Читать книгу Südsternjahre - Die Australien-Saga Gesamtausgabe - Rebecca Maly - Страница 10
KAPITEL 1
ОглавлениеCAMBRIDGE, Mai 1880
In diesem Moment hasste Florence ihren Vater. Wäre sie noch einen Augenblick länger geblieben, hätte sie ihm vor seinem Gast laut die Meinung gesagt. Deshalb war sie nur wütend davongestürmt.
Aus Professor Niles‘ Arbeitszimmer hinaus, durch die Flure der ehrwürdigen Universität von Cambridge, quer über den belebten Hof bis zu ihrem Lieblingscafé an der Bridge Street, wo sie völlig außer Atem ankam.
Zum Glück gab es noch freie Tische, sonst wäre sie an diesem Tag wirklich vollends verzweifelt. Florence hatte sich auf eine kleine schmiedeeiserne Bank gesetzt und gehofft, ihre Gefühle ließen sich so problemlos ordnen wie ihre Kleidung.
Der Oberstoff aus Seide raschelte leise, als sie die dunkelgrünen Falten glatt strich.
Am Saum ihres Ärmels haftete noch eine winzige, blau schillernde Feder. Florence zupfte sie ab und riss dabei versehentlich einen Faden aus dem Spitzensaum, der sich daraufhin hässlich kräuselte. Ruiniert.
Zornig blies sie die Feder davon und sah zu, wie sie von einem schwachen Windzug durch das Café getragen wurde und schließlich im Rinnstein der kopfsteingepflasterten Straße liegen blieb. Vom Urwald Südamerikas in den Dreck der Gassen von Cambridge. Es war so absurd, dass Florence am liebsten laut aufgelacht hätte.
Sie tat es nicht. Die anderen Gäste beobachteten sie auch so schon mit einer Mischung aus Irritation und Herablassung, seit sie vor wenigen Minuten mit gerafften Röcken und geröteten Wangen hereingestürmt war. Drei junge Männer schauten immer, wenn sie meinten, Florence bemerke es nicht, zu ihr hinüber und redeten leise.
Sie war sich sicher, das Trio schon einmal gesehen zu haben. Es waren Studenten ihres Vaters aus den ersten Semestern. Der Versuch, sie zu ignorieren, scheiterte kläglich, doch Florence war diese Blicke gewohnt. Viele Männer wollten nicht einsehen, dass inzwischen auch Frauen studierten – und dabei womöglich sogar besser waren als sie. Universitätsabschlüsse durften die Studentinnen allerdings noch immer nicht machen, und bislang sah es auch nicht so aus, als würde sich in den nächsten Jahren etwas daran ändern.
Mittlerweile ließ die Hitze, die von ihr Besitz ergriffen hatte, langsam nach, doch wütend war Florence noch immer. Sie fühlte die Aufregung in ihrer Kehle pochen und wedelte sich mit einer gestärkten Serviette Luft zu.
„Ihre Limonade, Miss.“ Der Kellner wischte mit einem Lappen über den ohnehin glänzend polierten Tisch und stellte das Getränk vor ihr ab.
Florence legte ihre Hände um das kühle Glas und schloss einen Moment lang die Augen. Ja, jetzt war es besser. Sie atmete tief durch. Dem Getränk entströmte ein intensiver Minzduft.
Eine Kutsche ratterte vorbei. Tauben flogen mit klatschenden Flügeln auf. Ein Zeitungsjunge pries leidenschaftslos seine Ware an. Florence meinte, neben seiner dünnen Stimme die Orgel der Trinity College Chapel zu hören. Eine Fantasie von Bach, wenn sie sich nicht irrte, der Organist spielte sie häufig. Auch in ihrem Arbeitszimmer konnte sie die Musik aus der Kapelle oft hören. Die Klänge waren beruhigend.
Als schließlich vertraute Schritte über den Dielenboden des Cafés klackerten, fühlte sie sich beinahe schon wieder, als sei nichts geschehen.
Sie hob den Kopf und sah sich ihrer besten Freundin gegenüber. Rosalie Whittingham wirkte wie das blühende Leben. In ihrem veilchenfarbenen Kleid mit rüschiger Schleppe und dem Schirmchen aus zarter Spitze zog sie alle Blicke der vornehmlich männlichen Gäste auf sich.
„Ich bin gekommen, so schnell ich konnte“, sagte sie und klang ein wenig außer Atem.
Florence stand auf und umarmte sie. Rosalie schien von so viel Nähe überrascht und erwiderte die Geste nur zögernd. Besorgt musterte sie Florence. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was ist denn? Der Botenjunge sagte, ich müsse so schnell wie möglich herkommen.“
„Mein Vater!“, seufzte Florence und setzte sich. „Immer wieder mein Vater.“
„Was ist denn dieses Mal vorgefallen?“
„Er behandelt mich, als sei ich sein Hausmädchen.“
Rosalie nahm Florence‘ Hand und drückte sie aufmunternd. „Liebe Freundin …“
„Ach Rosie.“
„Du weißt doch, wie er ist. Sei froh, dass er dich hat studieren lassen und dass du mit siebenundzwanzig immer noch nicht heiraten musstest.“ Rosies hübsches Apfelgesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an. Auch sie hatte studiert, gemeinsam mit Florence, aber dann ehelichte sie einen Kaufmann, und ihr Gatte erlaubte nicht, dass sie sich weiterhin der Forschung widmete. Sie tat es natürlich trotzdem, doch die Universität betrat sie nur noch unter Vorwänden, wie etwa einem Besuch bei ihrer Freundin. Ihr Mann handelte mit Rohstahl und hielt die Interessen seiner jungen Frau allenfalls für eine harmlose Marotte.
„Nun erzähl schon, was passiert ist. Sollten heute nicht die Artefakte aus Südamerika ankommen?“
„Doch, und das sind sie auch, aber …“ Florence seufzte. Rosie sollte alles von Anfang an erfahren.
Der Tag hatte eigentlich recht gut begonnen. Schon früh am Morgen war Florence gemeinsam mit ihrem Vater zur Cambridge University gefahren. Wie stets hatte sie der Diener der Familie Niles mit dem einspännigen Landauer dorthin gebracht.
Während der Professor zu seinen Studenten in den Vorlesungssaal ging, führte der Weg seiner Tochter in das Arbeitszimmer, das sie mit ihm teilte. Es lag an der Westseite des weitläufigen Komplexes und besaß mehrere große Fenster, durch die viel Licht hereinfiel.
Florence zog die dicken dunkelbraunen Samtvorhänge zurück, welche die Exponate ihres Vaters vor dem Ausbleichen schützen sollten. An diesem Tag aber würden sie das Licht brauchen.
Alles sollte vorbereitet sein, wenn die Kisten mit den kulturellen Schätzen aus der Amazonasregion eintrafen. Florence scheute keine Anstrengung. Alle drei großen Schreibtische schob sie in einer Reihe unter die Fenster und wischte sie sauber, bis kein Staubkorn mehr darauf zu sehen war.
Das Kleid, das sie heute trug, war dafür denkbar ungeeignet. Doch ihre Mutter Luise hatte so lange auf sie eingeredet, bis sie sich gefügt hatte.
Vielleicht finden wir ja doch noch einen Mann für dich, mein Kind, hatte sie gesagt. Mr Plumberry ist ein angesehener Gentleman und weit gereist. So etwas magst du doch.
Natürlich gefielen Florence weit gereiste Männer, weil sie oft nicht so engstirnig waren wie die daheimgebliebenen. Aber auch die Weitgereisten fanden wenig Gefallen an ihr, weil sie in Diskussionen nicht immer den Mund halten konnte und ihr Studium nicht nur aus vornehmer Langeweile absolviert hatte. Die Seite von ihr, die sich danach sehnte, aus dem elterlichen Haus auszubrechen und vielleicht auch einmal geliebt zu werden, hatte sie dazu gebracht, einzuwilligen und das unpraktische Ding anzuziehen, das auf Höhe der Knie breit und rüschig wurde wie das zusammengelegte Rad eines Pfaus. Mehrmals wäre sie fast über die kurze Schleppe gefallen, die stets im Weg war, wenn Florence mal hierhin, mal dorthin eilte, Zeichenmaterial und Notizbücher zusammensuchte oder das Mikroskop aus seiner Vitrine auf den linken der drei Tische schleppte.
Als es schließlich an der Tür klopfte, tupfte sie sich soeben mit einem angefeuchteten Taschentuch den dünnen Schweißfilm von der Stirn.
„Herein, bitte“, rief sie.
Es war der lang ersehnte Lieferant, der die Kisten aus London brachte, die mit der SS Ulysses den Atlantik überquert hatten. Seine Ankunft war telegrafiert worden. Nun, da er die ersten drei Kisten auf einem Wagen hereinschob, wuchs Florence‘ Aufregung ins Unermessliche.
Der Mann, ein kräftiger Mittvierziger mit üppigem Backenbart, wurde von einem Pförtner der Universität begleitet. Er tippte sich an die Mütze. „Guten Tag, die Dame, dies ist für Professor Niles.“
„Meinen Vater. Stellen Sie die Kisten doch bitte dort ab, und die flache bitte direkt auf den Schreibtisch.“
„Gerne.“
Von Mr Plumberry fehlte natürlich jede Spur. Das würde ihrer Mutter Luise nicht gefallen, doch Florence war es ganz recht so. Sie hatte auch gar nicht erwartet, dass der Tropenholzhändler, der den Ankauf der Stücke durch eine Spende finanziert und auf seinem Frachter transportiert hatte, persönlich vorbeikommen würde.
Florence versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen, und wartete geduldig, bis der Handkarren und noch ein zweiter entladen waren. Mit einem Trinkgeld verabschiedete sie den Lieferanten und dankte dem Pförtner, der mit einer Verbeugung die Tür zuzog. Der Mann hatte Werkzeug zurückgelassen, mit dem die zugenagelten Holzkisten geöffnet werden konnten.
Aufgeregt lief Florence von einer zur anderen und strich über die rauen Oberflächen. Selbst das Holz stammte nicht von diesem Kontinent. Stempel und Aufkleber zeugten von der langen Schiffsreise.
„Wenn ich doch auch nur ein einziges Mal im Leben mit eigenen Augen sehen könnte, wo ihr hergekommen seid“, sagte sie leise und ein wenig ehrfürchtig.
Die Chancen, je zu einer eigenen Forschungsreise aufzubrechen, waren verschwindend gering. Auch wenn ihre Publikationen womöglich besser waren als die ihrer männlichen Kollegen, würden jene im Gegensatz zu Florence ohne großen Aufwand Forschungsgelder für eine Reise bekommen. Eine Frau dagegen wurde als Forscherin nicht ernst genommen.
Wie stets verdarb ihr dieser Gedanke die Stimmung. Florence setzte sich auf einen Stuhl und steckte ihre Haare fest. Sie waren dunkelbraun und dick und widersetzten sich meist den Versuchen, zu den neuesten modischen Frisuren aufgesteckt zu werden. Vielleicht waren sie auch nur Ausdruck von Florence‘ Gedanken, die mehr Raum brauchten als die engen Bahnen, die einer Frau vorgegeben waren.
Warum kam Vater nicht endlich?
War er denn nicht neugierig, was sich in den Kisten verbarg? Ungeduldig harrte sie aus und starrte die Transportbehälter an, während das Ticken der Standuhr aus dem Büro ihres Vaters zu ihr herüberdrang. Der monotone Rhythmus zerrte so an ihren Nerven, dass sie meinte, es nicht länger aushalten zu können.
Er hat nicht gesagt, dass ich nicht schon einmal hineinschauen kann.
Wie von allein schloss sich ihre linke Hand um einen schlanken Metallkeil. Sie würde eine Kiste öffnen, nur eine einzige.
Ihre Wahl fiel auf die große flache Box, die von Anfang an Florence‘ Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.
Der erste halbherzige Versuch schlug fehl.
Harzgeruch entströmte der Delle im Holz. Erneut schob Florence den Keil vorsichtig unter den Deckel und drückte ihn noch einmal mit aller Kraft nach unten. Der Spalt wurde größer. Flugs arbeitete sie sich an allen Seiten entlang, bis der Deckel schließlich hochsprang. Florence legte das Werkzeug weg, hob den Deckel ab und stellte ihn zur Seite.
Zuerst sah sie nichts, da die Kiste mit Holzspänen gefüllt war. Darunter kam ein merkwürdiger Stoff zum Vorschein. Florence untersuchte ihn und meinte erkennen zu können, dass er aus Pflanzenfasern hergestellt worden war.
Kaum vorzustellen, dass die letzten, die das Tuch berührt hatten, primitive Wilde gewesen waren, die in Hütten im Urwald hausten. Was darunter sichtbar wurde, verschlug ihr schier den Atem.
Es war eine Holzmaske mit einer Haube aus bunten Federn in allen Farben des Regenbogens. Kleine Muscheln, Knochen und Perlen schmückten die Maske noch zusätzlich.
Florence beugte sich vor, um jedes Detail genau erfassen zu können, und nahm den säuerlichen Geruch von Pflanzensäften wahr, vermischt mit schwachen Rauchnoten.
Diese Maske war ein Schatz! Florence hob sie vorsichtig heraus und bettete sie auf den Faserstoff. Dann durchsuchte sie die Kiste weiter und förderte eine ganze Anzahl kleinerer Statuetten zutage. Säuberlich reihte sie diese nebeneinander und stellte kleine Schildchen mit Nummern auf. Die Kiste, aus der die Objekte stammten, platzierte sie direkt darunter unter dem Tisch.
Als sie schließlich hörte, wie ihr Vater sein Büro betrat, hatte sie soeben das letzte Frachtstück geleert und reinigte die darin gefundenen Lederschilde mit einem Pinsel von den Holzspänen, die sich während des Transports in den Tierhaaren verfangen hatten.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. So musste es sich anfühlen, wenn man sich frisch verliebte!
Jedes dieser Stücke atmete Exotik und Fremde. Und Florence wollte sie alle genauestens studieren: sie abzeichnen, auf gemeinsame Ornamente und Muster untersuchen und sich intensiv mit den handwerklichen Fähigkeiten dieses Stammes auseinandersetzen.
Vielleicht würde sie Hinweise auf dessen Glauben finden, denn das interessierte sie am meisten. Die vielen Masken deuteten bereits in diese Richtung. Während die eine Hälfte geisterhafte Gesichter zeigte, wies die andere riesige Reißzähne auf, die teils aus Jaguarfängen, teils aus Vogelschnäbeln bestanden.
Vater sprach mit jemandem. Ganz deutlich waren die Stimmen von zwei Männern zu hören. Florence beachtete sie nicht, sondern arbeitete weiter. Schon formten sich erste Thesen in ihrem Kopf. Sie würde die Stücke mit anderen vergleichen, mit Forschern sprechen, die sich mit benachbarten Stämmen befasst hatten.
Die Tür wurde geöffnet. „Ah, sehen Sie, meine Tochter hat schon alles vorbereitet.“
Florence richtete sich auf und wurde von einem jungen Mann gemustert. Blass, sommersprossig, mit fast weißblondem Haar und einem Schnurrbart, der ihm ganz und gar nicht stand. Es war einer von Vaters Studenten, sie erinnerte sich genau an ihn. Er war faul und schaffte es vermutlich nur deshalb durch die Prüfungen, weil seine Familie regelmäßig große Spenden für die Forschung tätigte.
Auch jetzt schien er nur Augen für Florence zu haben, statt die ungewöhnlichen Artefakte zu mustern, die er offenbar nicht einmal bemerkte.
Banause, dachte Florence empört und würdigte ihn keines Blickes.
„Es sind großartige Stücke dabei, Vater!“
Professor Niles trat neben sie, zückte sein Monokel und lief die Tische entlang. Sein Student beeilte sich, ihm zu folgen und zumindest Interesse vorzutäuschen.
Florence hatte ihn bereits wieder vergessen, zu sehr brannte sie darauf, mit Vater ihre Ideen zu diskutieren.
„Ich werde zuerst einen Katalog anlegen und sie dann zeichnen. Sicher gibt es doch Aufzeichnungen zu den einzelnen Stücken. Hat der Padre sie mitgeschickt?“
Ihr Vater murmelte etwas und hob eine Statuette an. Die Stücke stammten ursprünglich aus einer Mission, in der die frisch bekehrten Indios ihre alten Götter gegen den Segen des neuen Gottes tauschen konnten. Der zuständige Padre hatte sich entschieden, die Stücke nicht zu verkaufen, sondern sie gegen großzügige Spenden an Universitäten und Museen abzugeben. Mr Plumberry war dabei als Mittelsmann aufgetreten. Für den Padre war es sicherlich ein einträgliches Geschäft. Genau deshalb hoffte Florence, vergleichbare Stücke in anderen Sammlungen zu finden.
„Ich werde versuchen, mit jedem zu sprechen, der in der Region bereits Forschungen betrieben hat.“
Professor Niles richtete sich zu seiner vollen Größe auf und streckte dabei seinen Wohlstandsbauch vor. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung, breit in den Schultern, mit einem kräftigen Kiefer, der durch einen üppigen Backenbart noch betont wurde. Florence hatte ihr dunkles, üppiges Haar von ihm geerbt, wenngleich seines sich mittlerweile lichtete. „Nicht so schnell, Florence“, brummte er.
„Ich weiß, ich weiß, ich denke wieder schneller, als ich reden kann.“
„Du redest schon schnell genug“, meinte er kühl und steckte sein Monokel in die Tasche seiner karierten Weste. „Wer hat denn gesagt, dass du mit diesen Sachen arbeiten sollst?“
Florence wurde schlagartig heiß und kalt. „Was soll das heißen?“
Er deutete auf den jungen Mann und erwiderte: „Mein Student Leopold Miller wird seine Abschlussarbeit über die Artefakte schreiben. Aber wenn er einverstanden ist, könntest du gerne als Assistentin für ihn tätig werden.“
Der weißblonde Miller schenkte ihr ein schmieriges Lächeln. „Gerne lasse ich mich von einer derart hübschen Person wie Ihnen unterstützen. Sie haben ja sogar schon angefangen, die Stücke zu reinigen. Vielen Dank dafür.“
Florence ließ den feinen Dachshaarpinsel, den sie bis dahin in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch fallen. Sie kochte vor Wut. Vater würde doch nicht wirklich diese großartigen Kunstwerke einem ignoranten Dummkopf überlassen, der womöglich noch anfangen würde, sie in ihre Einzelteile zu zerlegen!
Doch es sah ganz danach aus. Professor Niles ignorierte ihren stillen Protest und legte stattdessen Miller freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Sie werden sehen, wenn Sie es richtig anstellen, wird Sie dieser Fundkomplex im Nu bekannt machen.“
„Das wäre großartig, Herr Professor.“
Miller machte noch immer keinerlei Anstalten, sich die Stücke anzusehen, stattdessen klebte er an Florence‘ Vater, als habe er vor, sich von ihm adoptieren zu lassen.
Der Professor sah sich über die Schulter nach ihr um und schenkte ihr ein gutmütiges Lächeln. „Florence, mein Kind, wir haben hier noch einiges zu besprechen. Sei so lieb und mach uns einen Tee.“
Florence ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie auf das Kaffeehaustischchen eingeschlagen.
„Das hat er wirklich gesagt?“ Rosalie beugte sich ungläubig vor.
„Ja.“
„Und was hast du dann getan?“
„Ich habe mich gerade so lange zusammengerissen, bis ich aus dem Zimmer war. Dann bin ich davongestürmt. Und ich fürchte, dabei habe ich geweint, auch wenn sie das beide nicht verdient haben.“
Rosalie sah sie aufmunternd an und verzog ihre vollen Lippen zu einem schelmischen Lächeln. „Das heißt, die Herren warten noch immer auf ihren Tee?“
„Ja. Ja, das heißt es wohl. Heute Abend werde ich mir was anhören können. Vater wird sehr wütend sein.“
„Ein Sturm im Wasserglas. Du weißt doch, wie vernarrt er in dich ist.“
„Aber nur, weil Mutter ihm keinen Sohn geschenkt hat. Hätte ich einen Bruder, wäre ich sicher längst unter der Haube und hätte die Universität niemals von innen gesehen.“
„Mag sein.“ Rosalie nippte an ihrer Limonade. „Hoffen wir einfach, dass dein Vater es sich noch einmal überlegt.“
„Oder dass Miller sich bis auf die Knochen blamiert. Der Kerl interessiert sich nämlich weder für Völkerkunde noch für die Artefakte. Das Einzige, was ihn kümmert, sind hübsche Mädchen und wie er das Geld seiner Familie nutzen kann, um unter ihre Röcke zu kommen, ohne sie heiraten zu müssen.“
Rosalie zog empört die Nase kraus, dann seufzte sie. „Ich wünsche dir so, dass wenigstens du eine angesehene Forscherin wirst. Für mich ist das nun endgültig vorbei.“
„Meinst du nicht, dass dein Mann dir erlaubt …“
Das Gesicht ihrer Freundin wurde blass. „Ich soll erst mal ein paar Kinder bekommen und sie aufziehen. Glaubst du denn, dass ich in zwanzig Jahren wieder an die Universität zurückkehren könnte? Niemals. Ich habe ausgeträumt.“
„Das tut mir leid. Dir hätte ich die Sammlung sogar freiwillig überlassen.“
„Das ist so lieb von dir. Aber wenn ich schon keine Chance mehr bekomme, etwas von der Welt zu sehen, dann musst wenigstens du Erfolg haben. Vielleicht müssen unsere Töchter dann eines Tages nicht mehr bei jedem Dozenten betteln, um im Hörsaal sitzen zu dürfen, und können vielleicht sogar ihren Abschluss machen.“
„Klingt nach einem Märchen.“ Florence war nach den heutigen Geschehnissen niedergeschlagen und ohne Hoffnung.
Im Moment konnte sie sich nur schwerlich vorstellen, morgen wieder zusammen mit ihrem Vater in der Universität zu arbeiten, geschweige denn von Reisen in die Ferne zu träumen.
Das letzte Mal, als die Studentinnen dafür hatten kämpfen wollen, auch zu Prüfungen zugelassen zu werden, waren die männlichen Studenten randalierend durch die Straßen gezogen.
Zu Unruhestiftern wurden aber schließlich die paar Dutzend Frauen an der Universität erklärt. Als ihnen gedroht wurde, dass man sie wieder gänzlich ausschließen werde, hatten sie sich zurückgezogen. Die Zeit war noch nicht reif.
Noch nicht.
Rosalie ließ nicht locker und drückte Florence‘ Hand. „Du musst mir etwas versprechen, liebe Freundin.“
„Wenn es in meiner Macht steht?“
„Falls Gott es gut mit dir meint und du doch in die Ferne aufbrichst, musst du mir viele Briefe schreiben, damit ich alles durch deine Augen miterleben kann.“
„Versprochen. Auch wenn ich nicht die blasseste Ahnung habe, wie ich überhaupt so weit kommen soll.“
„Ich fürchte, das Einfachste wird sein, den richtigen Mann zu heiraten. Einen Pastor, der sich zur Mission berufen fühlt, oder einen Forscher.“
Florence lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hob abwehrend die Hände. „Heiraten? Niemals.“
„Das ist skandalös“, kicherte Rosalie, und dann lachten sie beide.
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