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Ein Feindbild will gepflegt sein
ОглавлениеAuch wenn wir in diesem Kapitel über eine für uns Demokratieallergiker ganz besondere Zeit in der Geschichte Europas gesprochen haben, die nicht so ohne Weiteres auf andere Zeitpunkte umzulegen ist, sind die Lehren daraus noch immer aktuell. Gewisse Dinge ändern sich nicht, und ein Feindbild ermöglicht Ihnen nach wie vor einen Aufstieg zum Alleinherrscher, wo dieser ansonsten unvorstellbar wäre. Nur wenn eine existenzielle Gefahr besteht, wird Ihr Volk auch bereit sein, Ihnen ohne Widerrede die Zügel in die Hand zu geben. Was Sie dann mit den Zügeln machen, ist freilich Ihnen überlassen und kann vom Volk hingenommen werden oder nicht. Dann schickt man eben die Geheimpolizei. Nun leben wir heute zwar in weitaus weniger radikalen Zeiten als noch 1918. In jüngster Vergangenheit gab es in den meisten Teilen Europas keinen Krieg, es gab keine Revolution, und so gibt es eigentlich nichts, wogegen Sie sich stellen könnten. Das bedeutet aber nicht, dass Sie nicht trotzdem mithilfe von Feindbildern an Ihrer Machtbasis arbeiten könnten. Denn was ein Problem ist, entscheiden immer noch Sie! Heute reicht es ja schon, wenn eine Zeitlang etwas mehr Flüchtlinge als üblich über die Grenzen nach Deutschland kommen. Schauen Sie sich die AfD nur an! Das Feindbild „Flüchtling“ bringt der Partei seit Jahren stetige Gewinne ein, das noch ältere Feindbild „Islam“ spielt dem noch weiter in die Hände. Bei Pegida kann man sogar beobachten, wie die Feindbildmacherei auf ganz neue Ebenen gehoben wird. Da sind es dann plötzlich nicht mehr nur die Flüchtlinge und Muslime, die uns und unsere Lebensart in Deutschland bedrohen. Plötzlich trägt die Kanzlerin persönlich Schuld an alledem und wird zum Teil der Verschwörung. Danke Merkel! Auch der Antisemitismus ist im Europa des 21. Jahrhunderts noch lange nicht tot und findet in neuer Gestalt weiterhin begeisterte Anhänger. Sogar in obersten Regierungskreisen! Die modernste Gestalt des jüdischen Feindbildes ist dabei wohl George Soros, seines Zeichens Milliardär, Philanthrop und internationaler Geldjude vom Dienst. In seinem Geburtsland Ungarn steht er durch das Orbán-Regime schon seit Jahren im Kreuzfeuer und wird für so ziemlich alles verantwortlich gemacht, was schiefläuft. Die von ihm gegründete Central European University wurde aus dem Land gedrängt, und letzten Endes war Soros sogar persönlich an der „Flüchtlingskrise“ schuld, da dieser Jude aus New York doch offensichtlich eine „Umvolkung“ Europas plant. Inzwischen erfreut sich dieses neue antisemitische Feindbild weltweiter Beliebtheit. Überall reden autokratische Geister über diesen Mann. Denn „George Soros“ – das darf man noch sagen. Vom „jüdischen Kapitalisten“ zu reden, kommt heute dagegen nicht mehr so gut an. Das haben inzwischen alle verstanden, von Mitgliedern der FPÖ, die Soros die Unterstützung von Umsturzplänen in Osteuropa andichten (in klassischer 1919er-Tradition) bis hin zu Donald Trump und seinem ehemaligen Chefpropagandisten Steve Bannon, für die Soros sogar Schuld an den Migrationsbewegungen aus Lateinamerika trägt. Manche Feindbilder sind eben einfach zu gut, um sie aufzugeben. Nehmen Sie sich ein Vorbild. Konsequenzen scheint es ja keine zu geben, und auch das genannte Mitglied der FPÖ musste nicht wegen antisemitischer Ausfälle den Hut nehmen. Dazu musste Herr Gudenus dann doch erst nach Ibiza reisen.