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Jeder Jude wird in Falkenstein der erste sein
ОглавлениеFalkenstein, hörte er, hatte jahrhundertelang den Status einer »Freien Bergstadt«, in denen nach der Bergordnung von 1589 die Ansiedlung von Juden verboten war. Seit kurzer Zeit gäbe es kein Bergamt mehr. Man könne jetzt auch die großzügigere Gesetzgebung des Deutschen Reiches auf diesem Gebiet nutzen. Aber jeder Jude, der nun dorthin geht, wird der erste sein. Max Bornstein schreckte das nicht, im Gegenteil. Ortsansässige Juden waren überall die schärfste Konkurrenz für zugereiste jüdische Geschäftsleute. Einen gewissen zeitlichen Vorsprung zu haben, konnte nichts schaden. Er hatte es im Grunde nicht eilig, die preußische Provinz zu verlassen. In Lissa (dem heutigen polnischen Leszno) gab es eine angesehene jüdische Gemeinde. Unter den Rabbinern waren große Gelehrte, und sie hatten begabte Schüler.
Für ihn selbst war das Studium der Thora nicht allzu verlockend, er saß nicht gern stundenlang über dicken Büchern und mochten sie noch so weise sein.
Max Bornstein (Fotoatelier Ronneberger & Sohn Falkenstein)
Aber manchmal beneidete er die Knaben schon, die jünger als er waren und bereits ganze Abschnitte aus den fünf Büchern Moses auswendig aufsagen und sogar erklären konnten.
Er ahnte nicht, dass einer von ihnen, der 1873 in Lissa geborene Rabbinersohn Leo Baeck, einmal einer der größten jüdischen Religionsphilosophen, ein führender Vertreter des liberalen Judentums und der letzte große deutsche Rabbiner vor der Schoa werden sollte. Mancher Jude erwarb sich als Rechtsanwalt, als Arzt oder Handwerker einen herausgehobenen Platz in der von der Textilindustrie geprägten Provinz. Auch Max Bornstein hatte im Wartheland und in Schlesien als Angestellter in Konfektionsbetrieben stets sein Auskommen gehabt. Aber immer wieder bekamen die Juden zu spüren, dass sie als Menschen zweiter Klasse galten. In den Textilbetrieben wurden Hungerlöhne gezahlt, und viele Familien, die aus dem Osten zuzogen, fanden weder Arbeit noch Brot. Wenn ihn seine um drei Jahre ältere Braut Röschen Fabian manchmal ungeduldig fragte, ob es nicht endlich Zeit sei, unter die Chuppa (den auf vier Stangen stehenden jüdischen Hochzeitsbaldachin) zu gehen, glaubte Max Bornstein, sie und sich vertrösten zu müssen. Für ihn war die Voraussetzung, selbst ein Geschäft eröffnen zu können, auf eigenen Füßen zu stehen. Und dafür standen die Chancen hier ausgesprochen schlecht.
Warum also sollte man nicht nach Sachsen umziehen, es in einer Stadt wie Falkenstein versuchen? Er überlegte nicht lange. Mit einem Koffer und etwas Bargeld, das er gespart hatte, machte er sich auf die Reise. So wurde Max Bornstein 1886 der erste Jude in Falkenstein im Vogtland. Er war, obwohl eher ein Großstadtmensch, von dem, was er sah, begeistert und traf alle nötigen Vorbereitungen für die Eröffnung eines Konfektions- und Schuhgeschäftes in bester Lage in der Hauptstraße von Falkenstein. Gleichzeitig beschloss er, seine Großstadtambitionen, die ihn bis dahin mehr nach Breslau und Posen geführt hatten, auf Leipzig zu übertragen und dort später eine zweite Wohnung zu mieten. Noch einmal kehrte er im gleichen Jahr nach Lissa zurück, um seiner Braut, seinen Geschwistern und einigen seiner engsten Gefährten, mit denen er die Schulbank gedrückt und später die Bar Mitzwa gefeiert hatte, Bericht zu erstatten. Er muss das Vogtland in leuchtenden Farben geschildert haben, denn im Melderegister der nächsten Jahre tauchen mehrere jüdische Neuzugänge aus Lissa und Umgebung auf, darunter Röschen, mittlerweile Frau Bornstein, Schwester Rosa, Schwager Paul Lewin und sogar ein Kaufmannslehrling für die neu gegründete Firma Bornstein.
Meine Großeltern heirateten übrigens in Birnbaum, einer Kleinstadt westlich von Posen. Die Gründe für die Ortswahl haben mich nicht weiter beschäftigt, bis ich ein kleines Buch von Nils Busch-Petersen über den Lebensweg von Oscar Tietz las, der aus Birnbaum stammte und zum Warenhauskönig von Berlin wurde. Busch-Petersen bemerkt darin eher beiläufig, Birnbaum sei eine Art »Brutstätte« für große jüdische Handelsdynastien geworden. Außer der Familie Tietz nennt er u. a. die Joskes, die später in Leipzig und Berlin große Warenhäuser besaßen.
Ein Blick auf den Stammbaum, den ich aus Haifa bekommen hatte, ließ mir ein Licht aufgehen. Oma Röschen und die »Stammmutter« der Joske-Dynastie waren Schwestern. Meine Großeltern wollten wohl da heiraten, wo die zwei Jahre ältere und offenbar schon besser situierte Schwester Johanna Joske lebte und eine Hochzeit ausrichten konnte. Dass Oscar Tietz im gleichen Jahr in Berlin seine Cousine Betty ehelichte, war wahrscheinlich nur ein Zufall.