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Den Roten kann man nicht über den Weg trauen
ОглавлениеNun habe ich gerade gesagt, dass es in so gut wie allen menschlichen Gesellschaften schon immer Feindbilder gegeben hat und ebenso machthungrige Menschen, die diese für sich ausgenutzt haben. Allerdings gibt es doch Zeiten in der Geschichte, zu denen diese ewige Wahrheit wahrer ist und stärker zutrifft als zu anderen. Zeiten des politischen Umbruchs und der Unsicherheit sind nämlich die beste Voraussetzung für Feindbilder und ihre politische Verwertung. Wenn wir uns das letzte Jahrhundert anschauen, gibt es da ein ganz besonderes Datum, das jedem Autokratie-Fan bekannt sein sollte: der Jahreswechsel von 1918 auf 1919. Da herrschten in Europa noch so richtig wilde Zeiten! Anfang November 1918 endete der Erste Weltkrieg, und mit ihm kam unter anderem das Ende des Deutschen und des Habsburgerreiches. In Mittel- und Osteuropa entstanden neue Staaten wie Jugoslawien, die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen, während sich in schon zuvor existierenden Staaten wie Rumänien massiv die Grenzen verschoben. Bereits ein Jahr vor Ende des Krieges war außerdem die Oktoberrevolution über Russland hinweggefegt, und damit war das politische Chaos in weiten Teilen des Kontinents perfekt. Heute lässt es sich manchmal viel zu leicht über diese Umbrüche reden, ohne den mit ihnen verbundenen Einschnitt für die Menschen der Zeit wirklich zu begreifen. Die Etablierung dieser neuen Nationalstaaten und die damit verbundene Unsicherheit brachten gigantische Zäsuren im Alltagsleben mit sich, die die Menschen noch über Jahre hinweg prägten. Teils komplett neue Politiker, die zuvor keine Rolle gespielt hatten, neue Grenzen – zuweilen mitten durch existierende Lebensräume … Auch muss ich wohl nicht betonen, dass diese Verschiebungen für die wirtschaftliche Entwicklung direkt nach dem Krieg nicht gerade zuträglich waren. Für die Erholung nach einem Krieg ist es nicht die beste Idee, etablierte Handelswege und Wirtschaftsräume zu durchschneiden und alles auf null zu stellen. Aber gut, darum ging es den politischen Führern der Zeit ja nicht. Diese außen- und innenpolitische Unsicherheit und wirtschaftliche Misere spiegelten sich somit bald im innenpolitischen Leben vieler Staaten Europas wider. Radikale Zeiten verlangen eben nach radikalen Antworten, und so griffen über den Kontinent hinweg politische Extrempositionen um sich.
Besonders erfolgreich erschien in den ersten Monaten nach dem Krieg zunächst eine bestimmte Extremposition: die des Kommunismus. Auch das kann man sich gegenwärtig nur schwer vorstellen. Heute wirkt – zumindest in Europa – die Oktoberrevolution eher wie ein isolierter Einzelfall, der nur durch sowjetische Gewalt und durch den nächsten Weltkrieg in die Länder Mittel- und Osteuropas getragen werden konnte. Von der von Lenin versprochenen „Weltrevolution“ kann im historischen Rückblick keine Rede sein. Im Winter 1918 sah das allerdings noch ganz anders aus. Die Oktoberrevolution lag erst ein Jahr zurück, und plötzlich gab es vielerorts in Europa linke Gruppierungen, die eine ganz ähnliche Revolution wie in Petersburg anstrebten. Eine Zuspitzung schien unausweichlich. In Deutschland geschah das schon sehr früh in der Novemberrevolution, die 1918 zumindest in Teilen des Landes Arbeiter- und Soldatenräte nach sowjetischem Vorbild hervorbrachte. Einen Höhepunkt erreichte die Entwicklung im Frühling 1919 mit der Münchner Räterepublik und ihrer gewaltsamen Niederschlagung durch regimetreue und rechtsradikale Verbände, die freilich genauso wenig demokratiebegeistert waren wie die Anhänger der Räterepublik. Nach der Oktoberrevolution und einer ganz ähnlichen Revolution in Ungarn war der in München nun schon der dritte dieser bolschewistischen Aufstände. Sorge vonseiten der rechtsautoritären Kräfte war also durchaus angebracht!
Ein besonders lehrreiches Beispiel kann uns die Niederschlagung der erwähnten ungarischen Räterepublik bieten. Immerhin kam als Folge dieser kurzlebigen Revolution ein ausgesprochen ehrenwerter Kollege von Ihnen in Budapest an die Macht. Ein Mann, der Ihnen als Mentor so einiges über autoritäre Politik beibringen kann. Der roten Republik in Ungarn wäre aber wohl auch ohne ihn kein gutes Schicksal bestimmt gewesen. Als diese im April 1919 proklamiert wurde und die neue Führungsschicht daran ging, ihre links-revolutionären Ideen zu verwirklichen, waren die Probleme eigentlich schon vorauszusehen. Zu mächtig und zu zahlreich waren die Gegner der Maßnahmen, und schon im August fand das Regime sein Ende, als zu allem Überfluss auch noch rumänische Truppen in Budapest einmarschierten. Die rechtsautoritäre Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten. Bereits im Frühjahr des Folgejahres saß ein gewisser Herr Miklós Horthy im Sessel der Macht. In einem absurden ungarischen Königreich ohne König wurde er Reichsverweser. Wir werden in diesem Buch noch an einigen Stellen von diesem Mann hören, doch eine seiner ganz zentralen Charaktereigenschaften möchte ich gleich am Beispiel seiner Machtübernahme ansprechen: Er spielte von Beginn an meisterhaft mit den Feindbildern der ungarischen Gesellschaft. Feind war zuallererst der Kommunist. Nach der blamablen Niederlage gegen Rumänien war auch der letzte Bonus der Kommunisten verspielt, und Horthy verstand es aufs Beste, sich als Bollwerk gegen eine Rückkehr dieser „linken Chaoten“ und „Volksverräter“ zu positionieren. Ganz nach dem Handbuch also. Dennoch traf auch auf Ungarn im Jahr 1919 zu, was fast immer zutrifft. Die Allerwenigsten wünschten sich einen Diktator, auch nicht in Person Miklós Horthys. Aber sie sahen das Problem, und dieser Horthy, Admiral der k. u. k.-Armee und Vertreter einer „alten Größe“, war zumindest ein ausgewiesener Gegner des kommunistischen Terrors und somit eine glaubhafte Lösung. Er war ein Garant für die Stabilität des Landes und dadurch ein Kompromiss, den viele Schichten Ungarns zu tragen bereit waren.
Als echter Diktator verstand sich Horthy in der Folgezeit allerdings nicht, zumindest nicht, was seinen Herrschaftsstil anging. Er bevorzugte es, wie ein herkömmlicher Monarch zu regieren und Ministerpräsidenten unter sich einzusetzen, die die Tagespolitik Ungarns gestalteten – wie in der guten alten Zeit eben, in der Horthy selbst aufgewachsen war. An seiner Legitimation änderte das freilich nichts. Er war angetreten, um ein Problem zu lösen, und der Reichsverweser stand die nächsten zwei Jahrzehnte vor allem für ein Versprechen: Unter ihm würde es in Ungarn niemals wieder eine linke Revolution oder auch nur eine starke linke Bewegung geben. Und dieses Versprechen vertrat er recht glaubwürdig. So war Horthy der letzte nennenswerte europäische Staatsmann, der Anfang der Dreißigerjahre die Sowjetunion als Staat anerkannte – über fünfzehn Jahre nach der Oktoberrevolution und zu einem Zeitpunkt, an dem niemand mehr die Staatlichkeit dieses Regimes hätte anzweifeln können. Dass ihn sein Lieblingsfeindbild, die Bolschewisten, später auch in den politischen und persönlichen Abgrund trieb und ihn zu einer Allianz mit Nazideutschland und der Teilnahme am deutschen Russlandfeldzug verführte, ist ein anderes Thema. Und es ist auch alles nicht so tragisch! Zum Zeitpunkt seines Sturzes war Reichsverweser Miklós Horthy immerhin 24 Jahre lang im Amt gewesen und inzwischen weit über siebzig Jahre alt. Seinen Lebensabend durfte er dann außerdem im klimatisch wie politisch freundlichen Portugal verbringen. Ich bin mir sicher, als Möchtegerntyrann werden Sie mir zustimmen: Man kann sich für die eigene Rente Schlimmeres vorstellen.