Читать книгу Beautiful Lights - Rüdiger Marmulla - Страница 5
Daphnis et Chloé
Оглавление„Lisa! Das war eine wundervolle Idee von dir, mich zu meinem Geburtstag in die Alte Oper einzuladen. Jetzt bin auch ich endlich volljährig.“ Ich nehme neben ihr in der Mitte des Parketts Platz. Die große Orgel über der Orchesterbühne ist imposant. Die Holztäfelung schenkt dem großen Saal eine warme Atmosphäre. Die Decke des Saals mit ihrem Metallgeflecht wirkt raffiniert. Die Konstruktion muss etwas mit der guten Akustik in der Alten Oper zu tun haben.
In der Hand halte ich das aktuelle Programmheft der Saison Frühjahr/Sommer 2040.
„Lars, gib mir bitte das Programmheft. Ich will sehen, was heute gegeben wird.“ Lisa nimmt das Heft von mir entgegen. „Es beginnt heute mit Claude Debussy. Es wird ‚La Mer‘ gespielt. Dann schließt sich Erik Satie mit ‚Gymnopédies‘ an. Der Konzertabend endet mit Maurice Ravel und der zweiten Suite von ‚Daphnis et Chloé‘. Also die beiden letzten Komponisten kenne ich gar nicht. Ich kenne nur Claude Debussy.“
„Mir sind alle drei unbekannt.“ Ich kratze mich am rechten Ohr. Papa und Heidi gehen gerne in die Alte Oper. Ich hatte sie dazu nie begleitet. „Das ist hier eine ganz neue Welt für mich.“
„Also, Lars – auf keinen Fall darfst du zwischen den einzelnen Sätzen eines Stückes applaudieren.“
„Nicht?“
„Nein. Niemals.“
„Wie weiß ich, wann ein Stück zu Ende ist?“
„Du schaust ins Programmheft und zählst die Sätze mit. Kritisch wird es, wenn zwei Sätze ineinander übergehen. Dann können die zwei Sätze wie ein einzelner Satz wirken. Und wenn du nicht mitzählen möchtest, dann achte einfach darauf, wann der ganze Saal applaudiert.“
„Ja. Das ist mir sympathischer.“ Ich lächele sie an.
Lisa zieht ihre Augenbrauen nach oben. „Die Königsklasse ist natürlich, wenn man die Kompositionen schon kennt und anhand der Musik weiß, wann ein Stück zu Ende ist. ‚La Mer‘ kenne ich gut. Das hören meine Eltern gern zuhause.“
Ich greife nach Lisas Hand. „Schön, dass wir jetzt verheiratet sind und du mit Francis mit mir wohnst. Ich hätte nicht länger warten können.“
Lisa nickt. „Zu mir mussten gleich zwei Männer ‚Ja‘ sagen – du und auch dein Vater. Schließlich brauchtest du seine Einwilligung, weil du vor einem Monat noch minderjährig warst.“
Lachend gebe ich zu: „Du warst mir mit deinem Vierteljahr, das du vor mir geboren bist, immer schon voraus.“
„Klar doch. Die Frau von heute nimmt sich einen jüngeren Mann.“ Lisa hat ein verschmitztes Lächeln um ihren Mund.
Ein Gong ertönt. Die letzten Hörer nehmen Platz. Die hellen Lichter im Saal werden gelöscht. Die Spots bleiben auf die Orchesterbühne gerichtet. Ich denke daran, wie ich vor vielen Jahren mein erstes Konzert mit den Stadtratten in der Festhalle erlebt habe. Hier, in der Alten Oper, ist alles so viel feierlicher und vornehmer. Während Debussy gespielt wird, schaue ich Lisa an. Sie ist so unendlich schön. Ihr Haar. Ich liebe ihr schulterlanges dunkelblondes Haar. Ihre Gesichtszüge. Ich liebe ihre zarten Gesichtszüge. Ihre Gestalt. Ich liebe alles an ihr. Lisa verfolgt das Konzert sehr aufmerksam und bewegt. Ich halte mich streng an Lisas Applaus-Regel.
Das letzte Stück wird gegeben. Es besteht nur aus einem einzigen Satz. Es beginnt ganz leise. Und es baut sich zu einem erhebenden Crescendo auf. Lisa drückt meine Hand ganz fest, während die Musik anschwillt. Der Saal bebt. Es wird wieder sanfter. Lisa flüstert mir ins Ohr: „Das ist wie ein Sonnenaufgang. So schön. So überwältigend. Ich sehe alle Farben der Morgenröte vor mir.“
Ich sehe es Lisa an, dass ihr Herz von nun an für Maurice Ravel schlägt.
Der Konzertabend geht zu Ende. Der Saal wird wieder erhellt und wir gehen nachhause. Auf dem Weg zur S-Bahn schwärmt Lisa: „Ich muss mehr über Maurice Ravel erfahren. Und über Daphnis und Chloé.“
Kaum sind wir in unserer Wohnung im Sonnenring angekommen, schlägt Lisa im Internet den spätantiken Liebesroman nach. Voller Begeisterung liest sie mir vor: „Die Hirtengeschichte von Daphnis und Chloé spielt auf der ägäischen Insel Lesbos. Die zwei wachsen als Findelkinder bei Hirten heran. Ein neues, unbekanntes Gefühl steigt in Chloé auf, als sie Daphnis beim Baden zusieht. Das junge Mädchen spürt das Verlangen, ihn wieder baden zu sehen. Die erotische Spannung zwischen den beiden wird immer stärker – bis Seeräuber die Küste überfallen und Daphnis entführen.“
Ich schaue Lisa an. „Wer hat das Stück geschrieben?“
„Der griechische Schriftsteller Longos. Ach und schau nur – hier. Weißt du wer das Stück über Daphnis und Chloé am meisten verehrte?“
„Johann Wolfgang?“
„Genau, Lars. Woher weißt du das? Wie kamst du auf Goethe?“
„Wir Frankfurter müssen doch zusammenhalten.“ Jetzt lache ich. Da habe ich tatsächlich richtig getroffen.
Lisa setzt wieder an und liest aus der Online-Bibliothek: „In der Trennung von Daphnis erkennt Chloé, dass gegen den Eros kein Mittel hilft – nicht, was getrunken, nicht was eingenommen, nicht was in Zauberliedern ausgesprochen wird. Kein Mittel kann helfen als allein der Kuss, die Umarmung und das Zusammenliegen mit nackten Leibern.“
„Lisa?“
„Ja, Lars?“
„Francis ist bei deinen Eltern. Wir haben die Nacht allein für uns.“
„Ja, Liebling. Lösche das Licht. Heute Nacht sind wir Daphnis und Chloé.“