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4. Wirtschaft und Arbeit

Der Blick auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt grundlegend gewandelt. Während des Aufschwungs von 2010 bis zum Beginn der Corona-Krise Anfang 2020 ging die registrierte Arbeitslosigkeit deutschlandweit spürbar zurück. Das gilt auch für Einbeck5. Parallel verlor das Problem der Erwerbslosigkeit an Aufmerksamkeit und die Folgen der einsetzenden Arbeitskräfteknappheit rückten in den Fokus.

Im alternden Einbeck hat neben der guten Konjunktur auch die Bevölkerungsentwicklung dazu beigetragen, dass Personal in vielen Branchen rar geworden ist. In weniger als einem Jahrzehnt, von 2011 bis 2019, ist die Zahl der Erwerbsfähigen um knapp 1.100 Personen gesunken. Die Pandemie hat den Aufschwung beendet. Weiterhin führt die Arbeitsagentur Göttingen aber eine lange Liste von Mangelberufen.

Ausgewählte Mangelberufe im Agenturbezirk Göttingen (mit Einbeck)

BerufsgruppenFreie Stellen pro Bewerber
Altenpflege3,9
Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik2,8
Mechatronik und Automatisierungstechnik2,5
Steuerberatung2,2
Nichtärztliche Therapie und Heilkunde2,2
Medizin-, Orthopädie- und Rehatechnik2,2
Gesundheits-, Krankenpflege, Rettungsdienste, Geburtshilfe2
Energietechnik1,9
Bodenverlegung1,8
Verwaltung1,6

Stand: Oktober 2020; gleitende Jahreswerte

Der Mangel an Mitarbeitern hat in verschiedenen Branchen längst einen harten Wettbewerb um Personal ausgelöst. „Viele Fachkräfte können sich aussuchen, wo oder für wen sie arbeiten wollen. Bei unbeliebten Arbeitszeiten, zum Beispiel am Wochenende, funktionieren Einstellungen oft nur über das Geld. Dort, wo absoluter Fachkräftemangel herrscht, kommt es zu Abwerbungsversuchen bei Mitbewerbern“, berichtete Maik Heise, seinerzeit Geschäftsstellenleiter der Arbeitsagentur für Einbeck, Northeim und Uslar, 2018 im Interview.

Arbeitsort nach Wahl

Besonders deutlich macht sich die Fachkräfteknappheit in der Pflege bemerkbar, wo der Personalmangel auf eine demografiebedingt steigende Nachfrage trifft (siehe Kapitel 5). Aber auch Handwerker oder Firmen der IT-Branche klagen über Probleme. So war bei der Einbecker Digitalagentur Alto Anfang 2019 fast ein Viertel der Stellen unbesetzt. „Wir suchen dringend Verstärkung im Screendesign, in der Webentwicklung sowie im Vertrieb. Außerdem würden wir gern einen Auszubildenden zum Fachinformatiker einstellen. Leider finden wir bislang keine geeigneten Kandidaten“, sagte Geschäftsführer Mark-Oliver Müller.

Schon vor der coronabedingten Homeoffice-Welle setzte Alto auf flexible Arbeitsmodelle, um Fachkräfte anzuziehen. „Unsere Mitarbeiter bestimmen selbst, ob sie ins Büro kommen oder von zu Hause arbeiten. Es stört uns auch nicht, wenn jemand lieber abends als tagsüber arbeitet. Wir achten nur darauf, dass jeder an mindestens drei bis vier Tagen pro Monat in der Agentur präsent ist, denn ganz ohne persönlichen Kontakt verliert man sich früher oder später aus den Augen“, berichtete Müller 2019.

Neben der schrumpfenden Bevölkerung und einer hohen Nachfrage nach IT-Kräften führte er die Probleme auf eine mangelnde Anziehungskraft der Region zurück. Müller: „Selbst Göttingen wirkt auf viele Kandidaten zu klein und provinziell.“ Einbeck habe zum einen objektive Schwächen wie ein fehlendes Nachtleben und ein Kulturangebot, das auf Senioren ausgerichtet sei. „Zum anderen ist es die gefühlte Entfernung vom ‚echten Leben‘, die uns bei der Personalsuche zu schaffen macht. Wenn jemand zum Beispiel aus Hamburg kommt und von der Autobahn abfährt, dann denkt er, er ist im Nirgendwo.“

Welcome to Südniedersachsen

Es würde zu kurz greifen, das Problem mangelnder Attraktivität für Fachkräfte allein aus Einbecker Sicht zu betrachten - es betrifft auch benachbarte Städte und Landkreise. Zwar profitiert Südniedersachsen von einem starken Zuzug Studierender in die Hochschulstadt Göttingen. Nach dem Abschluss jedoch verlassen viele Absolventen ihren Studienort, um anderswo Karriere zu machen. „Es besteht aktuell ein großes Ungleichgewicht zwischen der hohen Anzahl an Akademikerinnen und Akademikern, die die Hochschulen in der Region ausbilden, und den Fachkräften, die langfristig in Südniedersachsen bleiben“, sagte Tim Schneider von der Südniedersachsen-Stiftung im Interview.

Schneider selbst verließ Göttingen nach dem Studium – Ende 2019 kehrte er zurück, um bei der Südniedersachsen-Stiftung die Verantwortung für die Geschäftsführung zu übernehmen. Schneider: „Während des Studiums habe ich von der Vielfältigkeit und den Stärken Südniedersachsens wenig wahrgenommen. Ich habe mir damals nie die Frage gestellt, ob ich dauerhaft in Südniedersachsen leben möchte. Meine Wahrnehmung war, dass wir als Region vor allem wirtschaftlich nicht in der oberen Liga spielen. Ich vermute, dass es vielen Studierenden so geht.“

Für Abhilfe sollen ein regionales Welcome Centre und eine Initiative für gemeinsames Fachkräftemarketing sorgen. Das Welcome Centre mit Sitz in Göttingen sowie mehreren Regionalbüros soll Fachkräfte beispielsweise bei der Wohnungssuche und beim Beantragen von Visa unterstützen. „Ziel ist es, den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung zu helfen und sie möglichst langfristig an unsere Region zu binden“, so Schneider.

Die Initiative für regionales Fachkräftemarketing dagegen steckte 2020 noch in den Anfängen. Bis Mitte 2022 soll ein Konzept entstehen, das die bislang vereinzelten Aktivitäten zusammenführt. „Standortmarketing hört nicht an Stadtgrenzen auf. Wir müssen uns als Region gemeinsam positionieren und sollten Nachbarstädte nicht als Konkurrenten betrachten“, sagte Anja Barlen-Herbig, Geschäftsführerin von Einbeck Marketing, die die Stadt in der regionalen Arbeitsgruppe vertritt.

Ausbildung auf Vorrat

Während die Region noch eine gemeinsame Strategie sucht, setzt die Ruhestandswelle der geburtenstarken Jahrgänge bereits ein: Die Babyboomer der 50er- und 60er-Jahre erreichen nach und nach das Rentenalter, sodass das Angebot an Fachkräften weiter sinkt.

Ein anschauliches Beispiel liefert die Einbecker Stadtverwaltung, die jährlich über die Altersstruktur der Beschäftigten berichtet: Zum Jahresende 2019 hatten demnach 106 der 369 Mitarbeiter ihren 57. Geburtstag bereits gefeiert. Anders gesagt: Fast jeder dritte Beschäftigte (29 Prozent) hat die Rente oder Pension vor Augen.

Zur Vorbereitung auf die Ruhestandswelle hat die Verwaltung begonnen, über den aktuellen Bedarf auszubilden – so stieg die Zahl der Auszubildenden von 9 (Ende 2016) auf 15 (Ende 2019). Im Interview unterstrich Bürgermeisterin Sabine Michalek, dass die Herausforderungen groß sind: „Wir müssen uns anstrengen. Deshalb machen wir auch das Audit berufundfamilie6, um uns als Arbeitgeber zu positionieren. Die Leute sollen sehen: Die Verwaltung ist gar nicht so verstaubt, sie bietet attraktive Arbeitsplätze. Man kann Verantwortung übernehmen und wird vielseitig gefordert. Gleichzeitig haben wir familienfreundliche Arbeitszeiten und können Homeoffice anbieten.“

Etliche Einbecker Arbeitgeber stehen bereits heute vor Problemen, ihre Lehrstellen zu besetzen. Während das Angebot an gemeldeten Ausbildungsplätzen von 2010 bis 2019 kräftig stieg, ging die Nachfrage zurück. 2020, im Jahr der Corona-Krise, blieben 25 von 234 gemeldeten Ausbildungsplätzen unbesetzt.

Ein Grund für das sinkende Interesse: Immer mehr Schulabgänger zieht es an die Uni. „Der Trend zum Studium ist ungebrochen. Das ist einerseits verständlich, weil viele ein Studium als bestmögliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufslaufbahn ansehen. Andererseits ist es fatal für Unternehmen, die auf Auszubildende als Fachkräftenachwuchs angewiesen sind“, sagte Maik Heise von der Arbeitsagentur bereits 2018. Ein weiterer Faktor sind schrumpfende Jahrgänge der Schulabgänger. Zwischen 2011 und 2019 ging die Zahl der 15- bis 20-jährigen Einbecker von 1.723 auf 1.333 zurück. Im Durchschnitt waren die Jahrgänge damit um 78 Jugendliche kleiner als ein knappes Jahrzehnt zuvor.

Tischlerei statt Uni

Angesichts der Nachwuchssorgen bemühen sich viele Handwerksunternehmen verstärkt um Studienabbrecher. „Das kann zum Beispiel ein Architekturstudent sein, der sich nach einigen Semestern für eine Laufbahn als Tischler entscheidet. Nicht selten lässt sich die Ausbildungszeit in solchen Fällen auf eineinhalb bis zwei Jahre verkürzen. Anschließend bestehen gute Chancen, die Meisterschule zu besuchen“, sagte Ina-Maria Heidmann, Hauptgeschäftsführerin der Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen. Grundlage sind Kooperationsvereinbarungen mit Hochschulen zur Anerkennung von Ausbildungsleistungen. Nach Angaben der Kammer entscheiden sich in ihrem Bezirk, zu dem auch Einbeck gehört, 15 Prozent aller Schulabgänger mit Hochschulreife für eine handwerkliche Ausbildung. Damit übertreffe die Kammer den Bundesdurchschnitt von 12,5 Prozent.

Die Suche nach Nachwuchs betrifft nicht nur die Belegschaft, sondern auch die Unternehmensleitung. Ähnlich wie viele Arbeitnehmer stehen etliche Handwerksmeister vor dem Ruhestand. Die Handwerkskammer empfiehlt, sich frühzeitig damit auseinanderzusetzen. Hauptgeschäftsführerin Heidmann: „Die Firmenübergabe an einen Nachfolger kann Jahre dauern. Die Zeiten, in denen Betriebsübernahmen durch Kinder der Standardfall waren, sind vorbei. Wir raten, sich schon sieben bis zehn Jahre vor dem geplanten Ruhestand umzusehen. Das ist genügend Zeit, um Kontakte zu knüpfen oder auch eigene Mitarbeiter anzusprechen.“

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