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Kapitel 10

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Deutlich waren die letzten Anstrengungen des Hochsommers zu spüren. Als er aus dem klimatisierten Bus ausstieg, umhüllte ihn die Hitze wie ein im Wind flatterndes Tuch, das aber die Wucht eines Hammerschlags mit sich brachte. Schon im Bus, in dieser Menge Asiaten die, unablässig in einer Sprache kommunizierend, die so fremd und unwirklich erschien, wild fotografierend durch den Bus eilten, schwitzte Andreas. Noch trug er den zur Tarnung benutzten Fat-Suit unter seinem Hemd. Nun sollte als erster seiner Schritte die Verwandlung des leicht Übergewichtigen in den sportlichen Wanderer folgen.

Hier an der Bushaltestelle die sich inmitten des beschaulichen bayrischen Städtchens lag, wimmelte es von Menschen. Neben den eben ankommenden Touristen, standen Wandergruppen, ausgerüstet mit dem neusten technischen Equipment, teilweise jedoch in körperlich, erbärmlichen Zustand, im Schatten der Linden die den Platz umsäumten. »Na, da bin ich ja in bester Gesellschaft«, schoss es van Geerden durch den Kopf.

Entspannt setzte er sich auf eine Mauer die eine Grünfläche eingrenzte und betrachtete die immer wieder heranrollenden Busse, die nie geahnte Menschenmassen ausspuckten. Es herrschte ein ständiges Gewusel und Durcheinander eilen, Stimmen erschollen, Reiseführer versuchten, mit in die Höhe gereckten Schirmen, ihre Gruppen auf sich aufmerksam zu machen. Schulklassen kamen an, schreiende Kinder rannten umher und verstärkten das Chaos das hier am Busbahnhof die Kontrolle übernommen hatte, noch um einiges. Lange saß Andreas hier, versuchte die Menschen abzuschätzen, ihre Hintergründe, ihre Vorhaben und Ziele. Immer war es nur ein Einschätzen, eine Vermutung, deren Wahrheitsgehalt er nie überprüfen können würde. Aber es war auch gleich. Er war froh, abseits dieses Trubels zu sitzen und zu warten. Diese Menschenmengen, die die Busse ausspuckten, machten ihm Angst. Noch vor einer Stunde, eingepfercht auf engem Raum, dichtgedrängt mit der asiatischen Invasion, hatte er die aufkommende Panik gespürt. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, sich zu beherrschen. Das alles war ihm zu eng. In solchen Momenten hatte er das Gefühl die Kontrolle über die Situation zu verlieren.

Sein Blick fiel auf einen älteren Mann, der gegenüber seinem Platz an einer Hauswand saß. Seine Habseligkeiten die er in Plastiktüten verstaut hatte, lagen neben ihm. Ein Schild, dessen Worte Andreas nicht lesen konnte, stand vor ihm. Vermutlich bettelte er. Sein Hut stand vor ihm auf dem Boden und sollte wohl die Münzen aufnehmen. Van Geerden sah ihm eine Weile zu. Seine Ausbeute schien gering zu sein.

Als sich ihre Blicke trafen, lächelte der Mann. Andreas nahm seine Tüte und seinen Rucksack und ging über die Straße. Ohne ein Wort setzte er sich neben den Alten. »Na, willst Du auch etwas abhaben?«, fragte der Mann grinsend. »Nein. Ich brauche nichts. Hast Du Erfolg?« »Nicht gut, heute Morgen!«, waren seine knappen Worte. Andreas griff in seine Tasche und nahm sein Portemonnaie heraus. Er zog einen Fünfziger heraus und warf ihn in den Hut. »Besser?« Der Mann lachte.

»Du kannst öfter kommen.« »Wie heißt Du?«, fragte van Geerden. »Don Corleone.« Andreas musste lachen. »Wie der Typ in dem Mafiathriller. Schöner Name.« Beide schwiegen als eine junge Frau eine Münze in den Hut warf. »Danke«, riefen sie im Chor. Jetzt lachten beide. »Andreas«, stellte sich van Geerden vor und reichte ihm die Hand. Don Corleone nahm sie und schüttelte sie. Lange saßen sie beieinander und unterhielten sich.

»Schau Dir die alte Frau dort gegenüber an. Sie versucht schon eine ganze Weile, über die Straße zu gehen. Aber niemand stoppt mal kurz.« Die beiden Männer sahen zu der Alten. Sie war scheinbar kein Teil der Horden die den kleinen, bayrischen Ort überfielen. Alleine stand sie am Straßenrand und hatte sichtlich Mühe, die durch den ständig flutenden Bus- und Autoverkehr belegte Straße, zu überqueren. Immer wieder setzte sie einen Fuß auf den Überweg, zog ihn aber bei jedem sich nähernden Wagen mit ungeahnter Schnelligkeit zurück.

Schließlich fasste sich Andreas ein Herz, nahm seine Sachen und ging zu ihr. »Darf ich Ihnen helfen?«, fragte er sie lächelnd. Verwirrt sah sie ihn an. Sie schien nicht zu verstehend was er ihr sagen wollte. »Können Sie mich verstehen? Darf ich Ihnen über die Straße helfen?« Wieder sah sie ihn mit großen Augen an. »Möglicherweise hörte die Frau auch schlecht«, dachte sich Andreas und griff beherzt nach den Sachen der Frau, nahm ihren Arm und versuchte nun seinerseits die Wagen zu anhalten zu bringen. Schon beim ersten Schritt auf die Fahrbahn bremsten der erste Fahrer, hielt an und begann wütend in seinem Wagen zu zetern. Andreas konnte die Flüche des Mannes hören. Nur einen Sekundenbruchteil später wurden die bösen Worte aber durch den Schrei seiner Begleitung übertönt. »Hilfe!«, schrie die sichtlich verwirrte Frau, »Hilfe, bitte helfen Sie mir! Er will mich bestehlen. Er versucht mir die Tasche zu stehlen!«

Sofort blieben die Passanten die noch vor kurzer Zeit keinen Blick an der Dame verschwendet hatten stehen. Panisch sah sich Andreas um. »Halt, bleiben Sie stehen«, rief ein älterer, grauhaariger Herr und kam drohend auf van Geerden zu. Eine Frau telefonierte aufgeregt mit ihrem Handy, wild gestikulierend. »Aber das ist ein Missverständnis!«, protestierte Andreas. »Sie missverstehen die Sache. Ich wollte doch nur …« Weiter kam Andreas nicht. Die Handtasche der alten Dame sauste mit voller Wucht in sein Gesicht. Ein feuerroter Blitz durchzuckte seinen Kopf und für einen kurzen Moment war alles dunkel. Schon spürte er Hände die nach ihm packten und ihn mit Kraft nach unten rissen. Ganz von ferne hörte er Sirenen eines Polizeiautos. Dumpfe Stimmen drangen zu ihm vor, zerrissen die Dunkelheit und er realisierte die Situation.

Er lag auf dem Boden und ein junger, vielleicht zwanzigjähriger, Mann kniete auf seinem Brustkorb, hielt mit beiden Händen seine Arme auf den Boden gedrückt, fest. Andreas versuchte sich zu befreien, stellte aber sofort fest, dass sein Bewacher ihm deutlich an Körperkraft überlegen war. »Gut jetzt!«, hörte er eine Männerstimme, »Wir sind jetzt da. Lassen Sie ihn los.« Sein Bewacher lockerte seinen schraubstockfesten Griff und als er zurückwich, sah Andreas die zwei Polizisten, die gerade angekommen waren.

»Stehen Sie auf«, herrschte ihn der jüngere der Beamten an. Van Geerden rappelte sich auf und klopfte sich den Staub aus seinen Kleidern. »Was ist passiert? Eine Anruferin hat berichtet, dass eine alte Dame bestohlen wurde. Waren Sie das?«, fragte er in Andreas Richtung. »Nein, das ist ein Missverständnis. Ich wollte der Frau…« »Doch, er hat sie versucht zu bestehlen!«, unterbrach ihn die eben noch telefonierende Frau, »Ich kann alles bezeugen. Ich habe alles gesehen.« Andreas stockte er Atem. Er drehte sich zu der Frau um: »Ach, Sie haben alles gesehen. Dann ist Ihnen sicherlich auch aufgefallen, dass diese alte Dame hier über die Straße wollte und niemand hat ihr geholfen.« »So ein Quatsch!«, rief die eben noch so stumme, alte und hilfsbedürftige Frau, »ich habe hier auf den Bus gewartet. Dann kam er und hat versucht mir die Handtasche zu stehlen. Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen!« Mit einer mächtigen Bewegung schwang sie die Handtasche nach hinten, stoppte aber ihren Angriff als ihr der Polizeibeamte einen bösen Blick zuwarf.

»Gut jetzt. Mein Kollege wird Ihre Personalien aufnehmen und dann können Sie gehen. Danke, dass Sie der Dame geholfen haben. Wir brauchen mehr Menschen mit Zivilcourage.« Sein Blick fiel auf Andreas. »Wir beiden werden uns jetzt mal unterhalten. Ihren Ausweis bitte!« Ein Peitschenhieb konnte nicht mehr schmerzen, als das Wort Ausweis. Das war also nun das Ende seiner Reise. Nach nur so kurzer Zeit war sein Plan zum Scheitern verurteilt. »Den Ausweis!« Die erneute Aufforderung des Beamten riss ihn aus seinen Gedanken.

»Herr Wachtmeister. Bitte. Es stimmt, was ich Ihnen erzählt habe. Ich habe einen Zeugen. Der kann meine Geschichte bestätigen.« »Gut. Wo ist ihr Zeuge?« Andreas drehte sich zu dem Obdachlosen um. Er war weg. Er starrte in Richtung der Hauswand. »Na, wo ist er denn? Ihr Zeuge?« »Eben war er noch da. Er hat da drüben am Haus gesessen. Ein Obdachloser.« »Aha, ein Obdachloser also. Sein Name?« Andreas schwieg. »Sagen Sie schon. Wie heißt der Mann?« »Don Corleone«, schon während er den Namen sagte, wusste van Geerden, dass ihm das niemand glauben würde. Prustend lachte der Polizist los: »He Franz. Der Typ hier kennt Don Corleone. Den Kerl aus »der Pate«. Du weißt doch, dem Mafiafilm.« Auch sein Kollege Franz begann zu lachen. »Los, den Ausweis. Aber fix!«

»Ja, sofort«, bestätigte er die Aufforderung, »In meinem Rucksack. Er ist da drin!« »Dann holen Sie ihn. Oder brauchen Sie eine Extra-Aufforderung?« Andreas ging zu seinem Rucksack der nur etwa zwei Meter entfernt lag und begann drin zu kramen. Seine Gedanken rasten. Wie konnte er hier rauskommen? Es gab nur eine Möglichkeit. Noch bevor seine Idee zum Gehirn vorgedrungen war, rissen seine Hände die Tüte mir den neuen Kleidern und seinen Rucksack nach oben, schon rannten seine Beine. Er wusste nicht wohin er lief, denn er rannte einfach kopflos davon. Wie von ferne hörte er die Rufe der Polizisten, ihre Schritte auf dem Straßenpflaster, die Geräusche, die von den eng stehenden Häuserwänden reflektiert wurden. Die Schreie der Menschen, die ihn eben noch festgehalten hatten, wurden immer leiser. Nach nur wenigen Metern übertönte sein rasselnder Atem alles.

Aus den Augenwinkeln sah er die beiden Beamten hinter ihm her rennen. Eine leichte Kopfbewegung reichte aus um die ganze, verworren zusammenstehende Gruppe Menschen wahrzunehmen. Er hatte den einzigen Moment ausgenützt den er zur Verfügung hatte. Wieder eine leichte Drehung und er sah die beiden Verfolger, die immer kleiner wurden und schließlich stehen blieben. Erleichterung trat ein. Zum einen, weil er den mit Bäumen bestandenen Feldern immer näher kam. Das Gestrüpp konnte seine Rettung sein, sein Sichtschutz vor den Häschern. Zum anderen, weil diese Polizisten anscheinend ihren Sportunterricht regelmäßig zu schwänzen schienen. Ein weiterer Blick bestätige seine Vermutung. Die Beiden waren stehen geblieben, beugten sich vor, stützten ihre Hände auf die Knie, rangen nach Luft. Nun spürte er seine Lungen brennen. Seine Beine schmerzten. Hier stieg die Straße, die mittlerweile in einen Feldweg übergegangen war, schon mächtig an. Aber die Angst verlieh im Flügel. Nie hätte er geahnt, dass solch ein sportlicher Kerl in ihm ruhte. Und er lief, weiter und weiter. Immer wieder versuchte er die Geräusche zu deuten. Er erwartete, dass ihn die Beamten weiter verfolgen würden. Möglicherweise mit dem Auto. Also musste er hier weg. Also rannte er. Er lief so schnell wie ihn seine Beine tragen konnten. Und er schwitzte. Sein Fat-Suite, den er immer noch trug, war durchnässt vom Schweiß. Endlich erreichte er die Bäume, den Wald. Aber er lief weiter.

Schweißtropfen liefen ihm über die Stirn, blieben in den Augenbrauen hängen. Aber er lief. Erst als eine dieser salzgeschwängerten Perlen in sein Auge lief, sich hinter die noch immer auf dem Augapfel sitzende Kontaktlinse setzte, und sich partout nicht wegblinzeln ließ, wurde er langsamer. Er sah sich um. Zu seiner rechten Seite stieg der Berg nun steil an, stand dichtes Unterholz bis dicht an den Weg. Links fielen Bergwiesen steil ab. Er war sich sicher, hier stand er wie auf einem Präsentierteller, gut sichtbar für jeden der ihn verfolgte. Mit ein paar beherzten Schritten war er im dichten Unterholz verschwunden. Wie eine Mauer schlugen die Pflanzen hinter ihm zu, so als wollten sie sagen: »Fühl Dich sicher. Wir beschützen Dich!«

Hinter dem dichten Heckenbewuchs fand er nun einen, mit alten, hohen Fichten bewachsenen Wald vor, der jedes Herz erfreut hätte. Der Boden war moosbewachsen, wenig Unterwuchs verdeckte die Sicht, einfach eine Einladung der Natur, ihre Schönheit zu sehen, zu riechen und eine Zeit zu verweilen. Eine Schatzkammer der Natur, die dem Wanderer verlockende Versprechungen machte. Er jedoch hatte keinen Blick für die Schönheiten die ihm dieser Fleck bot. Er warf sich auf den feuchten, modrig riechenden Waldboden und war froh, dass das Moos seinen Fall bremste. Schwer atmend lauschte er nach den Geräuschen die vom Weg zu ihm drangen. Stille. Er glaubte, in der Ferne das Tuckern eines Traktors zu hören. Aber sonst war es still. Mit spitzen, vor Anstrengung zitternden Fingern, versuchte er die feurig brennenden Kontaktlinsen aus seinen Augen zu bekommen. Links reichte ein Versuch aus und schon lag die kleine, bunte Plastikschale auf seinem Finger. An seinem rechten Auge musste er länger herumfingern. Aber auch hier gelang es schließlich.

Sein Atem jagte noch immer. Nun fühlte er auch seine brennenden Oberschenkel, seine Waden die das steile Bergstück hoch die härteste Arbeit hatten leisten müssen. »So eine Scheiße!«, raunte er leise, »Fast wäre alles verloren gewesen. Und das nur, weil ich Idiot jemanden helfen wollte.« Eiskalt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Sein Geld! Seine ganzen Geldvorräte waren im Rucksack versteckt. Hoffentlich hatte er nichts verloren.

Er riss den Verschluss des Beutels auf und warf seine Wechselwäsche auf den Boden. Mit zittrigen Händen ertastete er den Boden, spürte die Geldbündel darunter. In mühevoller Arbeit hatte er einen zweiten Boden in den Rucksack eingenäht. Mit jedem seiner Versuche, mit jedem Nadelstich stieg dabei seine Bewunderung für die Menschen die nähten, eine so gute Fingerfertigkeit hatten, dass sie solche Wunderdinge herstellen konnten. Im alltäglichen Leben beachtete niemand diese Gegenstände so, wie sie es verdient hätten. Erleichtert atmete er auf. Alles noch da. Zittrig begann er die Kleidungsstücke wieder auf ihren Platz zu räumen.

Mit jedem Atemzug beruhigte sich sein erhitzter Körper wieder. Nun spürte er die Kälte, die Feuchte seines T-Shirts, seines Fett-Anzuges. Behutsam zog er die Sachen aus und streifte seine neuen, in Bregenz erstandenen Kleider über. Mit jedem neuen Kleidungsstück verwandelte er sich in einen neuen, ganz anderen Menschen. Eine Person nach der die Polizei nie suchen würde.

Noch eine Stunde blieb er sitzen, verscharrte seine alten Sachen im weichen Waldboden und spähte dann vorsichtig durch die Hecken auf den Weg. Alles war menschenleer. Trotz seiner müden Beine, einer den ganzen Körper umfassenden Erschöpfung, fiel ihm nun jeder Schritt deutlich leichter. Die Müdigkeit und die obendrein langsam hereinbrechende Dämmerung ermahnten ihn aber auch, sich Gedanken über einen Schlafplatz zu machen. Schon reifte in Andreas der Plan, in einem Waldstück wie diesem, würde er sein Lager aufschlagen, seinen neuen Schlafsack ausrollen und einfach der Welt entfliehen. Aber noch musste er weiter. Er wollte sich so weit wie möglich aus dem Einzugskreis der Stadt entfernen und somit weniger entdeckbar werden.

Nun stieg die Straße stetig an, rechts immer noch gesäumt von üppigem Wald, links die Sicht freigebend auf die fetten, hügeligen Wiesen auf denen vereinzelt in der Ferne Rinder standen. Schweiß lief Andreas über den Rücken, schwer ging sein Atem. Zunehmen spürte er die Ermüdung. Er war seit seinem Kleiderwechsel erst eine halbe Stunde gegangen und schon sehnte er sich nach einer Pause. Er zwang sich aber, weiter zu gehen und noch nicht aufzugeben. Wie wollte er ein neues Leben beginnen, wenn er nicht einmal die Kraft und das Durchhaltevermögen zum Weglaufen besaß? Also ging er langsam weiter. Und diese Langsamkeit verhalf ihm wieder zu neuer Kraft.

Erst jetzt fielen ihm die Blumen auf, die den Wegrand säumten. Wunderschöne Blüten schmückten die Wiesenblumen, in der Abendsonne Juwelen gleichend. Erstmals roch er auch den Wald, nahm die verschiedensten Gerüche wahr. Düfte, die ihm noch nie aufgefallen waren. Vielleicht versagte der Geruchssinn des Stadtmenschen, wenn er durch die ständige Feinstaub- und Abgasbelastung geschädigt, um das Stadtleben erträglich zu machen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl in einer realen Welt zu leben, geprägt und beeinflusst durch natürliche Vorgänge, Gerüche und auch die Anstrengung die er seinem Körper gerade abverlangte. Diese Eindrücke schienen sich mit der Dämmerung die nun langsam weiter fortschritt, noch verstärkt zu werden. Immer mehr gab nun die verschwindende Sonne den Platz frei für die Kühle der Nacht. Leise klang von unendlich weit weg die Glocke eines Kirchturmes, verkündete vom nahenden Abend.

Er musste sich jetzt im langsam schwindenden Licht einen Schlafplatz suchen. Also schob er sich wieder durch den dichten Heckenbewuchs. Hier war der Hochwald nicht so ausgeprägt wie der den er nachmittags gesehen hatte. Ziemlich dichter Unterwuchs war zwischen den Bäumen aufgegangen, bildeten so kleine Heckeninseln die umwachsen waren mit einer dichten, dicken Moosschicht die ihm nun als Nachtquartier dienen sollte. Alte Fichten- und Tannenbeständen, vereinzelt mit einigen Laubbäumen durchzogen, waren hier mit viel Abstand auf der Fläche verteilt und ermöglichten somit das neu aufkeimende Leben darunter, nahmen aber durch ihre ziemlich dicht stehenden Kronen so viel Licht weg, dass es hier im Wald schon deutlich lichtärmer war, als eben noch auf dem Weg. Verstärkt wurde die zunehmende Dunkelheit auch, durch die Wolken, die sich nun zunehmen vor die verschwindende Sonne legten.

In einem der Jungpflanzeninseln machte sich Andreas sein Lager. Hier war er vor Blicken geschützt. Sorgsam entfernte er alle Äste vom Boden, suchte mit den Händen nach Steinen die seinen Schlaf stören könnten und räumte alles beiseite. Schnell hatte er sich einen komfortablen Schlafplatz eingerichtet den er noch mit allerlei Moos polsterte. Er packte seine Habseligkeiten aus, rollte seinen Schlafsack aus und setzte sich darauf und aß etwas. Langsam kehrte seine innere Ruhe zurück. Gedanken über die Erlebnisse des Tages kamen in seinem Kopf hoch, an die Zugfahrt, seinen Freund der ihm geholfen hatte, die Angst vor Entdeckung die ihn seit heute Morgen begleitete, den Zwischenfall mit der Polizei. Aber auch an den Markt, den Mann der ihn angerempelt hatte. Hätte er ihm sein Portemonnaie geklaut, hätten ihn seine Karten vielleicht verraten. Diese Gefahr musste er ein für alle mal ausschließen. Kurzentschlossen griff er zu seinem Messer und schnitt die Karten in feine Streifen die er dann im Wald verstreute. Nacheinander fielen Krankenkassenkarte, Ausweis und der Führerschein der scharfen Klinge zum Opfer. Kurz zögerte er bei seiner Kreditkarte, verdrängte aber den wehmütigen Gedanken seinen Wohlstand für das aufkeimende Gefühl der Freiheit opfern zu müssen. Müde legte er sich in seinen Schlafsack. Zog, um eventuell eindringendem Ungeziefer den Weg zu versperren, den Reißverschluss bis unter sein Kinn zu und versuchte eine geeignete Liegeposition zu finden. Mehrmals drehte er sich, ein Vorgang der nicht ganz einfach zu bewerkstelligen war, da sich seine Arme ebenfalls im Schlafsack befanden. Lediglich sein Gesicht schaute noch heraus. Der Schlafsack verdiente seinen Namen zu Recht. Darin sah er wirklich aus wie eine Mumie. Es vergingen nur Minuten bis seine Augen zu und er in tiefen Schlaf fiel.

Weg, einfach weg

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