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Hildes Abschied von zu Hause
ОглавлениеHilde war an einem Montagmorgen im Altenheim angekommen. Sie hatte sich für das Haus entschieden, weil ihre Betreuerin ihr zu dem Umzug geraten hatte.
Frau Wagner, die Betreuerin, kümmerte sich schon seit vielen Jahren um ältere Menschen. Zu Hilde hatte sie ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Sie mochte die nette Art, die Ehrlichkeit und die Fröhlichkeit, mit der sie Probleme einfach wegschmunzelte. „Es ist dort, als wären Sie in einem Hotel untergebracht“, sagte sie eines Tages zu ihr.
Hildes Sohn wurde auf die Schussligkeit seiner Mutter aufmerksam. Hilde vergaß oft, den Wasserhahn zuzudrehen.
So vergaß sie auch, wenn sie sich etwas am Herd kochte, die Platten auszustellen. Die Herdplatten glühten. Und sie vergaß, die Fenster zu schließen und das Licht auszumachen. Der Sohn machte sich schon eine längere Zeit Sorgen um die Mutter. Hilde war zu lange allein, seit sie Rentnerin war. Er bestellte damals eine Betreuerin, die zwischenzeitlich bei Hilde vorbeikam.
Selbst bei den kleinsten Pflichten, dem täglichen Einkauf oder bei Arztbesuchen hatte sie bei der Straßenüberquerung Schwierigkeiten, die Ampel im Auge zu behalten. Hilde fürchtete sich. Selbst über den Fußgängerüberweg, der ihr eigentlich sicher schien, konnte sie die Straße nicht überqueren. Oft lief sie nach einigen Schritten wieder zurück auf die Seite, von der sie gekommen war. Die Bäckerei und ein Gemüseladen waren zu ihrem Glück auf der Straßenseite ihrer Wohnung.
Größere Einkäufe machte sie nur, wenn ihr Sohn sie zum Großmarkt mitnahm.
Die Betreuerin bemerkte bald ihre Ängste. Sie sah, wie sie auswich, auf die andere Seite der Straße zu gehen, und so half sie ihr bei wichtigen Erledigungen.
Hilde konnte ihre Phobie einige Zeit überwinden.
Sobald ihr jemand die Hand reichte, fühlte sie sich sicher. Diese Unsicherheit hatte sich ganz plötzlich bei ihr eingestellt. Von einem Tag auf den anderen war bei ihr alles anders. Sie musste sich bald eingestehen, dass das Leben in der eigenen Wohnung sie überforderte.
Hilde war erst vor einem halben Jahr im Hotel der Alten eingetroffen. Ihren Haushalt hatte sie bis zum Schluss selbst versorgt. Viel von dem, was ihr mal gehörte und was ihren Lebensinhalt ausmachte, ließ sie zurück.
Den Entschluss, ins Altenheim zu ziehen, hatte sie selbst getroffen. Die Probleme hatte sie somit hinter sich gelassen.
Für sie eine Erleichterung, doch wenn sie des Morgens aufwachte, war ihre Wahrnehmung, sie wäre wieder zu Hause in ihrer gewohnten Umgebung.
Hilde kuschelte sich dann wieder unter die Bettdecke, bevor sie richtig wach wurde. Die Sehnsucht packte sie, fast täglich.
Später sitzt sie geduldig in ihrem Sessel und zu lange auf der Lauer. Auf dem Polster machen sich bereits einige feuchte Flecken bemerkbar.
Sie vergisst nicht zum ersten Mal den Weg zur Toilette. Vorsichtig schaut sie in die andere Richtung, damit die Schwester, die gerade die Empfangshalle betritt, nicht sofort das Missgeschick sieht. Hilde winkt ihr freudig zu, um abzulenken. Vergeblich. Der Versuch, die Schwester zu täuschen, misslingt.
Ihr kleines Manöver ist durch ihre ungeschickte Art aufgefallen. Leise will sie sich davon schleichen.
Nachdem sie mit ihrer nassen Windelhose der Schwester doch noch begegnet, fällt ihr es schwer, ihr Malheur vor ihr ganz zu verbergen. Sie schämt sich.
Gerade steigt die Neue aus dem Wagen. Diesen Moment will sie nicht verpassen. Sie sieht auf die Straße, zum Auto – und kann miterleben, wie die Dame aus dem Wagen steigt.
„Wissen Sie, wie die Neue heißt?“, fragt Hilde, während sie mit Schwester Birgit schon auf dem Flur ist.
„Nein“, ist ihre Antwort kurz und knapp.
Es ist ihr wichtig, dass Hilde die Empfangshalle schnell verlässt und gibt ihr einen leichten Schupps.
Schwester Birgit hat für Hilde Sympathie und Mitgefühl. Es tut ihr leid, weil sie durch ihre Unachtsamkeit von den Anderen gemieden wird. Die Windelhose hängt ihr durch die gespeicherte Nässe fast in der Kniekehle.
Geduckt läuft sie durch den Flur. „Kommen Sie, Hilde, ich helfe ihnen.“
Die Schwester begleitet sie, sieht, wie das schwere Nass ihr schon unterm Kleid hervorschaut. An der Tür zu ihrem Zimmer angekommen: „Danke Schwester, ich kann das schon alleine.“ Es ist ihr peinlich. „Ich werde demnächst besser aufpassen, dass es nicht wieder passiert“, verspricht Hilde kleinlaut.
„Sie wissen doch, ich kann ihnen nur vier Stück am Tag geben“, sagt Schwester Birgit. Sie ist schon länger verärgert über die Vorschriften der Unmenschlichkeit und geht.
Hilde nickt ihr verständnisvoll hinterher. Und bevor sie sich aufmacht, ihr Zimmer zu betreten, sieht sie zurück, wagt in ihrer brisanten Situation, noch schnell einen Blick in die Richtung der Eingangstür.
So kann Hilde noch sehen, wie die Frau gerade ihren Gehwagen aus dem Kofferraum des Wagens hebt. Etwas ruppig betätigt sie sich am Kofferraum, bevor der Fahrer ihr helfen kann. Schade, sagt sie zu sich, jetzt habe ich so lange gewartet. Und insgeheim hofft sie, dass vielleicht doch keiner ihrer Mitbewohner ihr Missgeschick bemerkt hat. Es stinkt in ihrer Nähe nach Urin. Der Grund weshalb sie oft alleine bleibt. Für die anderen Bewohner ist es nicht zu ertragen. Somit bleibt sie bei dieser Gesellschaft eine Außenseiterin.