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5. Medizin und Pflege

Ein Blick in die Lokalzeitung genügt, um ein erstes Bild vom Personalmangel in der Pflege zu bekommen: Pflegefachkräfte, Pflegehelfer und Betreuungskräfte für Altenheime geben im „Stellenmarkt“ häufig den Ton an. Zahlen der Arbeitsagentur bestätigen diesen Eindruck.

Unter allen Mangelberufen im Agenturbezirk Göttingen - inklusive Einbeck - ist die Personalknappheit bei Fachkräften der Altenpflege mit am größten: Nach einer Auswertung vom Herbst 2020 kommen auf 36 Arbeitsuchende 142 offene Stellen – ein Verhältnis von fast 1: 4.

Ein Grund für den Personalmangel: In der Pflege trifft die sinkende Zahl der Erwerbsfähigen auf einen demografiebedingt wachsenden Bedarf. Zwischen 2011 und 2019 ist die Zahl der Einbeckerinnen und Einbecker ab 80 Jahren um 16 Prozent auf mehr 2.600 gestiegen. Viele von ihnen mögen rüstig und aktiv sein. Doch generell gilt: Je älter ein Mensch wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit, auf Pflegeleistungen angewiesen zu sein.

Pflege-Plätze bleiben frei

Ein anschauliches Beispiel für die Probleme liefert die Einbecker Seniorenresidenz Alloheim: Im November 2019 lebten dort 130 Bewohnerinnen und Bewohner – 15 Plätze blieben aus Mitarbeitermangel unbesetzt. „Wir könnten bis zu 145 Betten belegen – bräuchten dazu aber mehr Fachpersonal, das nur schwer zu bekommen ist“, sagte Kerstin Hartmann, seinerzeit Trainee Residenzleitung, im Interview.

Auch das steigende Alter der Pflegebedürftigen macht sich bemerkbar. „Die Menschen werden nicht nur immer älter, sie leben auch länger selbstständig zu Hause. Das bedeutet: Wenn ein Mensch heute entscheidet, in ein Pflegeheim zu gehen, dann ist er wesentlich hilfsbedürftiger als noch vor Jahren. Dadurch steigt der Bedarf an medizinischer und sozialer Betreuung“, sagte Hartmann. Demenzerkrankungen nehmen zu.

Bezahlen die Pflegeanbieter einfach zu schlecht, um genügend Personal zu finden? Nach Auffassung der Gewerkschaft Verdi ist dies bislang ein wesentlicher Grund. Abhilfe könnten erhöhte Mindestentgelte schaffen. Eine Einigung mit dem Arbeitgeberverband BVAP sieht stufenweise Steigerungen vor, sodass examinierte Altenpflegekräfte ab Januar 2023 mindestens 18,50 Euro pro Stunde erhalten sollen. Bei einer 39-Stunden-Woche würde sich ein Bruttoverdienst von gut 3.100 Euro im Monat ergeben. Pflegehilfskräfte ohne Ausbildung sollen mindestens 14,15 Euro pro Stunde erhalten. Eine angestrebte bundeseinheitliche Regelung für alle Arbeitgeber in der Pflege drohte Anfang 2021 allerdings an Uneinigkeit auf Arbeitgeberseite zu scheitern.

Aus Sicht regionaler Einrichtungen ist Geld dagegen nicht das entscheidende Thema. „Bei uns in Einbeck kommt eine ausgebildete Fachkraft auf gut 3.200 Euro Grundgehalt im Monat. Das ist wirklich gut im Vergleich zu anderen Branchen“, sagte Kerstin Hartmann (Alloheim) bereits 2019. „Eine Herausforderung ist hingegen, dass die Pflege trotz vieler Hilfsmittel immer noch ein körperlich anstrengender Beruf ist.“

Nachwuchs teils schlecht betreut

Renatus Döring, Leiter der Berufsbildenden Schulen in Einbeck, wies 2018 im Interview auf einen teils abschreckenden Umgang mit dem Pflege-Nachwuchs hin. Die Ausbildungsqualität sei zum Teil sehr unterschiedlich, so Döring: „Schlechte Rahmenbedingungen in einigen Einrichtungen führen zu einem verbesserungsbedürftigen Image der gesamten Branche.“

Ein Kritikpunkt: Gelegentlich würden Schüler in der ambulanten Pflege schon im ersten Ausbildungsjahr allein zu Pflegebedürftigen geschickt. „Eine vernünftige Einarbeitung findet manchmal nicht statt. Eigentlich müssten die Schüler während ihrer Ausbildung mit einer Fachkraft unterwegs sein. Natürlich gibt es auch in der Pflege gute Arbeitgeber. Aber die Probleme sind nicht zu übersehen“, sagte Döring.

Neuer Player im Pflegemarkt

Trotz Personalmangels zieht die steigende Nachfrage neue Pflege-Anbieter nach Einbeck. Prominentestes Beispiel ist die Bremer Convivo-Gruppe, die sich mit ihrem Konzept der Senioren-Wohnparks deutschlandweit auf Expansionskurs befindet. Grundidee ist ein Kombinationsangebot von altengerechtem Wohnen und Pflegeleistungen, die bei Bedarf gebucht werden können.

Anfang 2020 hat ein Wohnpark mit 24 Apartments in Wohngemeinschaften und 87 Service-Wohnungen unter schwierigen Corona-Bedingungen in der Einbecker Südstadt eröffnet. Das Unternehmen kündigte an, dass bis Ende 2020 alle WG-Apartments und die Hälfte der Service-Wohnungen vermietet sein sollen. Aktuelle Zahlen zur tatsächlichen Entwicklung lagen bei Erscheinen dieses Buchs nicht vor.

„Fast wie eine Fabrik“

Voraussichtlich 45 bis 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter Pflegekräfte, aber auch Haustechniker und Servicekräfte, will Convivo nach früheren Angaben langfristig in Einbeck beschäftigen – der regionale Wettbewerb um Personal könnte damit noch härter werden. Unabhängig vom Standort Einbeck rechnet auch Convivo damit, dass sich der Mangel zuspitzt. „Allein die schrumpfenden Geburtenjahrgänge werfen ja die Frage auf, woher die benötigten Fachkräfte kommen sollen. Ein weiterer Grund für den Mangel ist allerdings hausgemacht: Es ist das schlechte Image der Pflegebranche in Deutschland“, sagte Andreas Weber (Convivo) im Interview.

Den Hauptgrund für das schlechte Ansehen sieht er in den Arbeitsabläufen vieler Pflegeeinrichtungen. Weber: „Ein Teil der Mitarbeiter kümmert sich um die schwere Pflege, zum Beispiel das Waschen und Anziehen der Bewohner. Eine andere Gruppe übernimmt dann die Tagesbetreuung und so weiter. Wir sehen also eine starke Strukturierung, manche Pflegeheime funktionieren fast wie eine Fabrik. Das führt dazu, dass viele Pflegekräfte nach wenigen Jahren resignieren und ausgebrannt sind.“ Um dem vorzubeugen, setzt Convivo nach eigenen Angaben auf eine ausgewogene Verteilung von Pflegetätigkeit und Alltagsbetreuung auf alle Beschäftigten.

Die Ärzte-Versorgung ist gut - noch

Mit einer steigenden Zahl von Senioren wächst nicht nur der Bedarf an Pflegeleistungen, sondern auch an Ärzten. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) ist Einbeck heute noch gut mit niedergelassenen Medizinern versorgt. Die Betonung liegt auf: noch. Nach einer KVN-Prognose von 2019 erreichen bis 2030 mehr als ein Drittel aller relevanten Ärzte und Psychotherapeuten das 65. Lebensjahr und dürften sich aus ihren Praxen in Einbeck und Umgebung zurückziehen. Die Nachfolgesuche droht schwierig zu werden.

Zuerst aber zur Gegenwart: Zur Planung der medizinischen Versorgung ermitteln Ärzte und Krankenkassen den sogenannten Versorgungsgrad, der sich aus dem Verhältnis von Medizinern zu Bevölkerung ergibt. Das Gesamtbild für Einbeck ist positiv, wie Zahlen der KVN von Oktober 2020 zeigen. Eine Unterversorgung besteht lediglich bei den Nervenärzten.

Versorgungsgrade für Hausärzte im Mittelbereich Einbeck

(Zum Mittelbereich gehören Einbeck, Dassel, Bad Gandersheim) Gesamt: 119 %

Einbeck: 105 %

Dassel: 130 %

Bad Gandersheim: 152 %

Stand: Oktober 2020; Quelle: KVN, Einbecker Morgenpost

Versorgungsgrade für Fachärzte im Landkreis Northeim

Augenärzte: 116 %

Chirurgen/Orthopäden: 145 %

Frauenärzte: 178 %

HNO-Ärzte: 116 %

Hautärzte: 117 %

Nervenärzte: 73 %

Psychotherapeuten: 110 %

Urologen: 105 %

Kinder- und Jugendärzte: 114 %

Stand: Oktober 2020; Quelle: KVN

Deutlich kritischer als die Gegenwart sind die Aussichten angesichts der nahenden Ruhestandswelle. Zwar kündigte die KVN bereits 2019 an, dass frei werdende Arztsitze ausgeschrieben werden sollen. Dies allein werde jedoch nicht reichen, um den Bedarf zu decken, so KVN-Sprecher Detlef Haffke: „Wir brauchen deshalb langfristig dringend mehr Köpfe im Versorgungssystem.“ Um dies zu erreichen, brachte die KVN unter anderem mehr Studienplätze für Medizin und eine Landarztquote ins Spiel.

Selbst wenn sich Nachfolger für ausscheidende Mediziner finden, ist damit wenig über die Versorgung älterer Patienten in entlegenen Orten gesagt. Für Senioren, die nicht mehr Auto fahren, könnten vor allem Facharzt-Besuche am anderen Ende des Landkreises zum Problem werden. Diese Schwierigkeit sieht auch die KVN. „Dort, wo es in Zukunft weniger Ärzte geben wird, müssen die Patienten weiterhin in der Lage sein, mit Bussen in die nächste Arztpraxis zu kommen“, betonte Haffke.

„Feind der Gesundheit“

Soweit zur professionellen medizinischen Versorgung. Sozialarbeiter und Ehrenamtliche weisen darauf hin, dass in einer alternden Bevölkerung auch verstärkt Armut und Vereinsamung drohen – mit gravierenden negativen Folgen für Lebensqualität und Gesundheit.

Zu den Mahnern gehört Marco Spindler, Sozialarbeiter im Kirchenkreis Leine-Solling. Traf er in seiner Einbecker Sozialberatung früher nur vereinzelt Senioren mit Geldsorgen, so zählt er mittlerweile 25 Einzelpersonen oder Familien über 60 Jahren, die regelmäßig seine Hilfe suchen. Sie sorgen sich häufig um Gesundheitskosten, die von einer kleinen Rente kaum zu bezahlen sind. „Das kann Zahnersatz sein, eine neue Brille oder ein Medikament, das die Krankenkasse nicht übernimmt. Auch Fahrtkosten können zum Problem werden - beispielweise durch regelmäßige Termine bei einem Facharzt in Göttingen“, sagte Spindler.

Der Sozialarbeiter warnt, dass Geldmangel oft zu einer schlechten Wohnsituation, einem schlechten Zugang zu Gesundheitsleistungen und zur Isolation führt. Spindler: „All das zusammen wirkt sich wiederum negativ auf die körperliche Verfassung aus. Man könnte sagen: Altersarmut ist der Feind der Gesundheit.“

Spaziergänge gegen Einsamkeit

Auf die Gefahr der Vereinsamung weist auch Lutz Voss vom Einbecker Lions-Club hin. Zusammen mit zwei Mitstreitern hat er das Projekt „3.000 Schritte für mehr Gesundheit“ ins Leben gerufen. Die Idee: Einmal pro Woche treffen sich überwiegend ältere Einbecker zu einem kostenlosen rund einstündigen Stadtspaziergang.

Die gemeinsamen Touren sollen die Grundkondition ebenso fördern wie die Motorik und die geistige Leistungsfähigkeit. Es geht aber nicht nur um körperliche Gesundheit. Voss: „Ganz wichtig sind die Gespräche auf und nach dem Weg. Ich sage gern: Unsere Spaziergänge sind ‚soziale Tankstelle‘ und ‚Einsamkeitsbekämpfer‘ zugleich. Man kann über vieles reden. Wir machen bewusst immer wieder Pausen, damit das Klönen nicht zu kurz und die Gruppe zusammen ins Ziel kommt.“

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