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SIEBEN

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Gut gelaunt kehrten Lady Claire, Andrew Withcombe und Major Collins zur Tea Time von ihrem Ausflug zum Tintagel Castle zurück.

»Auch wenn es nur eine Legende ist«, sagte Lady Claire, »aber als ich hoch oben auf den Klippen stand, zweihundert Meter unter mir die gewaltige Wucht der Brandung an die schroffen Felsen peitschend – da fühlte ich mich in eine lang vergangene Zeit zurückversetzt.«

»In Cornwall findet man an nahezu jedem Küstenabschnitt und in Dutzenden von Orten Sagen«, erklärte Sandra. »Manche humorvoll, andere tragisch und einige auch richtig gruselig. Ich stamme aus Schottland, einem Land, das auf eine sehr bewegte und leidvolle Vergangenheit zurückblickt und kaum eine Burg hat, in der es nicht spuken soll. Von den Legenden Cornwalls bin ich aber immer wieder aufs Neue fasziniert.«

Andrew legte einen Arm um die Schultern seiner Mutter. »Mum, mach dich jetzt frisch, dann nehmen wir den Tee ein. Oder möchtest du ein wenig ruhen?«

»Ruhen?« Lady Claire lachte. »Das kann ich noch lange genug, wenn ich tot bin.«

»Was in ganz weiter Ferne liegt«, bemerkte Major Collins. »Mylady, Sie sind der Inbegriff blühenden Lebens.«

Geschmeichelt nahm Claire Withcombe das Kompliment entgegen. Sandra stimmte dem Major zu. Der Tag an der frischen Luft hatte Lady Claires Wangen rosa gefärbt, ihre grünen Augen strahlten. Die Sonne zauberte kastanienbraune Reflexe in ihre locker aufgesteckten Haare.

»Major, geben Sie uns die Ehre Ihrer Gesellschaft zum Tee?«, fragte Lady Claire.

»Sehr gern.« Major Collins reichte Andrews Mutter den Arm. Leicht legte sie eine Hand darauf und ließ sich von dem alten Haudegen auf die Terrasse führen.

In diesem Moment kam Imogen aus den Wirtschaftsräumen. Als sie sah, dass Andrew und Sandra in der Halle allein waren, umarmte sie ihn und küsste ihren Verlobten auf den Mund. Er erwiderte den Kuss, schielte mit einem Auge aber zur Tür, als habe er Furcht, Lady Claire könne unerwartet zurückkommen, dann sah er Sandra fragend an.

»Ich weiß Bescheid«, sagte sie und zog sich hinter die Rezeption zurück.

»Hattet ihr einen schönen Tag?«, fragte Imogen.

Andrew nickte. »Meine Mutter ist bester Stimmung. Ich glaube, der Major versucht, mit ihr zu flirten. Auch wenn er viel zu alt ist, genießt meine Mutter seine Aufmerksamkeit und Schmeicheleien.«

»Wenn sie heute so gute Laune hat …«, Imogen sah Andy hoffnungsvoll an. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, um ihr von uns zu erzählen.«

»Noch nicht, Imogen.« Sanft schob er sie von sich. »Sie muss dich erst besser kennenlernen.«

»Deine Mutter will mich überhaupt nicht kennenlernen«, erwiderte Imogen, eine steile Falte über der Nasenwurzel. »Bisher hat sie mich kaum beachtet. Für sie bin ich nur ein bezahlter Dienstbote wie alle anderen. Ich fürchte, sie hat meinen Namen im selben Moment, als sie ihn gehört hat, schon wieder vergessen.«

Unbehaglich trat Andrew von einem Fuß auf den anderen. »Ich muss jetzt zu ihr …«

»Warum?«, fragte Imogen. »Deine Mutter ist beim Major in bester Gesellschaft. Wir könnten einen Spaziergang durch den Park machen.«

»Äh … ich denke, das ist keine gute Idee.« Da Imogen fest die Lippen zusammenpresste, fügte er schnell hinzu: »Der Ausflug hat meine Mutter mehr erschöpft, als sie zugeben will. Ich vermute, sie wird sich gleich nach dem Dinner zurückziehen. Dann können wir uns heute Abend treffen. Oder musst du da noch arbeiten?«

»Imogen hat am Abend frei«, antwortete Sandra an Stelle des Zimmermädchens.

»Okay, um zehn, draußen bei den alten Stallungen.« Imogen seufzte. »Du kommst aber gewiss? Gestern Abend hast du mich versetzt, Andy.«

»Du musst das verstehen«, erwiderte Andrew. »Wir sind gestern erst angekommen, da musste ich mich um meine Mutter kümmern.« Er hauchte Imogen einen Kuss auf die Stirn, dann verließ er die Halle.

»Immer muss er sich um seine Mutter kümmern«, murmelte Imogen, laut genug, dass Sandra es hörte.

»Das wird schon. Sie ist ja erst den zweiten Tag hier, eine solche Sache braucht Zeit.« Sandra versuchte, ihre Angestellte zu trösten, was ihr aber nicht gelang.

»Wenn ich Andy nur nicht so lieben würde.«

Imogens Lippen zitterten. Sandra befürchtete, sie würde jeden Moment in Tränen ausbrechen. Deswegen sagte sie schnell: »Nimm dir den Rest des Nachmittags frei. Geh nach Hause, nimm ein Bad, mach dich hübsch und freu dich auf heute Abend.«

Imogen nickte. »Das mach’ ich, Ms Flemming, danke. Vorhin habe ich gehört, was letzte Nacht in Lower Barton passiert ist. Das ist schrecklich! Hoffentlich findet die Polizei den Täter bald. Monsieur Peintré meint, es wären Jugendliche gewesen, die die Frau hatten ausrauben wollen. Als sie sich wehrte, haben sie zugeschlagen.«

»Bisher wissen wir nichts Genaues«, erwiderte Sandra. »So tragisch der Mord ist, mit Higher Barton hat er nichts zu tun.«

»Ausnahmsweise.« Imogen zwinkerte Sandra zu und lächelte jetzt wieder. »Einen schönen Abend, Ms Flemming, und danke für alles.«

»Ich hoffe, ihr könnt bald offen zu eurer Liebe stehen. Jetzt ab mit dir!«

Nachdem sich am Abend die Gäste zum Dinner im Restaurant versammelt hatten, sagte Sandra zu Eliza: »Ich muss für eine Stunde oder so weg. Ist das okay für Sie?«

»Gehen Sie nur, Sandra, den Rest schaffe ich allein.« Eliza Dexter deutete zum Restaurant. »Heute haben wir wieder acht externe Gäste. Die gute Küche hat sich herumgesprochen. Wenn das so weitergeht, müssen wir anbauen.«

»Das möchte ich nicht«, erwiderte Sandra. »Ich liebe unser kleines, feines Restaurant. Monsieur Peintré und Rosa bewältigen schon jetzt die Arbeit kaum mehr allein. Vor ein paar Tagen fragte mich Monsieur, ob es möglich sei, einen Beikoch einzustellen. Ich sagte, ich würde darüber nachdenken. Es ist nicht einfach, einen guten Jungkoch zu finden.«

»Natürlich wünscht sich Monsieur einen Mann.« Eliza schmunzelte. »Rosa hat er endlich akzeptiert, und sie kommt mit Monsieurs Macken gut klar.«

»So hat halt jeder seine Ecken und Kanten. Ändern werden wir Monsieur nicht mehr, wenngleich seine Ansicht, Frauen wären als Köchinnen nur am heimischen Herd geeignet, altmodisch und diskriminierend ist.« Auch Sandra lachte. »Sofern es möglich ist, ohne jemanden zu benachteiligen, werden wir die Wünsche von Monsieur Peintré berücksichtigen. Wir möchten nicht, dass seine Kreativität an den Töpfen und Pfannen empfindlich gestört wird.«

»Sprechen Sie über mich?« Wie aus dem Nichts stand der Koch in der Tür.

»Nicht über Sie, sondern von Ihnen, Monsieur«, erklärte Sandra, »und nur positiv!«

Skeptisch musterte Peintré seine Chefin, sein grauer, schmaler Oberlippenbart kräuselte sich. »Was anderes gibt es auch nicht zu sagen«, murrte er. »Ms Flemming, können wir über die anstehende Weinprobe sprechen? Müssen es denn unbedingt französische Weine sein? Ausgerechnet Frankreich!«

»Monsieur, berichtigen Sie mich bitte, wenn ich falsch liege, aber Ihr Heimatland Belgien ist nicht gerade für erstklassigen Wein berühmt.«

Der Koch senkte den Kopf und brummelte: »Deswegen haben wir erstklassiges Bier und die besten Pommes frites der Welt.«

»Keineswegs wollte ich Belgien in irgendeiner Weise schmälern«, erwiderte Sandra. Es fiel ihr immer schwerer, ernst zu bleiben. »Jedes Land hat seine Spezialitäten, und das ist gut so. Ich habe mich entschlossen, einmal im Monat eine Weinverkostung anzubieten. Wir starten mit französischen Weinen. Im September werden dann die Weine aus dem Camel Valley hier in Cornwall vorgestellt.«

Der Koch schüttelte sich und zog die Mundwinkel nach unten. »Der eignet sich nur zum Kochen, wenn überhaupt.«

»Ich finde besonders den Rotwein aus Cornwall ausgezeichnet«, warf Eliza ein. »Zudem sind wir bestrebt, lokale Produkte anzubieten und die Erzeuger entsprechend zu unterstützen.«

»Können wir morgen über die Weinprobe sprechen?«, bat Sandra. »Ich muss jetzt etwas anderes erledigen. Sie können versichert sein, Monsieur, dass der französische Wein, den wir übrigens auf der Karte haben und den unsere Gäste sehr zu schätzen wissen, Ihre Gefühle als Belgier nicht verletzten wird.«

»Nehmen Sie mich etwa auf den Arm, Ms Flemming?«

Abwehrend streckte Sandra die Hände aus. »Mitnichten, Monsieur! Dafür sind Sie mir viel zu schwer.«

Aus dem Augenwinkel sah Sandra, wie Eliza hektisch in ein paar Unterlagen kramte, da sie kurz davorstand, einen Lachkrampf zu bekommen. Monsieur Peintré legte großen Wert darauf, nicht als Franzose angesehen zu werden. Er erinnerte Sandra an Hercule Poirot, äußerlich hatte der Koch mit dem literarischen Meisterdetektiv jedoch keine Ähnlichkeit. Peintré war einen Kopf kleiner als Sandra, hatte eine gedrungene Figur mit einem deutlichen Bauchansatz und ein rundes Gesicht mit häufig geröteten Wangen. Das Leben hatte es nicht immer gut mit ihm gemeint. Im Großen und Ganzen war der Koch mit allem zufrieden, zumal ihm Sandra bei der Zusammenstellung der Menüs nahezu freie Hand ließ. Dass Monsieur Peintré auch lokale Speisen, wie Chips & Fish und besonders die Cornish Pasties zubereiten musste, hatte anfangs zu Differenzen geführt, die inzwischen aber überwunden waren.

Eine halbe Stunde später parkte Sandra ihren roten Land Rover mit dem schwarzen Dach in der Fore Street von Lower Barton, genau vor dem Fleischereifachgeschäft von Agnes Roberts. Seit dem frühen Tod ihres Mannes führte Ms Roberts das Geschäft allein, über mangelnde Kundschaft konnte sie sich nicht beklagen. Die Fleischtheke im Supermarkt Morrisons am Ortsrand war für sie keine Konkurrenz, da viele Leute die frische, lokale Ware vor der aus dem Discounter bevorzugten. Auch das Higher Barton Romantic Hotel wurde von Ms Roberts beliefert. Die zahlreiche Kundschaft verdankte Agnes Roberts nicht nur der guten Qualität ihrer Produkte, sondern auch der Tatsache, dass die Metzgerei der Dreh- und Angelpunkt der Neuigkeiten in Lower Barton war. Ms Roberts wusste stets über alles und über jeden als Erste Bescheid, es gab keinen Vorfall, der an ihr vorbeiging und unkommentiert blieb. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie Daily Mirror von Lower Barton genannt, und so mancher behauptete, die Metzgerin sei eine Klatschbase. Anfangs hatte auch Sandra diesen Eindruck von Ms Roberts gewonnen. Mehr als einmal war Sandra zu ihr sogar schroff gewesen, wenn Ms Roberts ihr die angeblichen Geheimnisse der Bewohner von Lower Barton erzählen wollte. Wer mit wem, wann und warum … Inzwischen hatte Sandra die ältere Frau aber schätzen gelernt. Agnes Roberts sprach zwar gern und viel, in ihrem Geschwätz steckte aber oft ein Körnchen Wahrheit. Zudem hatte die Metzgerin ein gutes Herz und setzte sich für Minderheiten und Menschen, die vom Schicksal benachteiligt waren, ein.

Der Laden war bereits geschlossen. Sandra ging zum Eingang auf der Seite des Hauses und drückte auf den Klingelknopf. Gleich darauf hörte sie Schritte, Ms Roberts rief: »Lasst mich doch in Ruhe! Ich gebe keine Interviews!«, dann wurde die Tür einen Spalt geöffnet. »Ach, Sie sind es, Sandra.« Ms Roberts wirkte sichtlich erleichtert.

»Es tut mir leid, was passiert ist«, sagte Sandra.

»Kommen Sie mit hoch.« Agnes Roberts trat einen Schritt zur Seite. »Ich habe mir gerade einen Tee aufgebrüht. Trinken Sie auch eine Tasse?«

»Sehr gern.« Sandra, die einem Kaffee mit viel fluffigem Milchschaum den Vorzug gab, wollte nicht unhöflich sein. Außerdem war sie gekommen, um von Ms Roberts mehr über das schreckliche Geschehen zu erfahren. Immerhin war die Tote eine Kollegin von Ann-Kathrin Trengove.

»Ich wollte nachsehen, wie es Ihnen geht«, sagte Sandra, als sie Ms Roberts die enge, steile Treppe hinauf in die Wohnräume folgte.

»Das ist sehr freundlich, Sandra. Ich glaube, ich stehe noch unter Schock.« Sie zwinkerte Sandra zu und wirkte gar nicht verstört. »Im Gegensatz zu Ihnen bin ich an das Auffinden von Leichen nicht gewöhnt.«

»Ja, leider musste ich eine solche Erfahrung schon mehrmals machen.«

Agnes Roberts führte Sandra ins Wohnzimmer. Sandra, die zum ersten Mal hier war, sah sich verstohlen um. Die zupackende Metzgerin hatte ein Faible für dezente Farben und moderne Formen, was Sandra von der über Sechzigjährigen nicht erwartet hätte. Auf dem hellen Dielenboden lag ein beigefarbener Teppich, das Sofa und zwei Sessel waren mit zartgelbem Stoff bezogen, die Farbe fand sich in den gerüschten Vorhängen vor den Sprossenfenstern wieder. Mintgrüne Kissen und eine ebensolche Tischdecke passten sehr gut zu der Einrichtung mit Möbeln aus jüngster Zeit. Sandra wusste, dass das Haus an die vierhundert Jahre alt und außen wie innen komplett renoviert worden war, ohne den alten Charme verloren zu haben. In einem Korb neben dem Sofa lag ein braun-schwarzer Hund mit einer langen Schnauze. Er hob nur kurz den Kopf, als Sandra sich setzte, schloss dann wieder die Augen und schlief weiter.

»Was für ein hübscher Hund«, sagte Sandra. »Wie lange müssen Sie ihn noch betreuen, Agnes?«

»Bestimmt noch zwei oder drei Wochen. Das mache ich aber gern, Sabu ist ein so lieber Kerl. Ich fürchte, er vermisst sein Herrchen. Wenn ich meinen Nachbarn in der Klinik besuche, darf ich Sabu leider nicht mitbringen.« Ms Roberts wandte sich zur Tür. »Mögen Sie Jasmintee?«

»Sehr gern, Agnes.«

Aus der mit allen modernen Geräten eingerichteten Küche holte Ms Roberts ein Tablett mit der Teekanne, zwei Tassen, Sahne, Zucker und einem Teller mit Ingwerkeksen.

»Die habe ich nicht selbst gebacken, sondern im Supermarkt gekauft«, erklärte sie. »Backen ist nämlich nicht gerade meine Leidenschaft.«

Sandra lächelte, nahm einen Schluck von dem aromatischen Tee, der leicht nach Jasmin duftete, dann sagte sie: »Bitte halten Sie mich nicht für neugierig, Agnes, aber würden Sie mir erzählen, wie das heute Morgen war? Das heißt, wenn Sie sich kräftig genug fühlen, darüber zu sprechen.«

»Gern, Sandra. Ich habe sogar erwartet, dass Sie zu mir kommen. Immer, wenn ein Mord in oder um Lower Barton herum geschieht, ruft das Sie auf den Plan. Wie viele Mörder haben Sie inzwischen zur Strecke gebracht?«

»Drei«, antwortete Sandra wahrheitsgemäß. »Wobei ich immer nur ein wenig herumgefragt und nachgeforscht habe. Schlussendlich dingfest gemacht wurden die Täter von der Polizei.«

»Ach ja, die Polizei, und ganz besonders unser geschätzter Detective Chief Inspector.« Ms Roberts sah Sandra wissend an. »Sie und der DCI sind ein schönes Paar. Wann läuten denn die Hochzeitsglocken?«

Sandra wunderte sich nicht, dass Agnes Roberts von ihrer Beziehung wusste, Christopher und sie machten auch kein Geheimnis daraus. In einem kleinen Ort wie Lower Barton sprach sich ohnehin alles schnell herum, und gerade Agnes Roberts hatte ihr Ohr immer am Puls der Zeit.

»Ach, Agnes, Christopher und ich sind glücklich miteinander, wie es derzeit ist«, antwortete Sandra.

Ms Roberts starrte auf Sandras Bauch. »Sie sind nicht mehr die Jüngste«, sagte sie direkt. »Wenn Sie an Nachwuchs denken sollten …«

»Mit dem Hotel habe ich alle Hände voll zu tun, Agnes.« Etwas unbehaglich rutschte Sandra auf dem Stuhl umher. Die Metzgerin schien zu bemerken, dass Sandra das Thema nicht weiterverfolgen wollte.

»Hat die Polizei bereits eine Spur?«, fragte sie.

»Nicht, dass ich wüsste. Wobei Inspector Bourke mir keine Interna verraten darf.« Sandra beugte sich vor. »Sie kannten die Tote?«, fragte sie, um auf den Grund ihres Besuches zu kommen.

Agnes Roberts zuckte mit den Schultern. »Kennen ist zu viel gesagt. Susan Nicholls war keine meiner Stammkundinnen. Ich glaube, sie kaufte vorrangig bei Morrisons, weil es dort günstiger ist.«

»Dann war Susan nicht vermögend?«, fragte Sandra. »Als Lehrerin hatte sie doch gewiss ihr Auskommen.«

»Susan hat drei Kinder großgezogen. Die sind zwar alle außer Haus, seit Mr Nicholls aber nicht mehr arbeiten kann, wird sie sparsam gelebt haben, allein schon um die regelmäßig anfallenden Arztkosten zu bezahlen. Unser Gesundheitssystem deckt nur das Nötigste ab. Wer eine bessere Behandlung möchte, muss selbst in die Tasche greifen. Mr Nicholls ist auf regelmäßige physikalische Behandlungen angewiesen.«

»Warum kann Susans Mann nicht mehr arbeiten? Ist er krank?«

Ms Roberts wunderte sich nicht über Sandras Fragen, im Gegenteil. Sie blühte auf, wenn jemand Interesse am Leben anderer zeigte.

»Er hatte einen Autounfall«, erklärte Ms Roberts bereitwillig. »Es liegt Jahre zurück, und ich weiß leider nicht, was genau passiert ist. Wochenlang rang Mr Nicholls mit dem Tod. Er erholte sich dann zwar, kann seitdem aber nur noch wenige Schritte gehen, die meiste Zeit muss er im Rollstuhl sitzen. Wenn Susan unterrichtet hat, kam eine Pflegerin zu Mr Nicholls, diese kostet zusätzlich Geld.«

»Der arme Mann! Gehbehindert, und jetzt hat er seine Frau verloren!« Auch wenn Sandra ihn nicht kannte, war sie voller Mitgefühl für Susans Mann. »Sie sagten, Susan hatte Kinder. Kümmern sich diese nicht um ihren Vater?«

»Die Kinder leben alle nicht mehr in Lower Barton. Sie kommen nur zu sporadischen Besuchen vorbei.«

Dafür, dass Agnes das Opfer angeblich kaum gekannt hatte, wusste sie erstaunlich gut Bescheid, dachte Sandra und sagte: »Besonders schrecklich ist es, dass Susan ermordet wurde.«

Ms Roberts schüttelte sich, senkte die Stimme und raunte: »Es war ein furchtbarer Anblick, Sandra! Der Frau wurde der Schädel eingeschlagen! Wer tut so was? Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Die Lehrerin wurde überfallen, um sie auszurauben. Der Chief Inspector sagte allerdings, das Portemonnaie sei noch in ihrer Jackentasche gewesen, ebenso wurde ihr Ehering nicht gestohlen. Der ist immerhin aus Gold und schon ein paar Pfund wert.«

»Vermutlich wollte der Täter die Frau nicht umbringen«, mutmaßte Sandra. »Er hat sie überfallen, Susan hat sich gewehrt, da hat er stärker zugeschlagen, als er wollte. Als er sah, dass Susan tot war, geriet er in Panik und floh ohne Beute.«

Agnes Roberts nickte zustimmend, ihre Augen funkelten. Die Unterhaltung mit Sandra war ganz nach ihrem Geschmack.

»Ein Raubmörder in unserem beschaulichen Lower Barton! Da ist man sich seines Lebens ja nicht mehr sicher!«

»Der Täter kann auch von außerhalb und zufällig in den Ort gekommen sein.« Sandra spann den Faden weiter. »Dafür spricht, dass er ausgerechnet Susan Nicholls überfallen hat. Jeder, der die Lehrerin kannte, muss doch gewusst haben, dass bei ihr nicht viel zu holen war.« Nachdenklich runzelte sie die Stirn und fragte: »Hat niemand etwas gehört oder gesehen? Mit Ausnahme des Hauses am Sunset Close, vor dem Sie Susan gefunden haben, sind die anderen bewohnt.«

Ms Roberts zuckte mit den Schultern. »Es ist anzunehmen, dass die Polizei alle Anwohner befragt. Als ich Susan auffand, schrie ich, was Sie sicher verstehen, Sandra. Daraufhin flammte hinter mehreren Fenstern Licht auf. Es war ja noch früh am Morgen. Zwei Männer kamen heraus und fragten, was los sei.«

»Das heißt, dass die Tote nicht hatte schreien können«, mutmaßte Sandra, »sonst wäre sie gehört worden. Wo wohnte Susan? Ebenfalls am Sunset Close?«

»Natürlich nicht«, rief Ms Roberts. »Das ist eine viel zu teure Wohngegend. Die Familie hat im Osten von Lower Barton ein Reihenhaus, in der Trelawn Road.« Sandra zuckte so heftig zusammen, dass der Tee in der Tasse, von dem sie gerade trinken wollte, überschwappte. In der Untertasse bildete sich ein See. »Hoppla!« Ms Roberts lächelte wissend. »Ja, die Nicholls wohnen in derselben Straße wie Ihr Chief Inspector. Vielleicht sind Sie Susan ja schon mal begegnet, als Sie bei Ihrem Freund gewesen sind?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich besuche Christopher Bourke eher selten, wir treffen uns meistens in Higher Barton.« Sandra sah keinen Grund, diese Informationen Ms Roberts zu verschweigen, auch, um eventuellen Spekulationen vorzubeugen. Sie stellte die leere Tasse ab und stand auf. »Herzlichen Dank für den Tee, Agnes. Wenn Ihnen noch was zu Susan einfällt, können Sie mich jederzeit anrufen oder besuchen kommen.«

»Der Fall scheint Sie sehr zu interessieren, Sandra.« Wissend zog Ms Roberts eine Augenbraue hoch. »Sie können es nicht lassen, sich einzumischen, nicht wahr? In Ihnen steckt eben doch eine Detektivin.«

»Susan Nicholls war die Kollegin meiner Freundin, Ms Trengove«, erwiderte Sandra. »Grundsätzlich bin ich daran interessiert, dass Täter schnell gefasst werden. Ein negatives Image von Lower Barton schlägt sich auch auf mein Hotel nieder.«

»Ach, geben Sie es doch zu, Sandra: Die Ermittlungsarbeit macht Ihnen Spaß! Solange Sie nicht in Gefahr geraten, ist es doch in Ordnung. Greifen Sie dem DCI nur kräftig unter die Arme, damit der Mörder bald hinter Gittern sitzt.«

»In diesem Fall gibt es nichts, das ich tun könnte. Gute Nacht, Agnes, ich hoffe, Sie können nach diesem aufregenden Tag überhaupt Ruhe finden.«

»Ich werde eine Baldriantablette nehmen. Sicher ist sicher, denn morgen früh muss ich ausgeruht hinter dem Verkaufstresen stehen.«

Auf der Straße atmete Sandra tief durch. Inzwischen war es dunkel geworden, ein kühler Wind ließ sie frösteln. Vor dem Sailor’s Rest, dem örtlichen Pub, waren trotzdem alle Tische und Bänke belegt, es ging laut und lustig zu. Sandra startete ihren Wagen, wendete auf der Straße und fuhr nach Osten. Es war nach zehn Uhr, auch ein DCI hatte mal Feierabend und vielleicht würde sie Christopher zu Hause antreffen. Bei dieser Gelegenheit könnte sie ja einen Blick auf das Wohnhaus der Nicholls werfen. Selbstverständlich rein zufällig und unverbindlich.

Die Braut sieht rot

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