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VIER

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Sandras Philosophie war, sich persönlich um jeden einzelnen Gast zu kümmern. Das Higher Barton Romantic Hotel verfügte über neun Räume, die als Doppel- oder Einzelzimmer genutzt wurden, und drei Suiten. Die kleinste von ihnen, Queen Mary, bewohnte der Dauergast Major Collins, die Lord-Leicester-Suite mit zwei Schlafzimmern war von Lady Claire Withcombe und ihrem Sohn Andrew gebucht worden. In der Queen-Elizabeth-Suite logierte ein frischvermähltes Paar aus den Niederlanden, die während ihrer Hochzeitsreise durch Südengland tourten. Jedem neuen Gast sah Sandra mit freudig-gespannter Erwartung entgegen. Heute Nachmittag war sie aber derart unruhig, dass Eliza Dexter sagte: »Alles in Ordnung, Sandra? Sie wirken etwas hippelig.«

»Alles okay.« Sandra winkte ab. »Übrigens, Eliza: Imogen fragte mich, ob sie diese Woche Sonderschichten machen und im Service mithelfen kann. Ich habe zugestimmt.«

»Warum denn das?«, entfuhr es der spröden Managerin.

Sandra, die mit dieser Reaktion gerechnet hatte, antwortete: »Das Haus ist voll belegt, zum Dinner kommen immer mehr Gäste von außerhalb. Wir können jede zusätzliche Hand und Imogen am Ende des Monats ein paar Pfund mehr gut gebrauchen.«

»Von mir aus.« Eliza zuckte mit den Schultern und stellte Sandras Entscheidung nicht infrage.

In diesem Moment kam Imogen die Treppe in die Halle herunter. »Soeben ist ein Wagen vorgefahren«, sagte sie mit einem wissenden Blick zu Sandra. »Das müssen Lord und Lady Withcombe sein.«

Imogen hatte sich perfekt im Griff. Nur weil Sandra über die Besonderheit dieser Gäste informiert war, bemerkte sie bei dem Zimmermädchen eine leichte Nervosität. Sandra verließ das Haus, um die neuen Gäste zu begrüßen. Aus einem silberfarbenen Bentley stieg der Fahrer, ein hochgewachsener Mann mit einer schlaksigen Figur und hellblonden, kurzgeschnittenen Haaren. Imogens Augen leuchteten auf. Das ist also der besagte Andy, dachte Sandra. Der junge Mann öffnete die Tür im Fond und reichte der Dame helfend die Hand. Die Ähnlichkeit zwischen Lady Claire Withcombe und ihrem Sohn war unverkennbar. Auch sie war groß und schlank, beide hatten die gleiche Gesichtsform und volle Lippen. Lady Claires langes Haar war kupferrot. Sie trug es hochgesteckt, geschmückt mit einem türkisgrünen Fascinator, das Twinset in derselben Farbe.

Sandra ging den Gästen entgegen. »Willkommen in Cornwall, Lady Withcombe, Lord Withcombe. Ich bin Sandra Flemming, die Inhaberin von Higher Barton.«

Lady Claire musterte erst Sandra, dann das Haus. Ihr Teint war hell, porzellanartig, frei von Sommersprossen, bei roten Haaren eher untypisch, und nahezu faltenfrei, ihre grünen Augen hatten bernsteinfarbene Einsprengsel. Neidlos musste Sandra zugeben, dass Andys Mutter eine wunderschöne Frau war. Aus dem Buchungsformular wusste sie, dass Lady Claire Mitte Fünfzig war.

»Es sieht unerwartet nett aus.« Lady Claires Stimme war tief und etwas rau. »Ich verstehe nicht, warum mein Sohn darauf bestanden hat, ausgerechnet in der Hauptsaison nach Cornwall zu reisen.« Sie seufzte. »Wenn das Hotel wenigstens am Meer liegen würde.«

»Die Lage auf dem Land schätzen unsere Gäste sehr«, erwiderte Sandra mit einem freundlichen Lächeln. »In den Badeorten an den Küsten treten sich die Touristen gegenseitig auf die Zehen, in Higher Barton werden Sie Ruhe und Erholung finden, Mylady.«

»Erholung wovon?« Die Dame zog eine ihrer sorgfältig schmal gezupften Augenbrauen hoch. »Mit Ruhe meinen Sie wohl Langeweile, aber die eine Woche wird schnell vergehen.«

»Mum, ich verspreche dir, du wirst diese Gegend lieben.« Zum ersten Mal sprach Andrew Withcombe. Auch er hatte eine tiefe Stimme, die Sandra angenehm in den Ohren klang. »Abseits des Trubels finden sich hier viele prähistorische Stätten, Cornwall hat ausgezeichnete Museen, die Tate Gallery in St Ives ist weltberühmt, und …«

»Lass es gut sein, Andrew.« Zum ersten Mal lächelte Lady Claire. Auf Sandra wirkte sie gleich freundlicher. »So ist das halt mit Kindern.« Sie zwinkerte Sandra zu. »Man kann ihnen schlecht etwas abschlagen. Haben Sie Kinder, Ms Flemming?«

»Nein«, erwiderte Sandra und fügte hinzu: »Noch nicht. Darf ich Sie in Ihre Suite führen oder möchten Sie erst eine Erfrischung zu sich nehmen, Mylady?«

»Ich glaube, ich möchte gleich auf mein Zimmer. Ach, sagen Sie Lady Claire zu mir, Mylady klingt nach einer alten Matrone.«

»Die du zweifelsohne nicht bist, Mum.« Liebevoll legte Andy einen Arm um die schmalen Schultern seiner Mutter. »Es wird dir in Cornwall gefallen.«

»Solange du an meiner Seite bist, gefällt es mir überall, Andrew.« Lady Claire legte ihren Kopf an die Schulter ihres einen Kopf größeren Sohnes. »Du hast sicher recht, ein Tapetenwechsel wird mir guttun.«

»Wir werden eine wundervolle Zeit miteinander haben, Mum.«

Aus dem Augenwinkel sah Sandra, wie ein Ausdruck von Beklemmung über Imogens Gesicht huschte. Das innige Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war zu offensichtlich.

Andrew Withcombe öffnete den Kofferraumdeckel und stellte drei Trolleys und ein Beautycase auf das Kiesrondell. Zwei der Koffer nahm er zur Hand, Imogen trat vor und griff nach dem Trolley und dem Schminkkoffer.

»Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck, Sir«, sagte sie.

»Das ist nicht nötig, ich kann zweimal gehen.«

»Andrew, lass die Frau doch«, mischte sich Lady Claire ein. »Sie wird dafür bezahlt, sich um uns zu kümmern.« Zum ersten Mal sah Andys Mutter Imogen an. »Na ja, ausgesprochen kräftig wirkt sie nicht.«

»Ich versichere Ihnen, Ms Imogen ist eine ausgezeichnete Kraft«, sagte Sandra schnell. Die Andeutung eines Lächelns huschte über Imogens Lippen. »Sie ist loyal, zuverlässig und hilfsbereit. In meinem Haus möchte ich sie nicht missen. Wenn Sie Wünsche haben, Lady Claire, wenden Sie sich bitte an Imogen und natürlich an mich.«

Lady Claire nickte so huldvoll, als hätte sie nichts anderes erwartet. Sandra wusste nichts über die Familie, vermutete aber, dass die Lady daran gewöhnt war, bedient zu werden.

Die Lord-Leicester-Suite befand sich im zweiten Stock im Westflügel: ein kleiner Wohnraum, ein großzügig geschnittenes Schlafzimmer mit einem Doppelbett, im zweiten Schlafraum ein schlichteres Bett, ein Bad mit Tageslicht, Doppelwaschbecken, Badewanne und einer separaten Duschkabine mit Regendusche. Die zartgelben Hand- und Badetücher waren flauschig, mit einem Duft nach Verbenen. Kritisch blickte sich Lady Claire um, schien aber nichts zu finden, was ihr nicht zusagte. Sie ließ sich sogar zu den Worten »So hübsch habe ich es mir nicht vorgestellt« hinreißen. Sie trat ans Fenster. Der Blick ging über die rückwärtigen Gärten von Higher Barton zu den sanft geschwungenen Hügeln, hinter denen das Land zur Küste abfiel. Das Gras war saftig grün, in den mächtigen, alten Eichen und Rotbuchen flatterten Vögel.

»Ich denke, ich sollte nach dem Tee einen kleinen Spaziergang machen«, murmelte Lady Claire. »Es ist so ein schöner Tag.«

»Von Higher Barton führen zahlreiche Wander- und Spazierwege in die Umgebung«, erklärte Sandra. »In etwa einer halben Stunde kommen Sie nach Lower Barton, einer alten Ortschaft, die bereits im Doomsday Book erwähnt worden ist. Die Kirche mit dem normannischen Turm ist sehenswert. Sie sollten aber immer auf den ausgewiesenen Wegen bleiben. Die Gegend war einst ein Zentrum des Bergbaus. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zwei Drittel des Weltbedarfs an Zinn und Kupfer in Cornwall gefördert. Noch heute finden sich zahlreiche Schächte, die auf den ersten Blick als solche nicht zu erkennen sind. Man kann einbrechen und viele Meter in die Tiefe stürzen.«

»Wollen Sie damit sagen, ein Spaziergang kann lebensgefährlich sein?« Lady Claires Augen weiteten sich erschrocken.

»Mitnichten«, wiegelte Sandra ab. »Es ist nur meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen. Die markierten Wege werden regelmäßig überprüft. Solange man diese nicht verlässt, kann nichts geschehen.«

»Ich wusste nicht, dass Cornwall eine so gefährliche Gegend ist«, sagte Lady Claire, zwinkerte Sandra aber zu. Sie wurde Sandra von Minute zu Minute sympathischer.

»Mylady, ich werde Ihre Sachen auspacken, solange Sie den Tee einnehmen«, sagte Imogen.

Mit einer Handbewegung gab Lady Claire zu verstehen, dass sie damit einverstanden war, dabei sah sie Imogen jedoch nicht an. Sandra hoffte, Imogens und Andys Plan möge aufgehen. Sandra fragte nun nach den Wünschen für das Dinner.

»Ich esse am Abend nur wenig«, antwortete Lady Claire. »Mageres Fleisch oder Fisch, etwas gedämpftes Gemüse ohne Salz und ein paar Kartoffeln. Keine fetten Soßen und keinen Nachtisch.«

»Ich esse alles und freue mich auf das Dinner«, bemerkte Andrew. »Der Chefkoch, ein Belgier, ist mit zwei Sternen dekoriert und hat in den besten Häusern Europas gearbeitet.«

»Woher weißt du das?«, fragte Andrews Mutter. »Ich wüsste nicht, dass du schon mal hier gewesen bist.«

»Es steht auf unserer Webseite«, warf Sandra schnell ein und sah Andrew an. »Ich nehme an, Sie haben es dort gelesen, Sir.«

»Äh … Ja, natürlich.« Andrew reichte seiner Mutter den Arm. »Gehen wir zum Tee hinunter? Ich habe nämlich Hunger, und bis zum Dinner dauert es noch ein paar Stunden.« Beim Hinausgehen lächelte er, von Lady Claire unbemerkt, Imogen zu, die seinen Blick liebevoll erwiderte.

Nachdem Lady Claire und ihr Sohn auf der Terrasse Platz genommen hatten, um den Tee zu trinken, setzte sich Sandra an den Schreibtisch. Nach ein paar Klicks im Internet hatte sie ausführliche Informationen über die Withcombes gefunden. Wie Imogen gesagt hatte, reichte der Stammbaum der Familie ins 17. Jahrhundert zurück. In dieser Zeit war auch West Yverton Manor House, das Heim der Withcombes, erbaut worden. Heute war das Anwesen ein landwirtschaftliches Unternehmen, das sich auf die Milchwirtschaft spezialisiert hatte. Auf der Webseite fand Sandra mehrere Fotos von Lord Andrew Withcombe. Er trug einfache Jeans oder dunkelgrüne Arbeitshosen, karierte Hemden, darüber eine Steppweste und auf dem Kopf eine Schiebermütze. Mit einem Aristokraten hatte Andy wenig Ähnlichkeit, eher mit einem durchschnittlichen Farmer. Er war ein Mann der Tat und packte kräftig mit an. Die Zeiten, in denen sich der Adel von allein ernährte, waren seit über hundert Jahren vorbei. Längst füllte ein guter, alter Name nicht mehr die Teller und Börsen der Familienmitglieder. Sandra zollte dem jungen Mann Respekt und verstand, warum sich Imogen in ihn verliebt hatte.

»Ms Flemming?« In der Tür stand Imogen und sah Sandra fragend an.

»Komm rein«, sagte Sandra.

Imogen schloss die Bürotür hinter sich, damit Eliza Dexter an der Rezeption nicht hören konnte, was Imogen sagte.

»Wie finden Sie ihn?«

»Freundlich und zuvorkommend«, antwortete Sandra, deutete auf den Bildschirm und fügte hinzu: »Ein Mann, der mit beiden Beinen im Leben steht.«

»Ja, das tut Andy.« Imogens Augen leuchteten. »Er managt den Besitz ganz allein, seine Mutter will mit der Landwirtschaft nichts zu tun haben.«

»Auf mich macht Lady Claire einen sympathischen Eindruck. Allerdings ist sie daran gewöhnt, bedient zu werden.«

»Sie hat vier Angestellte, die sich ausschließlich um sie kümmern«, erklärte Imogen. »Andy sagt, seine Mutter wäre erzogen worden, eine Lady zu sein. Ihre Eltern gehörten zwar nicht dem Adelsstand an, aber ihr Vater war Politiker. Dementsprechend hatte die Familie stets Umgang mit der Oberklasse.«

»Oberklasse … Unterklasse …« Sandra schüttelte den Kopf. »Diese Zeiten sind doch überholt! Imogen, du bist eine tolle Frau mit einem einwandfreien Charakter und mindestens so viel wert wie jede Lady dieses Landes. Vergiss das nie!«

»Das haben Sie lieb gesagt, Ms Flemming.« Imogen lächelte verlegen. »Danke, dass Sie mir helfen.«

»Viel kann ich nicht ausrichten. Schlussendlich ist es deine und Andys Angelegenheit.«

Es klopfte an der Tür. Sie öffnete sich, und Eliza Dexter sah ins Büro.

»Sandra, der Herr wegen der Photovoltaikanlage ist jetzt da. Sie haben einen Termin mit ihm.« Eliza musterte Imogen.

Sandra konnte ihr nicht verübeln, dass Eliza skeptisch dreinblickte. Sie fragte sich wohl, was ein Zimmermädchen mit der Chefin hinter verschlossenen Türen zu besprechen hatte.

»Führen Sie ihn bitte herein, Eliza«, sagte Sandra und zu Imogen: »Danke, dass du Sonderschichten machst. Das hilft uns sehr.«

Imogen verließ das Büro. Die nächste Stunde verbrachte Sandra mit dem Handwerker. Die Heizungsanlage war zwar beim Umbau Higher Bartons zu einem Hotel vor vier Jahren erneuert worden. Nun plante Sandra allerdings, die Leistung mit einer Photovoltaikanlage nachhaltiger zu gestalten. Auch während der Wintermonate schien in Cornwall häufig die Sonne. Auf längere Sicht würde sich die Investition rechnen.

Gedankenverloren fuhr Sandra mit der Fingerspitze über den Rand ihres Glases. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne blitzten in dem blutroten Wein.

»Schmeckt dir der Wein nicht?«, fragte Christopher Bourke. »Er kommt aus Spanien.«

»Er ist ausgezeichnet, Christopher.« Sandra lächelte und nippte an ihrem Glas.

Sie saßen auf der Bank vor Sandras Cottage. Nach dem Dinner war Sandra nach Hause gegangen. Eliza Dexter hatte heute den Abenddienst. Um zweiundzwanzig Uhr wurde das Haus geschlossen. Alle Gäste konnten es aber die ganze Nacht hindurch verlassen und wieder betreten. Die Tür war mit einem Lesegerät gesichert, vor das die Gäste ihre Zimmerkarten halten mussten. Sandra freute sich, dass Christopher gekommen war und gemeint hatte, er könne auch die Nacht bei ihr verbringen. Sie sah zum Haus hinüber, das etwa zweihundert Yards von ihrem Cottage entfernt war. Fast alle Fenster waren hell erleuchtet. Sandra vermutete, dass die Gäste, die am Abend nicht ausgegangen waren, auf der Terrasse saßen und sich die Drinks von der Bar schmecken ließen.

Unwillkürlich seufzte Sandra.

»Dich bedrückt doch etwas, Sandra.« Christopher legte einen Arm um ihre Schultern. »Was ist los? Irgendwelche Diebstähle oder suspekte Gäste im Hotel?«

»Du kennst mich gut.« Sandra lächelte und legte ihre Wange auf Christophers Hand. Es tat gut, die Wärme seiner Haut zu spüren. »Ja, es geht mir eine Sache durch den Kopf, bei der ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Es ist aber nichts Illegales oder gar Kriminelles!«, fügte sie schnell hinzu.

»Das will ich hoffen.« Christopher lachte. »Wenn du darüber sprechen möchtest – ich kann gut zuhören.«

Sandra zögerte. Sie hatte Imogen zwar versprochen, gegenüber den anderen Angestellten über deren Beziehung zu Andrew Withcombe Stillschweigen zu bewahren, ihr Freund indes war davon ausgeschlossen. Christopher hatte zu den Gästen keinen Kontakt, Imogen kannte er nur flüchtig, es bestand also keine Gefahr, dass er sich verplappern konnte. So erzählte Sandra ihm von den Withcombes und dem Plan des Zimmermädchens, das Herz von Lady Claire zu gewinnen, damit sie Andy heiraten konnte. Als Sandra geendet hatte, pfiff Christopher durch die Zähne.

»Da macht deine Angestellte eine gute Partie. Sie wird eine Lady werden und in einem Schloss leben.«

»Darauf legt Imogen keinen Wert.« Sandra knuffte Christopher in die Seite. »Sie mag vielleicht aus einfachen Verhältnissen stammen, strebt aber nicht nach Höherem. Ich habe den Eindruck, sie liebt diesen Mann aufrichtig. Auch wenn es bedeutet, dass ich mich nach einer neuen Kraft umsehen muss, gönne ich Imogen ihr Glück. Der Besitz der Withcombes ist ein Wirtschaftsunternehmen, da wird Imogen ohnehin kräftig mit anpacken müssen. Lady Claire kann ich noch nicht einschätzen. Auf mich macht sie einen freundlichen Eindruck, allerdings habe ich bemerkt, wie innig die Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn ist.«

»Kein Wunder, wenn der Vater gestorben ist, als Andy noch ein kleiner Junge war. Da klammert sich eine Mutter oft an den Sohn, sieht in ihm einen Ersatz für den toten Ehemann.«

»Für Imogen hoffe ich, dass ihr Freund zu ihr stehen wird, sollte Lady Claire mit der Heirat nicht einverstanden sein.«

»Standesunterschiede spielen heute keine Rolle mehr«, erwiderte Christopher. »Sandra, du bist sehr gutherzig, dass du das Spiel mitmachst.«

»Ach, mein Part dabei ist gering. Ich habe Imogen lediglich erlaubt, sich um Lady Claire zu kümmern. Das Glück meiner Angestellten ist mir wichtig.« Sandra nahm einen kleinen Schluck von dem Wein. »Was ist bei dir so los, Christopher? Hast du gerade einen wichtigen Fall?«

»Du weißt genau, dass ich über meine Arbeit nicht sprechen darf.« Er gab Sandra einen liebevollen Nasenstüber. »Glücklicherweise ist seit Monaten in Lower Barton und Umgebung nicht viel passiert ist. Ab und zu ein paar Streitereien im Pub, wenn zu viel getrunken wurde, Ruhestörungen von Jugendlichen, die zu laut und lange Party machen. Das Aufregendste war ein Autodiebstahl, der aber schnell aufgeklärt und der Wagen dem Besitzer unbeschädigt zurückgegeben werden konnte. Tja, und seit ein paar Wochen gibt es vermehrt Enkeltrickfälle in der Gegend.«

»Enkeltrick?«

»Hast du noch nie davon gehört?«, fragte Christopher. Sandra schüttelte den Kopf. »Du gehörst auch nicht zur potenziellen Zielgruppe dieser Betrüger, dafür bist du zu jung. Ältere Personen erhalten einen Anruf von einem angeblichen Enkel oder einer Enkelin, die behaupten, in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. Natürlich unverschuldet, versteht sich. Die Anrufer verstehen sich bestens darauf, auf die Tränendrüse zu drücken und die Großeltern um Bargeld zu bitten. Sie selbst könnten das Geld aber nicht abholen, sie schicken einen Freund.« Christopher hob vielsagend eine Augenbraue. »Das Geld ist dann natürlich futsch, und von den Betrügern gibt es keine Spur.«

»Darauf fallen die Leute wirklich rein?«, fragte Sandra verständnislos. »Am Telefon müssten sie doch die Stimmen ihrer Enkel erkennen oder zumindest ahnen, ob diese wirklich in Schwierigkeiten stecken.«

»Die Betrüger sind sehr raffiniert. Schon lange wird in den Medien vor der Masche gewarnt, leider nicht immer mit Erfolg.« Christopher seufzte. »Letzte Woche hatten wir wieder einen Fall in Lower Barton. Der Mann hob fast sein ganzes Barvermögen vom Konto ab und händigte es diesem besagten Freund aus. Angeblich sei seine Enkelin unverschuldet in einen Autounfall verwickelt worden. Wenn sie nicht sofort eine größere Summe bezahlte, hätte sie ins Gefängnis gehen müssen.«

»So ein Quatsch!«, rief Sandra aufgeregt. »Glauben das die Leute wirklich?«

»Wir können nur versuchen, noch mehr Aufklärungsarbeit zu leisten«, sagte Christopher. »Diese Straftaten sind natürlich sehr unschön, aber ich bin heilfroh, wenn niemand umgebracht wird, allerdings …«

»Allerdings?«, hakte Sandra nach.

»Na ja, das Hauptquartier in Exeter stellt infrage, ob sich der Posten in Lower Barton noch rechnet«, erklärte Christopher mit einem bitteren Unterton. »Seit Jahren wird auch bei der Polizei an allen Ecken und Enden gespart, viele kleine Reviere wurden inzwischen aufgelöst. Es könnte passieren, dass John Greenbow abgezogen und in eine andere, größere Dienststelle versetzt wird.«

»Oje! Dabei versteht ihr beide euch so gut.«

Christopher nickte. »John Greenbow ist ein angenehmer und intelligenter Kollege. Er würde mir sehr fehlen. Es kursieren Gerüchte, ob der Posten in Lower Barton noch länger nötig ist.«

Scharf zog Sandra die Luft ein. »So schlimm? Sollte das wirklich passieren«, Sandra schluckte trocken, »was wirst du dann machen?«

Christopher zuckte mit den Schultern. »Es ist anzunehmen, dass ich nach Plymouth oder ins Hauptquartier in Exeter versetzt werde. Sollte es so kommen, müsste ich umziehen.« Sandra zuckte zusammen. Schnell sprach Christopher weiter: »Noch ist es nicht soweit. Selbst wenn ich Lower Barton verlassen muss – zwischen uns wird sich nichts ändern.«

»Ach nein?« Sandra runzelte die Stirn. »Du in Exeter, ich hier? Wie du weißt, bin ich an Higher Barton gebunden, ich kann kaum mal einen ganzen Tag lang weg. Ganz ehrlich, Christopher: Auf eine Fernbeziehung habe ich keine Lust. Man kennt das doch: Anfangs schreibt und telefoniert man täglich, dann wird es immer weniger, und schließlich …«

»Ach, Liebling.« Christopher wirkte bedrückt. »Noch ist gar nichts sicher. Hätte ich lieber nichts gesagt, ich wollte dich nicht beunruhigen. Greenbow und ich haben noch viele Akten ungeklärter Fälle, die uns beschäftigen.«

Sandra hatte sich wieder beruhigt. Sie zwinkerte Christopher schelmisch zu und meinte trocken: »Das heißt, Lower Barton braucht mal wieder einen Mord, damit eure Arbeitsplätze gesichert sind.«

»Sandra!«, rief Christopher empört. »So etwas darfst du nicht sagen, nicht einmal denken!«

»Es war nur ein Spaß.« Sandra hauchte Christopher einen Kuss auf die Lippen. »Ich bin die Letzte, die sich einen Mord wünscht, erst recht nicht in Higher Barton. Es macht nämlich großen Spaß, ein Hotel zu führen, wenn dort nicht dauernd jemand stirbt oder droht, das Haus in die Luft zu sprengen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr, Sandra.« Christopher reckte sich und gähnte. »Gehen wir zu Bett? Ich bin müde.«

»Hoffentlich nicht zu müde.« Sandra sah ihn neckisch an.

»Wo denkst du hin!« Er lachte und zog sie von der Bank hoch. Aneinandergeschmiegt gingen sie hinein.

Die Braut sieht rot

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