis 55 000 Pfund zum Verkauf angeboten wird.
Weitere Recherchen und vor allem Informationen der Leipziger Judaistin Ellen Bertram, die in ihrem Buch »Menschen ohne Grabstein« zu finden sind, ermöglichten es mir, dieses Erlebnis in »Ich habe alles doppelt gesehen« noch einmal aufzugreifen und um einige Fakten anzureichern. Eine mir wichtige Passage daraus möchte ich hier zitieren: Aber eigentlich wusste ich so gut wie nichts von den Bildersammlern Lewin, die wir an jenem Abend zum letzten Male sahen. Meine schwachen Erinnerungen beschränkten sich auf die so reich bebilderte Wohnung, die Freundlichkeit und das grenzenlos scheinende Fachwissen der alten Leute, auf den nächtlichen Heimweg mit den großen Gegenständen und auf das Entsetzen, als wir bald darauf erfuhren, dass sich die Ehepartner und die Schwester der Frau kurz nach unserem Besuch mit Schlaftabletten das Leben genommen hatten. Ich vermochte mich weder an das Datum, noch an die genaue Adresse, noch an das Lager zu erinnern, in das sie kommen sollten, von anderen interessanten Fragen ganz abgesehen, die mir bis heute unklar sind: Warum haben sie gerade bei meiner Mutter angerufen, wie verwandt waren sie mit den Bornsteins, wie sind sie zu den Bildern gekommen? Sie wussten natürlich noch nichts über das von Albert Speer nach Hitlers Plänen entworfene gigantische »Führermuseum«. Erst im April 1943 wurde darüber in der Zeitschrift »Kunst dem Volk« offiziell berichtet. Aber kannten sie vielleicht zufällig Dr. Gottfried Reimer aus Döbeln, einen der Chefbeschaffer für Linz, oder was ist sonst aus ihrer gewiss bedeutenden Sammlung geworden?
Aus dem Verzeichnis in »Menschen ohne Grabstein« konnte ich nun immerhin entnehmen, dass es sich um das Ehepaar Käthi und Fedor Lewin handelte, er am 17.6.1868 in Zibelle (Schlesien), sie am 1.11.1878 in Hannover als Tochter des Ehepaars Isenstein geboren. Käthi Lewin starb am 3.9.1942, Fedor zwei Tage später im Israelitischen Krankenhaus Leipzig. Sie hatten den Freitod gewählt, nachdem sie die Mitteilung über ihre Deportation nach Theresienstadt erhielten. Ellen Bertram ergänzte per E-Mail: »Mit großem Interesse habe ich in Ihrem Buch die Hinweise zur Kunstsammlung von Fedor Lewin gelesen. Es ist das einzige, was es dazu gibt bzw. was ich gefunden habe. Vor Jahren war mal ein junger Mann auf der Suche danach, ich habe aber nie wieder etwas von ihm gehört. Fedor Lewin hat schon vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Leipzig gelebt. Er war Inhaber der Firma Max Löwenberg & Co., Großhandel mit Damenbekleidung, der Firma Franz Wulf Nachf., Kleiderstoffgroßhandlung, und der Firma Schottländer & Co., Kleiderstoffgroßhandlung.«
Welchen Nutzen haben diese Details, die an der Geschichte im Prinzip nichts ändern? Nun, erstens verifizieren und konkretisieren sie das allein aus dem Gedächtnis Erzählte, zweitens korrigieren sie ein paar offensichtliche Irrtümer, drittens könnten sie dazu beitragen, dass sich der eine oder andere Nachkomme von Zeugen meldet und die noch offenen Fragen beantworten hilft. Den Verbleib der Lewinschen Sammlung zu klären, hieße ja wahrscheinlich nicht zuletzt, nazistischen Millionendieben auf die Spur zu kommen. Die Arbeit Ellen Bertrams und aller anderen, die sich die Erforschung jüdischer Schicksale zur Lebensaufgabe gemacht haben, hat also, wie dieses Beispiel zeigt, nicht nur rein moralische und wissenschaftliche, sondern auch ganz praktische Bedeutung und verdient umso mehr Lob und Anerkennung.