Читать книгу Die Braut sieht rot - Rebecca Michéle - Страница 8
FÜNF
ОглавлениеEtwas Kühles, Feuchtes stupste an ihre Nase. Agnes Roberts schlug die Augen auf – und sah direkt auf eine rote, lange Zunge, die versuchte, ihr Gesicht abzulecken.
»Runter vom Bett!« Sie schob den braun-schwarzen Mischling von ihrer Brust. »Sabu! Was fällt dir ein?«
Der Hund sah sie mit einem Blick an, der sagte: Selbst schuld, wenn du die Schlafzimmertür offenlässt.
Die Leuchtziffern des Weckers zeigten zehn Minuten vor fünf, das Dämmerlicht des Morgens schimmerte durch das Fenster. Agnes Roberts seufzte und schwang die Beine aus dem Bett. Eigentlich müsste sie erst in einer Stunde aufstehen, aber jetzt war sie wach. Außerdem musste sie mit Sabu nach draußen gehen, damit das Tier sein Geschäft verrichten konnte. Sabu gehörte ihrem Nachbarn, einem älteren Herrn, der sich einer dringend notwendigen, stationären Knieoperation hatte unterziehen müssen. Da der Mann keine Angehörigen hatte, hätte der liebe Rüde ins Tierheim müssen, bis sein Herrchen wieder nach Hause durfte. Als Ms Roberts das erfahren hatte, war sie sofort bereit gewesen, Sabu bei sich aufzunehmen.
»Ein Hund in einer Metzgerei, wie passend«, hatte sie lachend gesagt. »In die Verkaufsräume darf er allerdings nicht rein. Ich werde aber gut für ihn sorgen.«
Sabu war gut erzogen und pflegeleicht. Er kläffte nicht und akzeptierte, tagsüber in Ms Roberts’ Wohnung zu bleiben, die sich im selben Haus wie die Metzgerei befand. Mehrmals am Tag ging sie mit ihm Gassi, am Abend lag Sabu neben ihrem Sessel in seinem Körbchen und schnarchte vor sich hin. Wie sein Herrchen war auch der Mischling im fortgeschrittenen Alter.
Agnes Roberts streifte sich eine elastische Baumwollhose über, zog ein T-Shirt an, darüber eine leichte Strickjacke und schlüpfte in bequeme Sandalen, befestigte dann die Leine an Sabus Halsband. Der Hund sprang aufgeregt herum und konnte seinen Morgenspaziergang kaum erwarten.
Im Osten wurde der Himmel immer heller, als Agnes Roberts und Sabu durch die noch menschenleeren Straßen von Lower Barton liefen. An jedem Baum blieb der Hund stehen, schnüffelte und hinterließ seine Marke, sofern ihm das notwendig erschien. Agnes Roberts bog in die Gasse ein, die von der High Street zum Sunset Close führte. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte auf diesem Platz, der an drei Seiten von Häusern gesäumt war, ein Galgen gestanden. In Lower Barton, so hieß es, wären in früheren Zeiten hier auch Hexen verbrannt worden. Heute zählten die weiß getünchten, zweistöckigen Häuser aus dem 18. Jahrhundert zur begehrtesten und damit teuersten Wohngegend des Ortes. Die Mitte des ovalen Platzes zierte ein Rasenrondell mit Beeten voller Rosen- und Hortensienbüsche. Hell lackierte Bänke luden zum Verweilen ein. Vögel huschten durch die Zweige und zwitscherten ihr Morgenlied. Ms Roberts ließ Sabu von der Leine. Er erledigte sein großes Geschäft. Aus der Jackentasche zog Ms Roberts einen Plastikbeutel, nahm die Hinterlassenschaft auf, verschloss den Beutel und warf ihn in den bereitstehenden Mülleimer für Hundekot.
»Sabu, komm her! Wir gehen zurück, es gibt gleich Frühstück.« Entgegen seiner sonstigen Art reagierte der Mischling nicht. Er war zu einem Eckhaus gelaufen, schnupperte unter einem in voller Blüte stehenden Sommerfliederbusch herum und jaulte. »Sabu, bei Fuß!«
Der Hund reagierte wieder nicht. Ms Roberts runzelte unwillig die Stirn. Sonst gehorchte Sabu aufs Wort. Jetzt scharrte er unter dem Strauch, seine buschige Rute peitschte aufgeregt.
»Sabu, mein Kleiner, hast du einen vergrabenen Knochen gefunden?«
Sie näherte sich dem Busch. Inzwischen war es fast hell geworden. Das Haus, in dessen Vorgarten der Hund sich so ungewöhnlich aufgeregt verhielt, war unbewohnt. Das Schild eines Maklerbüros wies darauf hin, dass es zu verkaufen war.
»He, Sabu, jetzt ist es wirklich genug! Ich muss meinen Laden pünktlich öffnen.«
»Wuff, wuff!« Der Mischling drehte den Kopf und sah Agnes Roberts an, als wolle er sagen: Na, komm schon und sieh, was ich gefunden habe.
Sie seufzte, trat zu dem Hund, bog die Zweige des Sommerflieders auseinander und sah unter den Busch. Ihr wurde heiß und eiskalt zugleich, sie stieß einen spitzen Schrei aus und merkte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Sabu hatte keinen Knochen oder ein weggeworfenes Spielzeug gefunden, sondern einen Menschen, genauer gesagt eine Frau, und Agnes Roberts kannte sie. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen weit aufgerissen und starr, das Gesicht voller Blut. Dass die Frau mausetot war, erkannte Agnes Roberts auch ohne medizinische Kenntnisse.