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KAPITEL 2

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ANWESEN DER NILES, CAMBRIDGE

Der Streit mit Florence‘ Vater lag zwei Tage zurück, und noch immer gingen sie einander aus dem Weg. Professor Niles hatte seine Meinung nicht geändert. Echte wissenschaftliche Arbeit war nur etwas für Männer.

Florence wusste, dass sie ihn nie würde umstimmen können. Ganz gleich, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie würde nie seinen Ansprüchen genügen.

Sie war auf der Hut. Es lag Streit in der Luft, und die Stimmung war angespannt wie vor einem heraufziehenden Gewitter. Alle waren nervös und reizbar.

„Wir fahren in einer halben Stunde, Florence“, klang die Stimme ihrer Mutter herauf. Schon seit dem Mittag gab es für sie kein anderes Thema mehr als das Frühjahrsfest eines angesehenen Sammlers und Vorsitzenden der Historischen Gesellschaft von Cambridge. Jeder von Rang und Namen würde dort sein.

Für Florence war nur eines wichtig: Auch Rosalie war da, und sie würden sich endlich wieder eine schöne Zeit machen können. Außerdem hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, auf Gleichgesinnte zu treffen, die sich nicht daran störten, dass sie eine Frau war.

Florence bewohnte zwei Zimmer im ersten Stock des Anwesens. Sie hatte mehrere Kleider auf dem Bett ausgebreitet. Es war klar, welches ihrer Mutter gefallen würde. Das rechte war aus aquamarin schillerndem Stoff und passte angeblich perfekt zu Florence‘ blauen Augen. Die Schleppe war ungewöhnlich lang und würde den Abend wahrscheinlich nicht unbeschadet überstehen. Aber es war ein Kleid, mit dem man auf Männerfang ging.

Doch genau das hatte Florence nicht vor. Das andere Kleid war von einem hellen Cremeton, Akzente in der Farbe sommerlicher Wälder vervollkommneten es. Ein sattes dunkles Grün, Urwaldgrün vielleicht. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Ja, es war das Kleid einer Entdeckerin, es passte zu Wüste und Wald. Darin würde sie sich nicht fühlen wie ein behäbiger schillernder Käfer, der ständig achtgeben musste, nicht umzufallen. Ihre Entscheidung war gefallen.

Kurz darauf saß sie fertig angekleidet an ihrer Frisierkommode und versuchte, ihre langen braunen Haare zu einer anständigen Frisur zu bändigen. Sie flocht mehrere schmale Zöpfe und steckte sie mit dem übrigen Haar zu einem Knoten auf.

Ein wenig Puder auf Gesicht und Hals, etwas Rouge auf die Wangen und mit dem Zeigefinger etwas Rot auf die Lippen getupft, so konnte sie sich sehen lassen. Böse Zungen nannten es Schwindsuchtmode, weil die Krankheit einen ähnlich blassen Hautton und fiebrig gerötete Lippen hervorrief. Aber mager war Florence nicht, und sie schnürte ihr Mieder auch nicht so eng, dass sie so aussah.

Ihre Mutter würde sich freuen zu sehen, dass sie die Perlenkette und passende Ohrringe trug. Das schlichte Kleid dagegen würde ihr allenfalls einen enttäuschten Seufzer entlocken.

Kurz darauf saß Florence mit ihren Eltern in einer geschlossenen Kutsche. Mutter hatte darauf bestanden, nicht offen zu fahren, damit ihre Frisur nicht vom Fahrtwind zerzaust wurde.

Sie fuhren nordwärts aus der Stadt hinaus und hatten bald schon die Straßen mit ihren Laternen hinter sich gelassen. Noch fiel letztes Sonnenlicht über das Land. Die Dämmerung malte blassgelbe Streifen auf den Horizont, und die ersten Schwalben des Frühsommers zogen tief über die Weiden dahin. Ihre schrillen Rufe hallten weit.

Florence dachte, dass sie schon viel zu lange nicht mehr aus der Stadt herausgekommen war. Vielleicht sollte sie wieder einige Tage bei ihrer Cousine auf dem Land verbringen.

Nach dem Streit mit Vater würde es sicher gut sein, die Stimmung durch räumliche Trennung etwas abkühlen zu lassen.

Als hätte er gemerkt, dass sie an ihn dachte, räusperte sich der Professor und richtete den durchdringenden Blick auf seine Tochter.

„Florence, heute Abend wird auch Mr Miller da sein.“

Ausgerechnet der, dachte sie sofort und fühlte ihre gute Stimmung dahinschwinden.

„Du kannst dir denken, was ich von dir erwarte.“

„Ich möchte nicht mit ihm zusammenarbeiten, Vater.“

Niles strich sich über den grau melierten Backenbart. „Damit ist es nach deinem Tantrum auch vorbei. Und damit hast du wieder einmal gezeigt, dass ihr Frauen für die wissenschaftliche Arbeit einfach nicht geeignet seid.“

Florence starrte stur aus dem Fenster. Sie wollte sich nicht wieder streiten.

Ihre Mutter legte ihr die Hand auf den Unterarm. „Sieh deinen Vater an, wenn er mit dir redet. Herrgott, Kind, wo sind nur deine Manieren geblieben?“

Folgsam hob Florence den Kopf. Die Fahrt würde nicht mehr lange dauern, und sobald sie ankamen, wäre sie aus dieser unangenehmen Situation befreit. Schon konnte sie durch die Fenster Fackeln und Feuerkörbe erkennen, die die Einfahrt des Anwesens beleuchteten. In mehreren alten Eichen hingen bunte Lampions. Musik wehte zu ihnen herüber.

„Du wirst dich bei Mr Miller für dein Betragen entschuldigen, Florence, und bevor du das nicht getan hast, brauchst du gar nicht mehr in die Universität zurückkommen.“ Das saß.

Florence rang nach Luft. Ihr Herz pochte mit einem Mal so heftig gegen ihre Rippen, dass es regelrecht schmerzte. In ihrer Kehle brannte eine Erwiderung, doch sie schwieg.

Die Kutsche rollte über Kies, sie waren bereits auf der Zufahrt. Die Pferde hielten an, eines schnaubte laut, und der Fahrer stellte die Bremse fest.

Wenn ihr Vater auf eine Antwort wartete, dann wartete er vergebens. Außerdem würde er den Streit nicht in der Öffentlichkeit fortführen wollen.

Als ein livrierter Diener die Tür öffnete, stieg Florence als Erste aus. Sie nahm die angebotene Hand zur Hilfe an, raffte ihren Rock und ging die beiden Stufen des Klapptritts hinunter.

Florence atmete auf. Es duftete nach frisch gemähtem Gras, Rosenblüten und ein wenig nach Essen.

Sie wartete, bis auch ihre Eltern ausgestiegen waren, und folgte ihnen dann, wie es von ihr erwartet wurde, zum Anwesen.

Es waren schon viele Gäste eingetroffen, die meisten hielten sich im weitläufigen Garten auf, wo an mehreren Stellen Erfrischungen gereicht wurden.

„Dort drüben ist Rosalie, ich gehe zu ihr“, rief Florence ihren Eltern zu und eilte in den mit Lampions geschmückten Garten, obwohl sie ihre Freundin noch gar nicht entdeckt hatte. Es war eine kleine Notlüge, aber wie sonst sollte sie der Peinlichkeit entgehen, vor Miller zu stehen und trotzig den Mund nicht aufzumachen?

Florence nahm sich ein Glas von einem Tablett und schlenderte langsam weiter. Endlich konnte sie durchatmen. Rosalie war bestimmt schon da, sie musste ihre Freundin nur finden.

Vor einem Pavillon hatte sich eine kleine Menschentraube versammelt. Vielleicht war Rosalie dort. Sie liebte Feste. Wortfetzen hallten zu Florence herüber. Im Haupthaus spielte ein Quartett auf.

Florence nahm sich fest vor, nicht mehr an den Streit mit ihrem Vater zu denken. Und schon ging es ihr viel besser. Sie nippte an ihrem Glas. Der spritzige junge Weißwein perlte auf ihrer Zunge und passte perfekt zum warmen Frühlingsabend. Dieses Fest würde sie zu genießen wissen und alle schlechten Gedanken erst morgen wieder zulassen.

Florence folgte der Musik und den Lichtern weiter in den Garten hinein.

Fein herausgeputzte Damen standen zusammen und lachten, während sie immer wieder zu vier Männern hinblickten, die sich etwas abseits aufhielten und rauchten.

Florence überlegte, welcher der Herren wohl ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. In ihren Augen waren sie sich alle sehr ähnlich und wirkten ziemlich langweilig.

Eine raue Stimme ließ sie aufhorchen. Fremdländische Worte wurden gesprochen und zogen sie an wie der Honig eine hungrige Biene.

Schnell fand sie sich am Rand einer Menschentraube wieder. Die Frau neben ihr hatte gerötete Wangen und wedelte sich aufgeregt mit einem Fächer Luft zu. Männer tuschelten.

„Das ist doch lächerlich“, sagte ein älterer Herr. „So ein Affentheater hat hier nichts verloren“, fügte er hinzu und wandte sich ab.

Als der schimpfende Alte mit einem Freund davonging, schob sich Florence schnell in die entstandene Lücke und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Ihr Vater hatte zwar gesagt, dass es in dem Anwesen einige erstaunliche Fundstücke zu bestaunen gab und der Gastgeber ein begeisterter Sammler und Großwildjäger war, aber einen quicklebendigen Wilden – das hatte auch sie nicht erwartet.

Der Mann, der dort auf einem hölzernen Podest stand, war kleiner als sie. Seine Haut war dunkel, aber nicht schwarz, das Haar stand lockig vom Kopf ab, und er war bis auf einen Schurz aus grobem Leder nackt.


Jetzt verstand sie auch, warum viele der Damen so aufgeregt hinter ihren Fächern tuschelten. Einen derart spärlich bekleideten Mann hatten zuvor wohl nur die Verheirateten unter ihnen gesehen.

Florence hatte ihn erst für einen Wilden aus Afrika gehalten, doch seine Züge waren anders, als sie es von Abbildungen und Ausstellungen her kannte. Zudem hatte er sich mit weißer Farbe merkwürdige Linien und Muster auf den Leib gemalt. Sie waren sehr abstrakt, und Florence konnte kein System dahinter erkennen, wie sehr sie auch darauf starrte.

Der Wilde war offenbar Teil der Abendunterhaltung. Das Podest, auf dem er stand, war mit Blättern, Ranken und Blumen dekoriert, als sei er kein lebendiges Wesen, sondern ein Exponat.

Schließlich nahm er ein langes Rundholz, das sie zuvor nicht bemerkt hatte, und hob es zum Mund. Was er jetzt wohl vorhatte?

Aufgeregt drängte sie sich noch ein Stückchen näher. Das Holz schien hohl zu sein, ein Rohr. In die glatte Oberfläche waren Muster gebrannt, in denen sich Punkte und Linien abwechselten.

Der Wilde blickte mit ernstem Gesicht in die Runde, holte Luft und blies in das Rohr.

Es war das erstaunlichste Geräusch, das Florence je gehört hatte. Wie das Nebelhorn großer Frachtschiffe konnte sie es im ganzen Körper spüren. Der tiefe Ton schien sich in Wellen auszubreiten, die etwas in ihrem Bauch vibrieren und flattern ließen.

Neben ihr stießen die Zuschauer erstaunte Rufe aus, andere begannen zu tuscheln und berührten ihre Leibesmitte. Also war sie nicht die Einzige, die den Ton nicht nur hörte, sondern auch spürte.

Florence legte eine Hand auf ihren Bauch und blieb ganz still stehen.

Der Ton veränderte sich. Schwoll an, wurde höher und bekam dann einen schnelleren Rhythmus, als sei ein zweites Instrument hinzugekommen, doch es stammte alles von diesem einen Mann und seinem verzierten hohlen Stamm.

Sie musste dringend herausfinden, woher er kam und was die Musik bedeutete. Denn dass sie etwas bedeutete, das spürte Florence ganz klar. Ob er damit Gebete zu seinen Göttern sandte oder die Geschichte eines Ahnen erzählte?

Sie wurde immer aufgeregter.

Die anderen Zuschauer schienen weniger angetan. Einige begannen zu flüstern, lachten und ließen ihre Gläser gegeneinander klirren, andere gingen sogar davon.

Florence erschien deren Verhalten wie ein Sakrileg. Sie trat noch etwas näher, um dem Fremden zu zeigen, dass sich nicht alle Zuhörer wie Banausen verhielten, und bemerkte einen jungen Gentleman, der mit geschlossenen Augen ganz in sich versunken dastand.

Sein Oberkörper bewegte sich im Rhythmus der wummernden Melodie leicht vor und zurück.

Er trug einen schlichten dunkelgrauen Anzug über einem weißen Hemd. Sein Haar war braun, wellig und in der Stirn etwas länger, wie es als schick galt, doch Florence war eine aufmerksame Beobachterin und entdeckte bald den Grund dafür. An seiner Schläfe befand sich ein großes Muttermal, das er mit den Strähnen zu verdecken suchte.

Sein Gesicht war glatt rasiert, was ihm etwas Jungenhaftes verlieh. Die meisten Männer gingen mit der Mode und trugen einen Bart. Backenbärte, wie ihr Vater einen pflegte, hatte sie noch nie gemocht, und auch die üppigen Schnurrbärte, die den meisten Studenten gefielen, waren nicht nach ihrem Geschmack.

Florence schaute den Menschen seit jeher gerne auf den Mund, er verriet manchmal mehr über das Wesen einer Person als der Blick in die Augen.

Schließlich endete die Musik, und der Fremde begann als Erster zu klatschen. Auch Florence applaudierte, genau wie einige andere, die sich aber schnell abwandten, um sich neue Erfrischungen zu holen oder nach weiteren Attraktionen zu suchen, die sich im weitläufigen Garten verbargen.

Florence nahm all ihren Mut zusammen und trat zu dem Wilden. „Entschuldigung“, begann sie, als er sich gerade abwandte und vom Pult herunterstieg. Er war wirklich nicht groß. Der Mann drehte sich um.

„Guten Abend“, sagte er langsam und sprach die Worte so sorgfältig aus, als habe er sie erst vor Kurzem gelernt.

„Wie nennt man das Instrument?“

„Es ist ein Didgeridoo“, sagte er und rieb dabei das obere Ende des Rohrs vorsichtig mit einem Lappen ab. Dann stellte er es zur Seite und zog sich rasch ein schlichtes Leinenhemd über.

„Wo kommt es her? Wo kommen Sie her?“ Die Fragen sprudelten nur so aus ihr heraus.

„New South Wales, Australien. Entschuldigen Sie, muss weitergehen“, sagte er in kehligem Englisch, klemmte sich seine Umhängetasche unter den Arm und ging mit seinem Instrument in der Hand davon, als trage er eine Standarte vor sich her.

Jemand räusperte sich und fragte: „Möchten Sie mehr darüber erfahren?“

Florence, die dem Wilden nachgesehen hatte, wie er auf das Anwesen zumarschierte, wandte sich um und sah sich dem Fremden mit dem Muttermal gegenüber. Er lächelte zögernd, als sei es ihm unangenehm, sie anzusprechen.

„Sie kennen sich damit aus?“

„Ja, Ernest Furbish mein Name. Ich habe in Oxford Geografie und Völkerkunde studiert. Australien ist mein Schwerpunktgebiet, und diesen Aborigine kenne ich schon seit einem Jahr.“

„Florence Niles …“

„Die Tochter des ehrenwerten Professor Niles?“, unterbrach er sie, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darüber.

Florence‘ Stimmung sank für einen Moment, hatte sie doch geglaubt, ihrem Vater einen Abend lang entkommen zu können, doch sein Schatten reichte bis hierher.

„Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, erkundigte sich ihr Gegenüber besorgt.

Reiß dich zusammen, Mädchen, ermahnte sie sich. Sie wollte nicht kindisch sein. Natürlich hatte Mr Furbish schon von ihrem Vater gehört.

„Sie haben nichts Falsches gesagt“, versicherte sie ihm schnell. Doch sie wollte, dass er begriff, dass sie mehr war als nur die Tochter eines bekannten Mannes. „Das Forschungsgebiet meines Vaters ist ja hauptsächlich Mexiko, aber ich interessiere mich eher für die Kulturen im Amazonasgebiet, besonders für rituelle Gewänder und Ahnenverehrung.“

Furbish machte große Augen, als habe er plötzlich ein violettes Zebra gesehen. „Dann stammt der Aufsatz über die Zeremonialgewänder von Ihnen?“

Florence schoss die Röte in die Wangen. Jetzt wünschte sie sich doch einmal, ihr Gesicht hinter einem Fächer verstecken zu können, wie viele Frauen es gerne taten. „Sie haben ihn gelesen?“

„Aber ja. Ich wusste nicht, dass er von einer Frau geschrieben wurde.“

„Er wäre nicht gedruckt worden, wenn ich meinen Vornamen nicht abgekürzt hätte.“

„Eine Schande ist das. Haben Sie studiert?“

„Ja, hier in Cambridge. Nur den Abschluss verwehren sie uns Frauen noch. Ich hoffe, das wird sich irgendwann ändern.“

Er nickte. „Kommen Sie, wollen wir uns nicht noch etwas zu trinken holen?“

„Nur wenn Sie mir mehr über dieses merkwürdige Instrument berichten. Ich glaube, ich kann es noch immer in meinen Eingeweiden summen spüren.“

„Ja, das hat ein Didgeridoo so an sich.“ Er lachte gut gelaunt und bot ihr seinen Arm. Wenn er lacht, sieht er weniger langweilig aus, dachte Florence.

Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm, und gemeinsam schlenderten sie auf einen gläsernen Komplex zu, der sich schnell als Orangerie entpuppte.

„Was möchten Sie wissen?“

„Alles.“

„Nun, dann fangen wir vorne an. Das Didgeridoo wird aus einem Bambus- oder Pandanussstamm gefertigt, der von Termiten ausgehöhlt wurde.“

„Eine Ameisenart?“

Er machte eine abwägende Geste. So in der Art, schien es zu bedeuten. „Die Einheimischen haben Dutzende verschiedene Namen dafür: Gangbag, Gamalag, Yirago, Maluk. Vielleicht gibt es über den ganzen Kontinent verteilt sogar Hunderte Namen.“

„Dann ist es ein sehr wichtiges Instrument, sicher mit einer Bedeutung?“

„Ja. Es ist Teil ihrer Mythologie. Das Didgeridoo symbolisiert die Vibration einer geheimnisvollen Schlange, der Regenbogenschlange. Als sie zu Anbeginn der Zeit den Ozean verließ, formte sie die Berge und Täler von Australien.“

„Jetzt möchte ich sofort dorthin reisen.“

„Es zieht Sie also auch in die Ferne?“

„Aber ja.“ Florence ließ ihren Kopf sinken und sah auf ihre Schuhspitzen, an denen Grashalme klebten. In ihrer Kehle kribbelte es verräterisch, doch sie unterdrückte die Tränen, die ihr in den Augen brannten. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr! „Aber für mich wird es wohl beim Träumen von der Ferne bleiben.“

„Warum sagen Sie das?“ Er klang ehrlich bestürzt.

„Mein Vater würde es nicht erlauben. Und wer würde schon eine Frau unterstützen wollen? Die Finanziers halten sich doch nur an etablierte Männer, die ihnen aus der Ferne exotische Stücke für ihre Rauchsalons und Jagdzimmer mitbringen.“

Ernest Furbish ließ sich nicht beirren. „Ich habe schon von Forscherinnen gehört.“

„Amerikanerinnen oder Witwen, die die Arbeit ihrer Männer fortführen. Und ich bin weder das eine noch das andere.“

„Aber Sie scheinen mir den richtigen Geist für ein solches Unternehmen zu haben.“

„Ach, reden wir nicht mehr davon“, sagte sie und winkte einen Kellner heran. Sie nahmen sich beide ein Glas. Florence entschied sich für Limonade, weil sie das Gefühl hatte, der Weißwein sei ihr schon jetzt zu Kopf gestiegen.

Sie stießen an und liefen langsam weiter.

Ernest Furbish schien es die Sprache verschlagen zu haben. Wahrscheinlich trage ich sogar Schuld daran, nachdem ich unser Gespräch über Forschungsreisen so abrupt beendet habe, mutmaßte Florence im Stillen.

Während sie noch überlegte, was sie sagen sollte, um das etwas unangenehme Schweigen zu beenden, führte ihr Begleiter sie zur Orangerie.

Ein Jongleur ließ Bälle und Kegel durch die Luft schnellen, wirbelte sie unter seinem Bein durch und fing sie geschickt wieder auf. Mehr und mehr Menschen umlagerten ihn. Aufgeregte Ahs und Ohs erklangen, wenn die Wurfgeschosse beinahe in der Luft kollidierten.

Florence sah aus reiner Höflichkeit hin. Die kleine Zirkusvorführung interessierte sie nicht, viel lieber hätte sie noch weitere Musik aus fernen Ländern gehört.

„Da bist du ja!“, rief eine wohlvertraute Stimme.

„Rosalie, ich hatte dich schon gesucht.“

Ihre Freundin eilte zu ihr herüber und begrüßte sie herzlich mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange.

Florence stellte sie ihrem Begleiter vor. Rosalie lächelte, doch Florence durchschaute sie sofort. Der unauffällige Mann gefiel ihr nicht. Daher verwunderte es Florence kaum, als Rosalie sie an der Hand nahm.

„Würden Sie uns entschuldigen? Ich muss etwas Wichtiges mit meiner Freundin besprechen.“

Ernest hatte keine andere Wahl, als sie ziehen zu lassen, wenn er nicht als ungehobelter Kerl dastehen wollte. „Natürlich“, erwiderte er daher nur ein wenig gekränkt. „Ich hoffe, wir sehen uns später noch einmal.“

„Bestimmt. Vielleicht beim Tanz?“

Florence sah ihm sofort an, dass er nicht gerne tanzte, aber er nickte dennoch tapfer. Sie nahm sich allein dafür vor, später tatsächlich nach ihm zu suchen.

Sobald sie außer Hörweite waren, hängte sich Rosalie bei ihr ein und sah sie verschwörerisch an. „Gefällt dir dieser graue Storch etwa?“

Florence musste lachen. „Grauer Storch? Wie kommst du denn auf so was?“

„Na, für eine graue Maus hat er zu lange Beine“, kicherte sie und sah sich nach ihm um. „Also, wer ist das?“

„Ein Wissenschaftler aus Oxford. Ganz anderes Fachgebiet als meines.“

„Ach, du bist ein hoffnungsloser Fall.“

„Was soll das denn jetzt wieder heißen?“

Rosalie verdrehte die Augen, wie es sich für eine Dame ganz und gar nicht schickte. Aber genau deshalb mochte Florence ihre Freundin so sehr: weil sie sich auch nicht um Konventionen scherte, zumindest nicht zu sehr. Gemeinsam mit ihr zu rebellieren, war wunderbar.

„Warum musstest du mich so dringend sprechen?“, fragte sie nun, als sie sich auf eine kleine schmiedeeiserne Bank setzten, die weiß lackiert war und von gelben Rosen umrahmt wurde, die ihre ersten Blüten öffneten.

Sie merkte erst jetzt, dass ihre Freundin heute irgendwie anders aussah. Sie strahlte, als sei sie frisch verliebt, dabei war ihr Mann heute auch hier. Florence meinte, ihn schon gesehen zu haben.

„Ich denke, ich bin schwanger“, flüsterte Rosalie. „Und du bist die Erste, die es wissen soll.“

„Was sagst du?“ Die Überraschung war perfekt.

„Ja“, erwiderte Rosalie nur.

„Freue ich mich für dich?“, fragte Florence vorsichtig, denn sie wusste genau, dass ihre Freundin gerne noch ein wenig gewartet hätte.

„Ja, tust du.“

Sie schloss Rosalie in die Arme. „Dann freue ich mich für dich, sehr sogar. Seit wann weißt du es?“

„Ich vermute schon seit einigen Wochen etwas, aber jetzt … jetzt bin ich mir sicher.“ Sie legte die Hand auf ihren Unterleib und lächelte versonnen. Ihre Taille war schmal und grazil wie immer, doch das würde sich in den kommenden Monaten rasch ändern.

„Wann willst du es ihm sagen?“

„Das hat noch etwas Zeit. Eigentlich will ich mich auch noch nicht freuen. So viele Frauen verlieren ihre Kindchen in den ersten Wochen. Ich will meinem Mann keine Hoffnung machen, solange es noch so unsicher ist.“

„Aber dir geht es gut?“

„Ja. Mir ist morgens hin und wieder etwas übel, aber wenn ich erst einen kleinen Spaziergang durch den Garten mache, geht es meist gut.“

Sie bemerkten Rosalies Mann beinahe gleichzeitig. Er winkte ihnen aus einiger Entfernung zu und deutete ihnen an, hineingehen zu wollen. Viele Gäste hatten sich nun im Anwesen des Gastgebers eingefunden. Hinter den Fenstern des Saals schimmerte festliche Beleuchtung. Tanzende Paare schwebten wie bunte Schemen vorüber.

„Los, lass uns reingehen“, sagte Rosalie und zog ihre Freundin übermütig auf die Beine. „Ich will tanzen, solange ich noch nicht rund bin wie ein Fass. Lass uns tanzen, solange ich noch jung bin.“

Florence hatte dem nichts entgegenzusetzen. Wenn Rosalie erst einmal Mutter geworden war, würde sich vieles ändern. Die Zeiten, in denen wir uns wie wilde Bauernmädchen aufführen, sind bald endgültig vorbei, dachte sie mit leiser Wehmut.

Der Abend verlief viel schöner, als Florence es sich ausgemalt hatte. Sie lachten, tanzten und aßen die köstlichsten Dinge. Florence ließ sich von Rosalies Mann über die Tanzfläche wirbeln, vermied es, dem Protegé ihres Vaters zu nahe zu kommen, und bestaunte die Privatsammlung des Gastgebers, die sich über Salon, Bibliothek und Flure erstreckte. Nur Ernest Furbish konnte sie nirgends entdecken.

Erst als sie sich mit ihren Eltern fast schon zum Aufbruch bereitmachte, begegnete sie ihm wieder.

„Miss Niles, ich hatte Sie schon überall gesucht.“

„Unser Tanz, ich weiß.“ Florence wandte sich zu ihrer Mutter um. „Nur einen Tanz noch, bitte. Ich hatte es versprochen.“

„Nun gut. Wir warten am Ausgang auf dich. Es wird ja sicher ein wenig dauern, bis sie uns die Mäntel bringen und die Kutsche bereit ist.“

Florence ließ sich von ihrem Begleiter auf das Parkett führen, wo das Orchester soeben einen ruhigen Walzer anstimmte.

Furbish sah sie unentwegt an, während er gekonnt führte und sie sich gewandt zwischen den anderen Paaren zu den Klängen der Musik dahinbewegten.

„Sie tanzen sehr gut“, sagte sie mit ehrlicher Überraschung, da sie erwartet hatte, dass er wenig Gefallen daran finden würde.

„Ich konnte viel üben, während Sie verschollen waren.“

„Es tut mir leid“, erwiderte sie zerknirscht. „Ich habe mir die Sammlung angesehen.“

„Allzeit Wissenschaftlerin“, sagte er ganz ohne Spott.

Florence fühlte sich, als würde sie schweben. Vorbei an einem Lichtermeer aus Kerzen, an Säulen und Tänzern, der Tribüne der Kapelle und wirbelnden Stoffen.

Als die Musik endete, war es viel zu früh. Sie wollte jetzt noch nicht heim. Aber Ernest Furbish hatte sehr wohl gehört, was ihre Mutter gesagt hatte, und so begleitete er sie ohne Zögern in Richtung Ausgang.

„Schade, dass wir schon aufbrechen müssen“, seufzte sie und brachte Furbish dazu innezuhalten.

Er war fast einen Kopf größer als sie. Fragend sah er sie an, während er sie mit seinem Rücken von den vorbeiströmenden Feiernden abschirmte. „Ich finde es auch bedauerlich. Aber wenn Sie es mir erlauben, würde ich Sie gerne wiedersehen.“

Florence fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Bis auf Studenten, die ihrem Vater schmeicheln wollten, und dem einen oder anderen Dummkopf war sie noch von keinem Mann um eine Verabredung gebeten worden. Die meisten schienen das Weite zu suchen, sobald sie von ihrem Studium hörten, oder sie vertrieb sie allein mit ihrer forschen Art. Furbishs Frage verschlug ihr deshalb die Sprache.

„Sie sagen nichts? Ist das gut oder schlecht?“

„Ich weiß nicht. Mein Vater …“, stotterte sie und drückte die Hand auf den Mund. Sonst fehlten ihr nie die Worte.

„Soll ich ihn fragen? Würden Sie mit mir eine Ausfahrt unternehmen? Unter freiem Himmel lässt es sich leichter reden.“

Florence‘ Kehle war ganz trocken. Kein einziges Wort würde ihr über die Lippen kommen, also nickte sie nur.

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Südsternjahre - Die Australien-Saga Gesamtausgabe

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