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Opa Max, der Kapitalist,
und Hoelz Max, der Anarchist Vom Kaufmann in Lissa zum ersten Juden in Falkenstein / Vogtland
ОглавлениеAn einem sonnigen Sommernachmittag des Jahres 1886 saß in einem kleinen jüdischen Café der damals preußischen Stadt Lissa (Provinz Posen) der 23-jährige Kaufmann Max Bornstein mit einem guten Freund zusammen, der gerade von einer längeren Reise quer durch Sachsen zurückgekommen war. Er erzählte sehr bildhaft und immer wieder die Sätze mit einer oder gar zwei fast malenden Handbewegungen unterstreichend von Leipzig, dem aufblühenden »Klein Paris«, das vor allem zu Messezeiten wie ein Magnet Handelsleute aus allen Kontinenten anziehe, vom Elbtal und der unvergleichlichen Silhouette der königlichen Metropole Dresden. Aber Max Bornstein spielte ein wenig ungeduldig mit dem Kaffeelöffel. Er wollte etwas anderes hören. Das kam doch alles für ihn als Startpunkt einer neuen Existenz nicht in Frage, da brauchte man viel Geld, gute Beziehungen, den kaltschnäuzigen Geschäftssinn eines Shylock und Erfahrungen im Umgang mit Gaunern und Kuponabschneidern. All das hatte er nicht. Umso mehr horchte er auf, als der Freund zum vorletzten Teil der Reise kam und von einem herrlichen Flecken Erde im Grenzgebiet zwischen Sachsen, Bayern und Thüringen schwärmte, gebirgig, dennoch nicht schroff, mit vielen kleinen Siedlungen, aber noch mehr Wäldern und Bergwiesen – dem Vogtland, von Menschen, die sich dem Fremden nicht leicht erschließen, die auch ihm aber immer freundlich begegneten, die geschickte Handwerker, musikalisch, fleißig und sparsam sind. In der einen oder anderen Kleinstadt habe er selbst gedacht, hier könnte man bleiben, ein Geschäft aufmachen und eine Familie gründen. Falkenstein zum Beispiel sei ein wahres Kleinod inmitten von Grün, um die 500 Meter hoch gelegen. Fast alle Häuser, erzählte er, sind nach einem Großbrand, der vor über 25 Jahren die halbe Stadt vernichtet hat, neu gebaut, deshalb erscheinen die Straßen wie auf einem Schachbrett schnurgerade und rechtwinklig, wenn auch meist nicht gepflastert und nach Regen rechte Schlammwüsten. Nach und nach kommt selbst das in Ordnung. Eine Stadt, die schnell wächst, ist dazu einfach gezwungen. Jetzt gibt es 5 000 Einwohner, aber spätestens 1900 sollen es doppelt so viel sein. Ein großes Kundenpotenzial für ein Geschäft mit zwei, drei Verkäuferinnen. Falkenstein blüht auf wie die Gardinenweberei und die Stickereiindustrie, die hier einen Platz gefunden haben. Das klang verlockend für meinen Großvater, den jungen Handelsmann, der auch mit Interesse vernahm, dass es in Falkenstein noch keine Juden gab.