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Kapitel 4

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Als der Wecker seinen zweifelhaften Dienst antrat, hatte Hartmut das Empfinden, sein Kopf würde gleich zerspringen. Blitzschnell noch im Halbschlaf und trotz der enormen Schmerzen traf seine Hand den Knopf des Weckers. Stille trat ein. Er lauschte in die Dunkelheit. Leise hörte er das Atmen seiner Frau. Karen schlief tief und fest. Sein Blick fiel auf die Kontur ihres Gesichts, das im spärlichen Licht des Zimmers erkennen konnte. Er rollte sich zur Seite und starrte auf das Display der Uhr, deren Leuchtziffern den Raum in ein erotisches, rotes Licht tauchten. Vier Uhr. Eine unwirtliche, zerstörerische Zeit, die dem Normalschläfer Angst und Schrecken einjagen konnte, einem Langschläfer wie Hartmut aber seelische Qualen bereitete. Er hatte gerade drei Stunden geschlafen und spürte noch die Wirkung des Alkohols den sie bis in die späten Stunden getrunken hatten. »So viel zur Freundschaft. Ich muss Dich sehr mögen, Andreas van Geerden, sonst würde ich jetzt nicht so einen Unsinn mitmachen«, murmelte er leise und schwang seine Beine über die Kante des Betts. Nun fielen ihm auch wieder Einzelheiten des dubiosen Vorhabens ein, die seine Mitarbeit nötig machten.

Minuten später rauschte das Wasser mit mächtigem Druck durch die gemahlenen Kaffeebohnen und bald betörten der Geruch die Sinne Hartmuts. Ungeduscht trat Hartmut um siebzehn nach vier vor die Tür seiner Wohnung, stieg in seinen Porsche und fuhr nach Frankfurt-Sachsenhausen. Leichter Regen machte die Sicht durch die verschmierten Scheiben schwer. Alles schien wie eine späte Rache der getöteten Fliegen, die ihm jetzt, und das im buchstäblichen Sinn, vor Augen führten, dass er seine Scheibe öfter reinigen sollte. Seine trunkenen, alkoholgeschädigten Augen wollten sich partout nicht an die Reflexe, die die Lampen der Straßenbeleuchtung in den Regentropfen zauberten, gewöhnen. Er hatte das Gefühl, Schlangenlinien zu fahren. Dieses Empfinden schob er aber auf seine Angst vor der Polizei die bei einer Kontrolle seinen Cognacdunst sicher einen Meter gegen den Wind riechen würden. Aber trotz aller Schwierigkeiten erreichte er sein Ziel.

Er parkte den Wagen etwas abseits und ging die wenigen hundert Meter bis zu seinem Einsatzort zu gehen. Der leichte Nieselregen durchnässte sein Haar und er spürte die ersten Tropfen über seinen Nacken rinnen. Er trug trotz des Wetters keine wasserdichte Jacke. Schon bei seiner morgendlichen Vorbereitung war ihm aufgefallen, dass er überhaupt keine richtige Regenjacke besaß. In seinem Leben brauchte er auch kein solches Kleidungsstück. Für die kurzen Strecken, die er zu Fuß ging, diese Distanzen beschränkten sich unter normalen Umständen nur auf den Weg von seinem Auto in irgendein Gebäude, brauchte er keine wasserdichte Kleidung. Da tat es auch ein ordentlicher Schirm.

Auf keinen Fall wollte er sich auffällig kleiden. Schwarz schien ihm sehr passend und deshalb hatte er instinktiv zu einer schwarzen Jeans, einer Art Kleidungsstück das er eigentlich hasste, und einem dunklen, kurzärmeligen Hemd gegriffen. Eine schwarz-blau gemusterte Strickweste vervollständigte sein Outfit. In seinen Gedanken tauchten Bildfetzen aus billigen, tausendmal gesehenen Agententhrillern auf und mit jeder neuen Erinnerung wurden seine Schritte immer geschmeidiger. Gespenstig still war es um diese Zeit auf den Straßen einer Stadt von der man sagte, dass sie niemals schlief. Niemand kreuzte seinen Weg. Vielleicht lag es an der ungewöhnlichen Kühle, die in diesem August herrschte. Lang anhaltende Regenfälle hatten die Temperaturen sinken lassen, selbst die vorangegangenen Monate hatte das Wetterphänomen ‚El Niño‘ buchstäblich ins Wasser fallen lassen.

Weniger als zwanzig Minuten hatte seine morgendliche Unternehmung gedauert als er Andreas von Geerdens Wagen vor sich stehen sah. Hartmut sah sich um, konnte aber noch immer keine Menschenseele auf der Straße erkennen. Lediglich von ferne rauschte der Verkehr der kilometerweit entfernten Autobahn und zerstörte die friedliche Stille.

Er drückte auf den Knopf des Wagenschlüssels, den ihm Andreas am Vorabend zugesteckt hatte und mit einem Klicken entriegelte sich die Tür. Er warf seinen Pilotenkoffer auf den Rücksitz und legte seine Weste darüber. Ersatzkleidung hatte er in seinem Koffer dabei, denn so wollte er auf keinen Fall während einer Zugfahrt aussehen. Dieser Teil seiner Hilfe war für ihn sowieso mit der schlimmste. Ein erfolgreicher Anwalt wie er, würde mit dem gewöhnlichen Mob ein Zugabteil teilen müssen. Eine Vorstellung, die ihm Magenschmerzen bereitete. Sicherlich war er ein wenig abgehoben, aber er kannte die Menschen, hatte schon tausendmal Kontakt mit ihnen. Und er wusste, dass es eine dicke Schicht Abschaum in dieser Klasse gab. Diese einfachen Menschen machten ihm Angst. Deshalb versuchte er ihnen so wenige Reibungspunkte wie möglich zu bieten. Schon alleine die körperliche Nähe in den Zugabteilen machte ihm Angst. Natürlich hätte er einen Platz in der ersten Klasse reservieren können, aber Andreas und er hatten beschlossen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Also musste er sich mit dem gewöhnlichen Volk, den nach Alkohol riechenden Menschen, den pöbelnden Jugendlichen, im gleichen Zug die Zeit vertreiben. Aber wenigstens im Punkt Alkohol konnte er heute mit ihnen mithalten.

Ein letzter Blick durch die menschenleeren Gassen und er stieg in den Wagen. Innerhalb weniger Sekunden rauschte er die Straße durch den noblen Vorstadtteil entlang. Ein letzter prüfender Blick zur Tür seines Freundes trieb ihm einen Schauer über den Rücken. Hatte Andreas im Schatten des Eingangs gestanden oder war es die sich langsam lösende Anspannung, die ihn schaudern ließ? So eine blöde Idee. Nie hätte er sich auf ein solches Unterfangen einlassen sollen. Kurz vor einer Autobahnauffahrt der A5 hielt er an und begann ins Navigationssystem des Mercedes den Zielort seiner Fahrt einzugeben. Sekunden später wusste er dass er in etwa 4 Stunden sein Ziel erreichen würde, nach 420 Kilometern Fahrt würde er erschöpft aus dem Wagen torkeln und nochmal so lange mit dem Zug zurück nach Frankfurt fahren. Er öffnete das Handschuhfach und sah, dass das Smartphone seines Freundes dort lag. Ein kurzer Druck auf den Bildschirm bestätigte, dass das Gerät eingeschaltet war. Es sollte schließlich, nach dem Verschwinden van Geerdens, der suchenden Polizei die Fahrtroute anhand den Sendemasten in den es sich eingeloggt hatte, preisgeben. Und alles wäre erledigt. Und Andreas endgültig verschwunden. Traurigkeit drückte sein Herz während er bei erstaunlich freier Fahrt die edle Karosse über die nächtlichen Straßen fliegen ließ. Gedankenversunken verrann die Zeit und schneller als er gedacht hatte, waren erste Schilder mit der Aufschrift »Grimma« zu sehen. Während die Menschen dort um ihre Habseligkeiten gegen das Hochwasser kämpften, sollte dies der Befreiungsschlag für seinen Freund sein. Grundsätzlich eine überlegte, trotzdem aber eine dumme Idee, um jemand oder etwas verschwinden zu lassen.

Schon von weitem konnte Hartmut die Wassermassen erkennen, die das Flüsschen Mulde nun zu einem reisenden, alles verschlingenden Strom anschwellen hatten lassen. Dort sollte er Andreas Wagen in den Fluten versenken und mit ihm sollte Andreas von Geerden von der Bildfläche verschwinden.

Schon im Vorfeld hatte Andreas alles vorbereitet, sein Terminkalender hatte einen Eintrag im angegebenen Gebiet. Konsequent geplant bis ins kleinste Detail, waren van Geerdens Worte gewesen. Monate hatte er damit verbracht immer wieder kleine Geldbeträge abzuheben, denn nach seinem ‚Tod‘ würden auch die Kontobewegungen untersucht werden.

Und nach seinem Verschwinden sollte es Ute an nichts fehlen. Sie war die Alleinerbin eines Untoten und wäre finanziell mehr als abgesichert. Alleine seine Lebensversicherung belief sich auf eine halbe Million Euro. Außerdem hatte sie das Haus und ein Ferienhaus in Spanien. Also würde sie den Verlust verschmerzen können. Selbst an seine Unterlagen und seinen Laptop, die ja schließlich mit dem Wagen untergehen mussten, hatte er gedacht. Alles wasserdicht, so makaber das auch klang.

Selbst den Ort an dem der Wagen untergehen sollte, hatte er festgelegt. Diesen Platz steuerte Hartmut nun an. Schon von weitem konnte er die Einsatzmannschaften erkennen, die ausgerechnet dort versuchten, eine Brücke vom Schwemmgut zu befreien. Er beobachtete die Menschen, den Bagger, der mit einem riesigen Greifer ausgerüstet war und so versuchte das Treibgut vor den wenigen freien Durchgängen der Brücke zu entfernen. Ein Kampf zwischen David und Goliath, wobei eindeutig der Fluss die besseren Karten hatte. Gewaltige Flächen waren von den unglaublichen Wassermassen bedeckt. Er konnte sich nicht erklären, wo so viel Wasser herkam. Masten der Überlandleitungen, Bäume, Zaunpfähle und Schilder ragten wie Mahnmale aus den Fluten und zeugten von der Unwichtigkeit der Menschen und der Allmacht der Natur.

»So ein Mist« schimpfte Hartmut. Genau von dieser Brücke sollte der Wagen abkommen und in die reisende Mulde stürzen. Aber diese Möglichkeit war nun weg. Als ob das nicht schon dumm genug gelaufen wäre, tauchten auch noch zwei Einsatzfahrzeuge der örtlichen Feuerwehr auf, die mit lautstarkem Sireneneinsatz die Straße von dem Mercedes mit der fremden Nummer befreien wollten. Hartmut wendete den Wagen in einem Feldweg und ließ die Helfer vorbei, achtete dabei aber peinlichst darauf, sein Gesicht abzuwenden um nicht erkannt zu werden. Wie Nadelstiche spürte er die neugierigen Blicke der Sachsen auf seiner Haut. Kaum waren die beiden Fahrzeuge in der Ferne verschwunden, entspannte sich Hartmut wieder. »Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen!« Krampfhaft überlegte er, wie er den Plan doch noch zu einem guten Ende bringen konnte. Er schloss seine müden Augen und dachte nach. Müdigkeit versuchte ihn zu übermannen. Wie gerne hätte er auch nur einige Minuten den Schlaf über sich kommen lassen. Aber dann würde der sorgfältig ausgearbeitete Zeitplan durcheinander kommen.

Ein Klopfen gegen die Seitenscheibe riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Spaziergänger mit einem über und über mit Lehm beschmierten Hund stand neben dem Wagen. Hartmut drückte den Knopf des Fensterhebers und öffnete die Scheibe. »Na, hier können Sie aber nicht stehen bleiben. Das ist verboten. Hier darf man nicht parken«, sagte der etwa fünfzigjährige Mann in tiefstem sächsisch. Hartmut hatte Mühe ihn zu verstehen. »Oh, danke«, antwortete er, »aber ich habe mich verfahren. Aber gut dass sie mir das gesagt haben!« Er schloss wieder das Fenster und grummelte nur das Wort: »Blödmann!« vor sich hin.

Er startete den Motor und fuhr langsam rückwärts. Der Sachse blieb neben seinem klebrigen Hund stehen und sah ihm nach. Immer wieder drehten die Räder der Limousine durch, rutschten auf dem lehmverschmierten Asphalt des Feldwirtschaftsweges wie auf Glatteis hin und her. Angestrengt erreichte er die Straße die nach Naunhof führte und war froh, den Wagen wieder rollen lassen zu können.

Nach zwanzig Minuten fand er schließlich eine geeignete Stelle. Verwundert sah er den Gegenständen nach die der Fluss mitgerissen hatte. Bäume, von denen noch die grüne Krone aus dem Wasser herausschaute, Holz und Möbel aus den überschwemmten Gebieten, ja selbst ein Wohnwagen hatten die Wassermassen mitgerissen. Langsam wurde es Zeit den Plan in die Tat umzusetzen und hier war nun der geeignete Platz dafür. Hier war das Ufer flach genug. Auch die Landstraße die hier in einiger Entfernung vorbeiführte, lag noch teilweise im überfluteten Gebiet. Und was mit am wichtigsten war, hier gab es weit und breit keine Menschen. Er hielt und atmete erst mal tief durch. Wieder kamen Gedanken an Andreas, Ute und an seine Operation in ihm auf. Operation, ja das hörte sich gut an. Sorgfältig wischte er alle Fingerabdrücke vom Lenkrad und nahm seine Sachen aus dem Wagen. Jetzt nur keine Spuren hinterlassen.

Er stellte den Tempomat auf eine geringe Geschwindigkeit ein und stieg aus dem langsam fahrenden Wagen aus. Noch während das Fahrzeug langsam rollte, öffnete er die hintere Tür, griff nach seiner Jacke und dem Pilotenkoffer und schlug mit dem linken Bein die Tür wieder zu. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, folgte der Mercedes dem matschigen Feldweg. Nach etwa fünfzig Metern verließ er gemächlich seine Spur, geriet immer mehr auf das abschüssige Ufer und schließlich rutschte das Auto ins Wasser. Nie hätte Hartmut gedacht, dass das riesige Fahrzeug so schnell von den Wassermassen mitgerissen werden könnte und nach nur wenigen Sekunden war die ganze Fuhre in der Mulde verschwunden. Hartmut atmete erleichtert auf. Die Erleichterung dauerte aber nur wenige Augenblicke an, wich schlagartig aufkommender Panik als das Fahrzeugdach wie Phönix aus der Asche nun wieder aus den Wellen auftauchte.

»Scheiße, ich hab vergessen die Fenster aufzumachen!« dachte er noch, während er dem schwimmenden Auto nachsah. Vor allem, wie konnte bei einem Unglücksfall der Fahrer aus dem Wageninnern heraus geschwemmt werden? Ein fataler Fehler im sonst so perfekten Plan.

Ohne zu zögern griff sich Hartmut einen der umherliegenden Feldsteine und spurtete dem davon schwimmenden Wagen nach. Atemlos gelang es ihm auf die gleiche Höhe zu kommen, aber immer wenn er zum Werfen stehen bleiben musste, legte der Wagen scheinbar schlagartig an Fahrt zu und verschwand aus der Wurfdistanz. Resigniert blieb Hartmut stehen und blickt dem Wagen nach. Aus lauter Frust über seine fehlende Sportlichkeit schleuderte er den mehr als faustgroßen Stein in Richtung Auto und erstarrte. Unter mächtigem Geklirre zersprang die Rückscheibe in tausende, blinkende Stückchen und gab sekundenlang die Sicht ins Wageninnere frei. Danach verschwand der Wagen im Wasser.

Weg, einfach weg

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