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Kapitel 7

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Nun durfte er keine Zeit verlieren und musste an seinem Plan festhalten. Er rannte mit seinen Gepäckstücken unter dem Arm durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Die regenfeuchten Straßen spiegelten die Lichter der Straßenlaternen wider. Bei jedem Schritt, immer wenn einer seiner Schuhe auf den Boden auftraf, erzeugte das Zusammentreffen ein leises Patschen. Der leichte Nieselregen legte sich auf seine Kleidung, benetzte sein Gesicht, wusch mit jedem Tropfen die Zweifel die immer noch in seinem Kopf tobten, weg. Langsam ging die Dunkelheit in einen nebulösen Zustand zwischen Nacht und Tag über und machte ihn so sichtbar für Blicke die er vermeiden wollte. Nach nur wenigen Minuten war er an der vorbereiteten Stelle am Main angelangt. In den letzten Tagen vor seiner Flucht in die Freiheit hatte er hier große Steine zusammengetragen und unter einem der Weidensträucher deponiert. Nun öffnete er den Koffer, verstaute die Aktentasche und einige der Steine im Innenraum und verschloss den Reißverschluss wieder. Noch einmal überprüfte er die Löcher, die er in der harten Kofferseiten gebohrt hatte auf ihre Durchlässigkeit.

Vor dem Spiegel hatte er immer wieder versucht den Koffer wie ein Hammerwerfer um seine Körperachse rotieren zu lassen. Das schwere Gewicht des Gegenstandes machte dieses Unterfangen jetzt zur Tortur. Mühevoll drehte er sich um die eigene Achse, immer schwerer atmend, und als er genügend Schwung aufgebaut hatte, ließ er den Hartschalenkoffer los. Mit einem weithin hörbaren Platschen tauchte er in etwa fünf Metern Entfernung ins Wasser des Mains. Deutlich weiter hatte er ihn werfen wollen, aber er hatte seine Grenzen erreicht. Sekunden später war der Behälter verschwunden.

Schnell ging er die Straße entlang in Richtung des Frankfurter Hauptbahnhofes der nur zwei Kilometer entfernt war. Je näher er dem Ziel kam, je mehr füllten sich die Straßen mit Menschen, Fußgänger und Autos strebten dem Bahnhof zu, schienen alle die Stadt verlassen zu wollen. Mit dem zunehmenden Menschenaufkommen stieg auch seine Angst entdeckt zu werden. Er war eine Persönlichkeit die schön öfter in den städtischen Medien aufgetaucht war und mit seinen pflanzlichen Heilmitteln Aufsehen erregt hatte. Aber niemand schien ihn zu beachten. Mit jedem vorbeigehenden Mann, mit jeder in Gedanken versunkenen Frau die an ihm vorüber ging, festigte sich die Zuversicht in seinen Plan, schien ein positiver Ausgang immer bessere Aussichten zu gewinnen.

Aber wohin wollte er überhaupt? Spontan wollte er entscheiden, so jedenfalls das Ziel des Vorhabens. Kein berechenbares Ziel sollte es sein, deshalb wollte er erst vor Ort entscheiden. Und nun stand er vor der Anzeigetafel der abfahrenden Züge und konnte sich nicht entscheiden. Ratlos rasten seine Gedanken durch den Kopf und suchten eine Lösung. Er drehte sich um und beobachtete eine Gruppe japanischer Touristen, schwer bepackt mit Rucksäcken und Kameras, die die Eingangshalle schnatternd wie eine Horde Gänse betraten. »Die sechs machen Lärm für zehn« murmelte ein vorübergehender Reisender in Andreas Richtung und verschwand kopfschüttelnd. »Sechs, sechs ist die Lösung!« fuhr es durch van Geerden. »Ich werde mich umdrehen und die sechste Anzeige von oben ist mein weiteres Ziel.« Plötzlich war alles ganz einfach.

Der Blick auf die Anzeigetafel zeigte als sechsten Eintrag die Stadt Bregenz. Also ging seine Reise in den Süden, so viel stand schon mal fest. Eigentlich eine adäquate Lösung. Sein Auto würde in einigen Stunden im Osten Deutschlands in den Fluten verschwinden, er in einigen Stunden im Süden. Und so saß er mit gelöstem Ticket einige Minuten später im Regionalzug nach Ulm um dann weiter nach Bregenz zu fahren.

Schon nach wenigen Minuten hatte er einen Sitzplatz gefunden. Aufregung machte sich nun langsam in ihm breit. Hatte er mit seiner Verkleidung einen Joker oder eine Niete gezogen? Alles an ihm war nun Mittelmaß, nichts stach, jedenfalls nach seiner Auffassung, mehr ins Auge und ließ die Blicke hängenbleiben. Er betrachtete übe den Rand der Zeitung die er sich noch besorgt hatte, die mitreisenden Fahrgäste. Ein ewiger Strom von kommenden und gehenden, von ein- und aussteigenden Menschen, alle in Gedanken versunken scheinend, flutete an ihm vorbei wie Wasser das den Main herunterlief. Alles umflutend und doch teilnahmslos.

Traurig schauende Menschen, von denen kaum einer das Leuchten der Fröhlichkeit in den Augen hatte. Wohin war diese Gesellschaft auf dem Weg? War es die richtige Richtung die unsere Republik eingeschlagen hatte? Bei seiner letzten Zugfahrt waren ihm die Menschen wesentlich lockerer vorgekommen. Vielleicht aber lag es ja auch an der Erinnerung die alles schöner machte und die negativen Ereignisse und Eindrücke auszulöschen versuchte. Eine nützliche, aber auch eine unehrliche Eigenschaft unseres Gehirns, das damit die guten alten Zeiten erschuf. Möglicherweise waren die guten Jahrzehnte durch die wir gegangen waren, gar nicht so gut wie sie uns heute erschienen. Vielleicht waren sie nur ein schräges Zerrbild unseres Denkorgans, das damit einen Zustand der permanenten Unzufriedenheit in den Köpfen der alternden Bevölkerung erschuf. Und genau so sahen die Vorübereilenden aus. Unzufrieden. Durch die politischen Umstände in einer finanzgeilen, egoistischen Umwelt gefangen, die zunehmend nach der ‚Hire & fire‘-Methode zu leben begann und ihre menschlichen und sozialen Ideale vergaß. Waren wir damit auf dem richtigen Weg oder drohte damit der Kollaps unseres Sozialsystems? War nach dem Ausbluten der arbeitenden Bevölkerung nicht auch die Oberschicht dran? Fragen wie diese, drängend und bohrend, zerstörend und alle Zuversicht raubend, hatten ihn in diesen Zug getrieben. War es dieser Wohlstand den es anzustreben galt oder gab es wichtiger Dinge in der Welt die es wert waren, ihre Spur aufzunehmen und ihr zu folgen. Oft hatte er sich gefragt, warum die Menschen in aller Welt mit einem Lachen im Gesicht dem Tag begegneten und anscheinend glücklich waren. Das Ergebnis unseres auf Wohlstand und Reichtum ausgerichteten Lebens sah er hier. Menschen mit hängenden Mundwinkeln, die nie zufrieden zu stellen waren.

Solche und ähnliche Gedanken bestimmten seit langer Zeit sein Lebensgefühl, ein immer schlechter und unzufrieden werdender Zustand der Gedanken, die ihn zunehmend marterten. Und sie lenkten ihn von den Dingen ab, die normalerweise seinen Tagesablauf ausmachten. In seiner grauen Gedankenwelt gefangen, vergaß er oft die Zeit, grübelte über sein Leben nach und seine Zukunft. Und niemand konnte ihn verstehen. Kaum offenbarte er sich jemanden, schon sprach sein Gegenüber von Midlife-Crisis, von Pause machen und kürzer treten. Niemand verstand, dass er einfach nur frei sein wollte.

Schon flogen Stuttgart und Ulm an den Fenstern der Bahn vorbei. Mit jedem Kilometer den er sich von seinem Wohnort entfernte, entspannte er sich zusehends, ging die Angst vor zufälligem entdeckt werden immer mehr verloren. Um elf Uhr vormittags rollte die Bahn schließlich in Bregenz ein. Nur sechs Stunden hatte die Reise gedauert, sechs Stunden in Richtung Freiheit.

Als er aus dem Schatten des Zuges auf den Bahnsteig trat, brannte die Augustsonne schon unerbittlich vom Spätsommerhimmel. Der morgendliche Regen hatte Bregenz anscheinend vollkommen verschont. Keine Pfützen, keine feuchten Stellen, kündeten vom verregneten Sommer der ganz Europa im Griff hatte. Duft nach Wasser lag in der Luft, möglicherweise ein realer Eindruck, vielleicht aber auch nur ein Wunschdenken. Langsam schlenderte er mit seinem Rucksack, den er lässig über eine Schulter gehängt hatte, zum Ausgang des Bahnhofs und sah nun zum ersten Mal die glänzende Wasserfläche des Bodensees. Glitzernd wie mit tausenden Brillanten geschmückt, zeigte sich der riesige See von seiner lieblichen und reizvollsten Seite, versuchte jeden Besucher zu betören und trotzdem hatte er schon manchen Ruderer oder Schwimmer in seine Tiefen gezogen. Aber für Andreas war er eine gute Möglichkeit, sich für einen weiteren Weg zu entscheiden. Die drei Anrainerstaaten boten ideale Chancen zum Untertauchen.

Aber bevor er weitere Schritte planen konnte, waren es die menschlichen Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten. Und schließlich mussten erste Fragen geklärt werden. Wo sollte er schlafen? Normalerweise eine einfache Angelegenheit. Das Problem war nur, eine Schlafgelegenheit zu finden in der niemand seinen Ausweis sehen wollte. Ein grundsätzliches Problem dem er auf seinem ganzen Weg begegnen würde. Langsam schlenderte Andreas in die Bregenzer Innenstadt.

Weg, einfach weg

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