Читать книгу Altes Einbeck - Ralf Blasig - Страница 13

Оглавление

7. Auf dem Dorf

Einbeck ist eine Stadt der Dörfer: Mehr als die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner leben in einer der 46 Ortschaften, von denen nur drei mehr als 1.000 Menschen zählen.7 Das Leben auf dem Land bringt Vorteile und Nachteile, die sich vielerorts ähneln. Das zeigen Interviews mit Einbecker Akteuren. Zu diesem Ergebnis kommt aber auch eine Studie des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) Göttingen, das die Situation in vier südniedersächsischen Dörfern untersucht hat, darunter die Einbecker Ortschaft Kuventhal.

Im Interview fasste Maike Simmank, wissenschaftliche Mitarbeiterin am SOFI, die Resultate so zusammen: „Interessanterweise äußern sich die Bürger in allen vier Dörfern sehr ähnlich über die Stärken und Schwächen ihrer Orte. Die Menschen schätzen die Ruhe und die Natur, die sie umgibt. Das kam bei fast jedem Gespräch in den ersten Sätzen – unabhängig vom Alter. Lob gab es auch für das Vereinsleben und die Hilfsbereitschaft in den Dörfern. (…) Die größte Sorge der Bürger sind schlechte Mobilitätsangebote und Internetverbindungen. Klagen zur Mobilität kommen besonders von denjenigen, die kein eigenes Auto nutzen – also Kinder, Jugendliche und Senioren. Das ist natürlich nachvollziehbar: Viele Ältere stehen vor der Herausforderung, ihre Einkäufe und Arztbesuche ohne eigenes Fahrzeug zu organisieren. Jugendliche fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, weil sie für viele Fahrten auf ihre Eltern angewiesen sind. Den öffentlichen Nahverkehr empfinden sie nicht als Alternative. Auch Unternehmen kritisieren mangelhafte Busverbindungen. Ihr Problem: Sie finden schwer Auszubildende, die nicht im gleichen Ort wohnen.“

Der Schülerverkehr bröckelt

Das beschriebene Mobilitätsdilemma findet sich so oder ähnlich in vielen Einbecker Ortschaften: Wer Auto fahren kann, ist fein aus. Wer nicht, bekommt entweder Hilfe oder ein Problem. Mit dem demografischen Wandel wachsen die Herausforderungen noch. Denn zum einen steigt die Zahl der Senioren, die sich aus Altersgründen nicht mehr hinters Steuer setzen. Zum anderen führen Schulschließungen schnell zu Problemen im ohnehin nicht gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr, kurz ÖPNV.

„Bislang war der Schülerverkehr die wichtigste Säule für den ÖPNV. Mit dem Rückgang der Schülerzahlen bröckelt diese Säule“, sagte Markus Menge, Mobilitätsmanager beim Zweckverband Verkehrsverbund Südniedersachsen (ZVSN), im Interview. Gerade auf den Dörfern seien viele Senioren seit Jahrzehnten an das eigene Fahrzeug gewöhnt. Dementsprechend schwer fällt der Verzicht, wenn die Fahrtüchtigkeit schwindet. „Viele Senioren können früher oder später kein Auto mehr fahren – sei es aus körperlichen oder finanziellen Gründen. Wir brauchen Alternativen, damit die Älteren mobil bleiben“, so Menge.

Hinsetzen und mitfahren

Wie aber können solche Alternativen aussehen? Der Verkehrsverbund hat Ende 2019 ein Projekt gestartet, bei dem Senioren, die den Führerschein freiwillig abgeben, die öffentlichen Verkehrsmittel für ein halbes Jahr kostenlos nutzen können. Sie erhalten den „Sichere-Fahrt-Schein“, eine Netzkarte für die südniedersächsischen Landkreise Northeim, Göttingen und Holzminden. Erste Erfahrungen wertet der ZVSN als vielversprechend: Bis Oktober 2020 hatten rund 560 Seniorinnen und Senioren von dem Angebot Gebrauch gemacht.

Einen anderen Weg geht der Einbecker Seniorenrat, der gemeinsam mit der Verkehrswacht mehrfach Fahrsicherheitstrainings für Ältere angeboten hat. Zum Programm gehörten praktisches Üben und theoretischer Unterricht zu geänderten Verkehrsregeln. „Am Ende bekommt jeder ein Feedback. Bei größeren Defiziten empfehlen wir zusätzlichen Unterricht in einer Fahrschule, um gezielt an den Schwächen zu arbeiten. Es geht uns also darum, dass die Teilnehmer die Sicherheit am Steuer zurückgewinnen“, sagte Lothar Dolle, stellvertretender Vorsitzender des Seniorenrats.

Die Ortschaft Hullersen wiederum will die Mobilität der rund 300 Einwohnerinnen und Einwohner mit einer Mitfahrerbank verbessern. „In Hullersen war es immer schon üblich, dass sich die Menschen helfen und beispielsweise Fußgänger mit in die Stadt nehmen. Mit der Bank am Ortsausgang nach Einbeck haben wir dafür einen festen Platz geschaffen. Wenn dort jemand sitzt, dann wissen Autofahrer: Es könnte gut sein, dass diese Person eine Mitfahrgelegenheit sucht“, berichtete Ortsbürgermeisterin Eunice Schenitzki. Zahlen erhebt sie nicht, hat die Mitfahrerbank aber selbst getestet: „Es hat nicht lange gedauert, bis mich jemand mitgenommen hat nach Einbeck.“

Zweites großes Problem der Dörfer neben der Mobilität ist der Anschluss an schnelles Internet. Und beides ist miteinander verknüpft, wie SOFI-Forscherin Maike Simmank zurecht feststellte: „Konzepte für Bürgerbusse oder Formen der Nachbarschaftshilfe existieren. Allerdings setzen solche Projekte häufig auch eine gute Internetverbindung voraus, weil sie über Online-Plattformen oder Apps funktionieren.“

Online-Buchung? Keine Chance!

Beim schnellen Internet hatten viele Dörfer lange Zeit so großen Nachholbedarf, dass sie zur Selbsthilfe griffen: Sie organisierten den Aufbau eines Glasfasernetzes über ein Göttinger Privatunternehmen, weil sie auf den staatlich geförderten Ausbau nicht mehr warten wollten. Nach einem Bericht der Einbecker Morgenpost hatten sich bis April 2020 rund 20 Einbecker Ortschaften für diesen Weg entschieden. In etwa der Hälfte der Fälle waren die Anschlüsse bereits geschaltet.

Den Alltag ohne leistungsfähiges Internet hatte Antje Sölter, Ortsbürgermeisterin in Avendshausen und Vardeilsen, Anfang 2019 plastisch beschrieben: „In Avendshausen lebt ein Familienvater, der bei einem Verlag in Süddeutschland beschäftigt ist und viel im Homeoffice arbeitet. Er wollte den Ort mit seiner Familie auf keinen Fall verlassen, deshalb musste er sich auf eigene Kosten um eine bessere Internetverbindung kümmern. Der Mann schimpft Mord und Brand – und das kann ich verstehen. Auch ein großer Landwirt hat Probleme, weil er seine Buchführung und andere Geschäftsprozesse online abwickelt. In Avendshausen ist die Internetverbindung so schlecht, dass man keinen Urlaub online buchen kann. Schon gar nicht sonntags, wenn die Kinder vielleicht auch noch Netflix gucken wollen.“

Inzwischen ist der staatlich geförderte Ausbau in Avendshausen erfolgt, der private Glasfaserausbau soll folgen.

Der Trend geht zum Gemeinschafts-Friedhof

Durch die schrumpfende Bevölkerung im zersiedelten Stadtgebiet entsteht ein weiteres teures Problem: Die Kosten der öffentlichen Infrastruktur sind von immer weniger Menschen zu tragen - die Ausgaben pro Kopf steigen. Das gilt beispielsweise für die kommunalen Verkehrswege. „Straßen in abgelegene, schrumpfende Dörfer werden damit immer unwirtschaftlicher, denn die Unterhaltungskosten bleiben fix“, sagte Bürgermeisterin Sabine Michalek bereits 2018.

Die gleiche Logik gilt für öffentliche Anlagen und Gebäude. Es zeichnet sich daher ab, dass die Diskussion um die Zusammenlegung von Dorfgemeinschaftshäusern und Friedhöfen an Fahrt gewinnen dürfte.

„Auf manchem Friedhof findet nur eine einzige Beerdigung im Jahr statt. Dem stehen hohe Kosten für die Unterhaltung gegenüber – von Heckenpflege bis Rasenmähen. Dieses Modell funktioniert bisher nur, weil die Gebühren für alle Friedhöfe zusammen berechnet werden – für den Zentralfriedhof in Einbeck und die Friedhöfe in den Dörfern“, sagte SPD-Kandidat Dirk Heitmüller während des Bürgermeisterwahlkampfs 2020. Als nächster Schritt kämen „dezentrale Friedhöfe für mehrere Dörfer“ in Frage.

Bürgermeisterin Michalek sagte: „Die Dörfer geben ihre Einrichtungen zwar ungern auf. Aber wir müssen darüber sprechen, wie sich Ortschaften Sporthallen, Sportplätze, Dorfgemeinschaftshäuser und Feuerwehrhäuser zukünftig teilen können.“ Ein solches Modell sei beispielsweise in den benachbarten Leinetal-Orten Immensen, Sülbeck und Drüber denkbar. „In Immensen haben wir den Kindergarten und in Drüber die Schule. Ich ‚spinne‘ einmal in die Zukunft: Vielleicht bekommt Sülbeck dann das Gemeinschaftshaus für alle drei Orte? Oder wir bauen nur ein neues Feuerwehrhaus, wenn es notwendig wird?“

Wenig Lust auf Ehrenamt

Ein Pluspunkt vieler Ortschaften ist ihr Vereinsleben. Doch auch hier drohen Probleme, weil Nachfolger für ältere Ehrenamtliche fehlen. Ein anschauliches Beispiel kommt aus Greene, wo Heinrich Langheim und Eberhard Völkel, beide über 80, seit mehr als 25 Jahren ehrenamtlich das Hallenbad schmeißen. 2018 wurden sie dafür mit dem Einbecker Seniorenpreis ausgezeichnet, doch im Interview berichteten sie von großen Problemen, ihre Ämter im Vorstand des Fördervereins Hallenbad weiterzugeben. „Wir wüssten durchaus einige Kandidaten, die den Verein gut führen könnten. Oft stehen bei den Betreffenden aber andere Interessen im Vordergrund. Einer zum Beispiel hat sich vor Kurzem ein Wohnmobil gekauft und möchte viel unterwegs sein – das verträgt sich nicht mit der Verpflichtung für das Hallenbad. Andere möchten lieber ausschlafen, als ein Ehrenamt zu übernehmen“, sagte Langheim 2019 im Interview.

Auch Beatrix Tappe-Rostalski, Ortsbürgermeisterin in Opperhausen, berichtete: „Immer weniger Menschen sind bereit, Verantwortung zu tragen und Funktionen zu besetzen. Selbst im Sportverein mit rund 400 Mitgliedern fand sich vorübergehend niemand, der den Vorsitz übernehmen wollte. Bei vielen Jüngeren bleibt neben Familie, Beruf und Pendeln zur Arbeit kein Raum für ehrenamtlichen Einsatz. Außerdem gibt es Vorbehalte gegen die Verbindlichkeit und die festen Zeiten von Vereinen.“

Verlieren die Dörfer also eine ihrer größten Stärken? Das kann, muss aber nicht so kommen. Mit den Babyboomern rückt eine Generation ins Ruhestandsalter, die zahlenmäßig stark und gesundheitlich oft fit ist. Mit dem Ausbau des schnellen Internets verbessern sich zudem für viele Menschen die Voraussetzungen für die Arbeit im Homeoffice, der Zwang zum täglichen Pendeln schwindet. Die kommenden Jahre werden zeigen, wie viel ihrer gewonnenen Zeit die rüstigen Rentner und Zuhause-Arbeiter in Ehrenämter investieren wollen.

Altes Einbeck

Подняться наверх