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KAPITEL 4

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„Zu Beginn war das Land“, sagte der Alte. „Es war nach dem Wasser der zweite Schöpfungstraum, aber anfangs war es flach und glatt, wie die Oberfläche eines Wasserlochs, wenn kein Wind weht.“

Der Junge schwieg. Seine Augen waren unentwegt auf den dünnen, sonnengelben Streifen gerichtet, der sich langsam von ihnen wegbewegte. Dort brannte Feuer.


Gleichmäßig fraß es sich durch Gras und Buschwerk, leckte an Mugla-Akazien und Wüsteneichen hinauf, doch es verbrannte sie nicht.

Am Himmel türmten sich dunkle Wolken. Der Alte konnte den Regen schon riechen, er spürte ihn in den Gelenken und in seinem Kopf, wo es pochte, als würde der Donner darin wohnen.

Der Regen würde das Feuer töten.

Raubvögel segelten über der Brandlinie und stießen immer wieder hinab, um Eidechsen und Insekten aufzusammeln, die vor den Flammen zu fliehen versuchten.

Hinter dem Rauch lagen Felsen und hinter den Felsen ein heiliger Ort, an dem nun die blassgesichtigen Fremden hausten und wie irr gewordene Rattenkängurus Löcher in den Grund wühlten. Sie hackten und gruben genau dort, wo die Erde auch nach der Traumzeit flach geblieben war, nachdem die Wesen der Tjukurpa durchgezogen waren, das Leben in die Welt gesungen und mit ihren Leibern die Welt geformt hatten.

Dort, wo seine Mutter ihn zuerst im Leib gespürt hatte, als das Geistkind hineingeschlüpft war.

„Am Anfang war das Land flach, aber dann kamen die alten Wesen. Siehst du die Felsen, dort, wohin das Feuer reist?“, fragte er den Jungen.

„Ja“, sagte der ehrfürchtig.

„Es sind die Eier einer riesigen Schildkröte. Lange, lange Zeit ist es her. Ein Mann namens Olooaga hat sie ausgegraben und versucht, sie alle fortzutragen. Er war gierig und wollte keines zurücklassen. Einen Tragkorb lud er voll und beide Arme. Deshalb war er langsam. So langsam, dass Mutter Schildkröte ihn eingeholt und ins Bein gebissen hat. Er musste alle Eier und den Korb fallen lassen und ist weggelaufen. Geschrien hat er, so laut, dass einige Eier Risse bekamen.“

Er musterte seinen jungen Begleiter, der angestrengt die Stirn krauszog und zu den rundlichen Felsen hinübersah, in denen in der Tat Risse zu erkennen waren.

„Wenn er nur wenige Eier genommen hätte und nicht mehr, als er tragen konnte, dann wäre er satt und Mutter Schildkröte nicht so zornig geworden.“

Der Alte legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. Er hatte die Geschichte verstanden.

„Können wir dorthin gehen, Großvater, zu den Eiern? Das Feuer ist schon weitergezogen. Vielleicht haben sich auch Tiere zu den Felsen geflüchtet.“

Der Alte nahm seine Woomera, eine Speerschleuder, samt einem Bündel dünner langer Speere auf und betrat die geschwärzte Ebene. Die Asche war warm unter seinen bloßen Füßen, aber nicht heiß. Bald würde der Regen sie in den sandigen Boden spülen. Hier und da knisterte das Feuer noch in den knotigen Wurzeln verbrannter Sträucher. Kohlestückchen glommen weißlich, wenn der Wind hineinfuhr.

Der Junge klaubte eine angesengte Heuschrecke auf, schob sie sich in den Mund und kaute genüsslich.

Sie liefen in gerader Linie auf die Felsen zu, wo der Ruß schwarze Schatten auf die Steinwände geworfen hatte.

Vielleicht würden sie hier einige Felsenkängurus sehen. Der Alte legte einen Speer in seine Schleuder und hob den Arm, bereit, sofort zu werfen.

Der Junge bewegte sich nahezu lautlos vorwärts, gut so, er war ein aufmerksamer Schüler. Dann hielt er plötzlich inne. War dort etwas?

Der Alte holte auf, den Speer erhoben, und da sah er sie: drei bleiche Männer. Ihre Umrisse verschmolzen mit den Tieren, auf denen sie saßen, zu riesigen Geisterwesen.

Jetzt begannen die Fremden zu schreien. Sie zeigten auf die Feuerlinie hinter ihnen, die rasch dahinzog. Der Alte erkannte eine brennende Behausung, knochig wie schwarze Gerippe. Es musste eine der Wohnstätten der bleichen Männer sein. Er hatte nicht gewusst, dass sie dort, wo das Geistkind in seine Mutter geschlüpft war, eine Hütte gebaut hatten. Das war tabu.

Es war sein Land und das seiner Ahnen. Und sie hatten seit jeher mit Feuer dafür gesorgt, dass das Gras nach dem Regen üppig spross und so die Kängurus anlockte.

Die Fremden schrien immer lauter und fuchtelten mit ihren Stöcken. Der Alte war starr vor Angst, er merkte kaum, dass er noch die Woomera mit dem Speer erhoben hielt.

Dann knallte es, und der Junge brach ohne einen Laut zusammen.

***

AUF DEM SCHIFF

Ernest genoss die Ruhe in der Kabine. Schon seit Tagen saß er an seinem kleinen Schreibtisch und merkte kaum, wie die Zeit verflog.

Seit seiner Rückkehr nach England hatte er nur noch einen Wunsch gekannt: möglichst schnell wieder aufzubrechen. Er hatte Florence verschwiegen, dass er bei der letzten Reise nur als Assistent mitgereist war, und zwar als Gehilfe eines Botanikers. Neben dem Sammeln und Bestimmen von Pflanzen und dem Aufbrühen von Tee für den Expeditionsleiter war kaum Zeit für seine eigene Forschungstätigkeit geblieben.

Das sollte dieses Mal alles anders werden.

Diese Expedition war seine. Und er wollte von Anfang an alles richtig machen. Wie besessen plante er Reiserouten, die er ohnehin alle wieder verwerfen würde. Seine oberste Priorität musste es sein, eine Gruppe von Eingeborenen zu finden, die noch nicht von Kolonisten korrumpiert waren und deren Vertrauen er gewinnen konnte.

Wenn das nicht gelang, würden Florence und er nur Objekte sammeln, ohne sie zu verstehen.

Aber er würde nicht aufgeben, sondern so lange suchen, bis er eine solche Gruppe fand. Bei der letzten Expedition waren sie nicht weit über die Hafenstadt Perth hinausgekommen. Dieses Mal plante er, die Küste Westaustraliens weiter hinaufzureisen.

Hoffentlich erträgt Florence die Strapazen der Expedition, überlegte Ernest. Es wäre ihnen beiden zu wünschen.

An ihrer Überzeugung und ihrem Mut zweifelte er nicht, denn Florence war eine starke Persönlichkeit. Immerhin hatte sie es jahrelang an der Universität ausgehalten, wo ihr scheinbar kaum jemand mit Respekt entgegengetreten war.

Doch hoffentlich würde ihre geistige Stärke nicht vor einer körperlichen Schwäche kapitulieren müssen. Denn physisch, und darin waren sie sich beide einig, waren Männer eher dazu geeignet, die Strapazen einer Forschungsreise zu überstehen.

Für vorbereitende Leibesertüchtigung war in der Hektik, die ihre rasche Abreise mit sich gebracht hatte, keine Zeit gewesen. Aber Florence machte morgens Gymnastik. Er sah ihr gerne dabei zu, wie sie ihren geschmeidigen Körper bewegte und drehte, auch wenn er daran zweifelte, dass sie ihre Konstitution damit merklich zum Positiven verändern würde.

An solchen Morgen wünschte er, sie würde mehr in ihm sehen als einen Freund. Wenn sie die Arme in die Luft reckte, drückten ihre kleinen spitzen Brüste gegen den Stoff ihrer Bluse. Wie sie sich wohl anfühlten? Fest oder weich? Die Haut war sicher pfirsichzart.

Auch an diesem Morgen stand sie wieder da und balancierte mit ausgestreckten Armen, mal auf dem linken, mal auf dem rechten Bein. Er wandte sich ab, damit sie nicht bemerkte, wie sehr er sie begehrte. Ernest hatte sein Versprechen gehalten und nicht darauf gedrängt, die Ehe zu vollziehen. Manchmal, er nannte es seine schwarzen Stunden, überfiel ihn bitterer Hunger, ein fast zügelloses animalisches Verlangen. Dann wollte er sie einfach packen und ihr seinen Willen aufzwingen. Schuldete sie es ihm nicht sogar? Immerhin wäre sie ohne ihn nie auf diese Reise gegangen.

Ernest rieb sich über die schweißfeuchte Stirn. Seine Gedanken machten ihm Angst, er ekelte sich vor sich selbst. Darwin hatte recht, wenn er sagte, dass die Menschen auch nur Tiere waren.

„Du bist so blass, Ernest, ist dir nicht gut?“ Florence legte ihm die Hand auf die Schulter und drängte ihn sanft, sich ihr zuzuwenden.

„Es ist nichts.“

„Nichts? Du müsstest dich mal sehen. Vielleicht ist es Seekrankheit? Oder eine Erkältung, ich habe Passagiere in den Unterdecks husten hören.“

Er wollte nicht, dass sie ihn berührte. Nicht, nachdem er so über sie gedacht hatte. Beinahe schroff schob er ihre Hand fort. „Ich sage doch, es geht mir gut.“ Die Schulter brannte genau dort, wo ihre Hand gelegen hatte. Ein Feuermal, das die Lust in ihm heraufzubeschwören schien. Sie musste gehen, sonst würde er die Beherrschung verlieren.

„Ich brauche meine Ruhe, Liebes, geh doch ein wenig an Deck spazieren. Die Sonne scheint, du solltest deine Haut langsam daran gewöhnen, ohne Verdeck und Schirm auszukommen.“

Sie seufzte. „Wie du meinst.“

***

Florence hatte dennoch ihren breitkrempigen Sommerhut aufgesetzt und die Bänder unter dem Kinn gut festgebunden. Vielleicht ein wenig zu fest. In ihr schwelte leiser Zorn. Ernest hatte sie wieder fortgeschickt. Empfand er sie als so störend? Wie sollte dann erst ihre gemeinsame Forschungsreise werden und das ganze restliche Leben?

Warum nur hatte sie sich für immer an einen beinahe Unbekannten gebunden? Hier auf dem Schiff konnten sie einander nur schwer aus dem Weg gehen.

Florence strich mit der Hand über die hölzerne Reling, die von unzähligen Berührungen glatt geworden und von der Sonne gewärmt war. In diesem Moment vermisste sie ihr Zuhause und ihre beste Freundin schrecklich.

Vielleicht habe ich mir etwas vorgemacht und bin doch nicht die Richtige für eine derartige Reise.

Sie seufzte. Aber es lag ja gar nicht an der Reise, sondern an ihrem Begleiter. Andererseits war es das Schicksal der meisten Frauen, einen Ehemann zu heiraten, den sie nicht liebten. Eigentlich gab es keinen Grund zu klagen. Ernest war freundlich und behandelte sie mit mehr Respekt, als den meisten Frauen von ihren Angetrauten entgegengebracht wurde. Noch nie hatte er sie herumkommandiert oder etwas von ihr verlangt, wozu sie nicht bereit war.

Ich sollte nicht so undankbar sein.

Sicherlich lag es allein an der Situation, an dieser unsäglich langen Fahrt. Schon als Kind war sie sehr ungeduldig gewesen, und mit dem Heranwachsen hatte sich daran nichts geändert. Vielleicht war sie nur gereizt von all der Langeweile. Sie sollte sich eine Aufgabe suchen, nur was? Die mitgenommenen Bücher hatte sie bereits alle mehrfach gelesen, dabei war Europa gerade erst hinter dem Horizont verschwunden. Sie würde noch Wochen auf dem Schiff festsitzen, es war zum Verrücktwerden. Sollte sie hier auf und ab laufen wie die Tiere der Zoologischen Gärten in ihren viel zu engen Käfigen, die sie immer so bedauert hatte? Würde ihr Blick bei der Ankunft in Australien ebenso erbärmlich und stumpf sein?

Florence‘ Schritte hallten leise über das frisch geschrubbte Deck, dessen Planken durch Salzluft und Sonne spröde geworden waren.

Schließlich ließ sie sich auf einer Liege nieder und beobachtete den Horizont, dessen schwache Krümmung sich im Rhythmus der Wellen gegen die Reling schob.

Wind zerrte an ihrem Hut. Sonnenlicht brach sich auf den Wellen wie in Spiegelscherben. Eigentlich war es schön, wenn sie es nur nicht schon so oft gesehen hätte. Ihre Seele lechzte nach neuen Eindrücken.

In diesem Moment glitt ein Schatten über das Schiff hinweg, und gleich darauf landete eine Möwe auf der Reling direkt vor ihr. Florence zuckte zusammen. Das Tier hatte sie überrascht. Der Vogel war groß und besaß leuchtend gelbe Augen. Mit schräg gelegtem Kopf betrachtete er die Frau auf der Liege vor sich.

Für die Möwe musste sie einen seltsamen Anblick bieten, hatte sie, anders als die übrigen Wesen in seiner Welt, doch weder Federn noch Schuppen. Florence hielt ganz still, erwiderte den seltsam intelligenten Blick des Tiers und begann sich unweigerlich zu fragen, ob ihr Gegenüber zu Gedanken fähig war. Sicher nicht in dem Maße wie ein Mensch, aber vielleicht doch in schlichteren Bahnen.

Der Vogel hatte seine Betrachtungen beendet und begann, sein Gefieder zu putzen, das nicht von dem reinen Weiß erwachsener Möwen war, sondern noch gesprenkelt.

Er ist hübsch, dachte Florence, nur die Augen haben etwas Herzloses an sich. Als seien Möwen zur Grausamkeit fähig.

Florence strich gedankenverloren über den weichen Ledereinband ihres Journals, das sie wie immer bei sich trug, doch ohne etwas zu erleben, das einen Eintrag wert gewesen wäre.

Die Möwe störte sich an der Bewegung nicht.

Ich sollte sie zeichnen, überlegte Florence. Sie würde noch viele Objekte und hoffentlich auch Eingeborene zeichnen müssen. Vielleicht sollte sie ihre Fertigkeiten üben und verbessern. Die See war ruhig genug, um den Kohlestift sicher zu führen.

Vorsichtig, um die Möwe nicht zu erschrecken, schlug sie die erste Seite auf und setzte an. Zuerst die geraden Linien des scharfen Schnabels, der fast schon unter dem Auge ansetzte. Dieses Detail war ihr zuvor noch nie aufgefallen und machte ihr wieder einmal klar, wie viel genauer sie Dinge und Lebewesen beobachtete, wenn sie sie zeichnete. Nicht zuletzt dadurch war die zusätzliche Abbildung auf Papier ein wichtiges Element ihrer Forschung.

Das Gefieder der Möwe lag glatt an und glänzte, keine Feder, die nicht an ihrem Platz saß. Alles sah aus, als sei es aus einem Guss, wie ein wächsernes Modell. Der Wind strich einfach so über das Tier hinweg, während sie selbst mit Haaren im Gesicht und sich bauschendem Stoff zu kämpfen hatte.

Die Zeichnung war fertig, nun ergänzte sie Details und schrieb ihre Beobachtungen neben die jeweiligen Körperregionen. Zusätzlich noch die Maße, auch wenn sie sie nur schätzen konnte.

Plötzlich stieß der Vogel einen krächzenden Schrei aus, reckte die Flügel und war im Nu davon.

Jemand näherte sich.

Überrascht blickte Florence auf und sah sich einem gut aussehenden Fremden gegenüber, der grüßend seinen Hut anhob. Sein Gesicht war ungewöhnlich braun gebrannt für einen Weißen, der er zweifelsfrei war. Hellbraune Augen blickten ihr wach entgegen. Sein Haar war so dunkel wie die geschwungenen Brauen, und seine Mundwinkel zuckten amüsiert nach oben. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört, Miss“, sagte er mit sonorem Ton und klopfte seine Pfeife an der Reling aus.

„Nein, nein, natürlich nicht“, erwiderte sie geflissentlich.

„Der Vogel schien es Ihnen sehr angetan zu haben, ich beobachte Sie schon eine Weile …“

Geniert bedeckte Florence ihre Zeichnung mit der Hand. Das Journal zuzuschlagen wäre zu auffällig gewesen.

„Sind Sie Künstlerin?“, fragte er und lehnte sich gegen die Reling, genau dorthin, wo die Möwe zuvor gesessen hatte. Es schien, als wolle er, dass sie ihn genauso intensiv studierte wie das Tier.

„Nein, keine Künstlerin, das liegt mir nicht im Blut“, antwortete sie. Nun klappte sie doch das Journal zu.

„Sie klingen, als hätten Sie die heimatliche Insel nie zuvor verlassen.“

„Das hören Sie aus den wenigen Worten heraus, die wir gewechselt haben? Das kann ich nicht glauben!“

„Wer so viel herumgekommen ist wie ich, entwickelt ein Gehör dafür. Wenn ich mich vorstellen darf? Magnus Fredriksson, Sohn eines Schweden und einer Engländerin, doch mein Herz schlägt für die Wildnis!“

„Meins auch“, rutschte es Florence über die Lippen. Sie errötete. Was für ein Unsinn, sie kannte die Wildnis nur aus Büchern.

„Eine Abenteurerin?“ Er lachte. „Wie ist Ihr Name, Miss? Es scheint einer zu sein, den man sich merken sollte.“

Machte er sich über sie lustig? Florence wäre am liebsten auf und davon geflogen wie die Möwe. „Florence Niles, oh … Furbish meinte ich.“ Spätestens jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um vor Scham im Boden zu versinken. Sie berührte ihren Ehering und entschuldigte sich still bei Ernest.

„Frisch vermählt? Da dauert es oft ein wenig, bis man sich an den neuen Namen gewöhnt hat. Erröten Sie nicht, Mrs Furbish, Sie sind nicht die erste Dame, der das passiert.“

Als sie ertappt aufsah, lächelte er gewinnend. Seine Zähne waren perlweiß. Ihr Herz antwortete mit einem aufgeregten Flattern. Sie schob es auf ihren Fauxpas und versuchte, es zu ignorieren.

„Aber wo ist Ihr Mann denn? Eine wunderhübsche Frau sollte man doch nicht alleine lassen. Und dann auch noch so kurz nach der Vermählung.“

Florence wurde aus ihrem Gegenüber nicht gleich schlau. War seine Entrüstung echt oder nur vorgetäuscht? Sie wollte nicht, dass man auf dem Schiff schlecht über Ernest dachte.

„Mein Mann hat mich nicht alleine gelassen, sondern ich ihn. Er soll alle Zeit haben, die er für seine wichtigen Forschungen braucht.“

Der Fremde hob fragend eine Braue.

„Er schreibt ein Buch und bereitet unsere Reise vor. Wir werden in den kommenden zwei Jahren die Eingeborenen Australiens erforschen. Vielleicht auch noch länger.“

„Er ist Völkerkundler?“ Jetzt schien sie sein Interesse geweckt zu haben.

Florence straffte sich. Wenn sie als Wissenschaftlerin ernst genommen werden wollte, dann durfte sie sich nicht mehr verstecken. Weder hinter dem Namen ihres Vaters noch hinter ihrem Ehemann. „Wir beide. Ich habe in Cambridge studiert.“

„Mein Fehler, ich hätte wissen müssen, dass ich es mit keiner ganz gewöhnlichen Frau zu tun habe.“ Er lachte trocken auf. In Florence‘ Ohren klang es ein wenig überheblich. „Wenn Sie die australischen Neger studieren wollen, müssen Sie nicht so weit reisen, wie Sie denken. Ich stelle Ihnen meinen gerne zur Verfügung.“

Im nächsten Moment stieß er einen schrillen Pfiff aus, der Florence eine Gänsehaut über die Arme jagte. Sie reckte sich und folgte der Kopfbewegung des Fremden.

Aber konnte das denn sein? Erhob sich dort wirklich ein Wilder aus dem Schatten hinter den Seekisten, wo er offenbar die ganze Zeit über ausgeharrt hatte? Florence legte ihr Journal zur Seite und stand auf.

„Mein Diener. Ich habe ihn Tom genannt. Als ich ihn fand, war er ein verlauster kleiner Bengel, nur Haut und Knochen. Man konnte ihn kaum von den Straßenkötern unterscheiden.“

„Dann haben Sie an ihm eine wirklich gute Tat getan. Gott wird es Ihnen vergelten, Mr Fredriksson.“

Der junge Mann war in schlichte, aber saubere Leinenkleidung gehüllt. Mit gesenktem Kopf blieb er vor Florence stehen, die am liebsten sein festes dunkles Haar berührt hätte. Es musste sich so anders anfühlen als ihr eigenes. Sie hatte Anekdoten von zurückgekehrten Reisenden gehört, dass die Wilden als Erstes Haut und Haare der Neuankömmlinge berühren wollten. Nun ging es ihr genauso. Aber natürlich gab sie ihrer Regung nicht nach, sondern streckte Tom zur Begrüßung die Hand hin. „Florence Furbish, es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“

Tom sah seinen Herrn fragend an. Als der daraufhin nickte, ergriff er ihre Hand und deutete einen Kuss an. Ihrem Blick begegnete er allerdings kein einziges Mal.

„Tom, bring uns Tee und beeile dich.“

„Ja, Herr, sofort.“ Er eilte davon.

Florence sah ihm nach. „Wie alt ist er?“

„Vielleicht vierzehn? Sicher nicht älter. Er wusste es ja selber nicht, als ich ihn in der Gosse fand. Setzen wir uns doch, und Sie erzählen mir ein wenig von sich.“

Florence folgte seiner Einladung nur zu gerne. Offenbar hatte sie auf dem Schiff den ersten interessanten Menschen getroffen. Da Fredriksson diesen Schützling hatte, musste er bereits in Australien gewesen sein und kehrte nun dorthin zurück.

Vielleicht konnte er ihr wertvolle Informationen liefern, und sie wäre nicht mehr allein von Ernests Planungen abhängig.

„Darf ich Sie zuerst etwas fragen?“, begann sie daher.

„Natürlich, immer heraus damit.“

Sein Lächeln ist wirklich sehr einnehmend, dachte Florence. „Kommen Sie gebürtig aus Australien?“

„Nein, nein, ich fuhr vor fast zehn Jahren an Bord eines Frachters dorthin. Ich hatte den Auftrag bekommen, herauszufinden, ob es sich lohne, down under ins Goldgeschäft einzusteigen, oder ob mein Auftraggeber sich eher auf seinen Handel mit Edelsteinen und Preziosen konzentrieren sollte. Ich erfüllte seinen Auftrag, bereiste das Land für mehrere Jahre und machte mir in Europa einen Namen, indem ich für Museen und Sammler Kollektionen zusammenstellte. Damals verstand ich mich allenfalls auf das Präparieren von Tieren, mittlerweile habe ich einiges dazugelernt.“

„Das klingt wirklich sehr aufregend. Ich wünschte so sehr, ich wüsste jetzt schon, was mich dort erwartet und wie das Land aussieht. Die Lithographien, die ich sah, werden ihm sicher nicht gerecht.“

Magnus Fredriksson nahm ein Tabakfläschchen aus seiner Tasche und begann sich aufs Neue seine Pfeife zu stopfen. „Es ist ein raues Land, aber auch wunderschön. Es schleift Menschen, bis nur noch ihr harter Kern übrig bleibt. Auch Sie haben einen solchen Diamanten in sich, das sehe ich an Ihren Augen.“

Florence senkte den Blick, ihr wurde ganz heiß. So fühlte sie sich in Ernests Nähe nie. Bei dem Fremden wusste sie nicht, ob sie davonlaufen oder noch ein wenig näher rutschen sollte, um jedes seiner Worte aufzusaugen.

Sein dunkelhäutiger Diener kehrte mit einem Tablett mit Teekanne, Tassen und Gebäck gerade rechtzeitig zurück, um Fredriksson die Pfeife anzuzünden.

„Wohin soll die Reise denn gehen?“, fragte Fredriksson und paffte.

„In den Westen. Wir wollen die Küste hinauf und nach einem Stamm suchen, der noch wenig Kontakt mit zivilisierten Menschen hatte.“

„Dann werden sich unsere Wege im Hafen trennen. Aber wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen vorher gerne mehr über den Landstrich.“

„Oh ja, bitte.“

***

Südsternjahre - Die Australien-Saga Gesamtausgabe

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