Читать книгу Polizeigesetz für Baden-Württemberg - Reiner Belz - Страница 19
b) (Nicht-)Anwendungsfälle
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Die meisten, früher im Zusammenhang mit der „öffentlichen Ordnung“ genannten Fälle werden heutzutage von der Rechtsordnung erfasst. Zunächst ist also sorgfältig zu prüfen, ob das vorliegende Verhalten oder der bestehende Zustand z. B. gegen Normen des Straf-, des Ordnungswidrigkeitenrechts oder des Verwaltungsrechts verstößt. Ist das der Fall, kann nur die öffentliche Sicherheit tangiert sein. Nur wenn ein (drohender) Normverstoß nicht festgestellt werden kann, darf ein möglicher Ordnungsverstoß untersucht werden. Bei genauer Auslegung dürfte es jedoch schwer sein, einen Anwendungsfall zu finden. Die folgenden Beispiele sind Belege dafür.
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Die ungestörte Ausübung religiöser Betätigung wird durch Art. 4 Abs. 2 GG und zahlreiche Normen des Strafrechts (z. B. §§ 166 ff. StGB) geschützt, ebenfalls die Totenruhe (§ 168 StGB). Die Zulässigkeit von Betätigungen an Sonn- und Feiertagen, wie z. B. der Betrieb von Sonnenstudios oder Autowaschanlagen regelt das Feiertagsgesetz umfassend. In allen Fällen bleibt daher für einen Ordnungsverstoß kein Raum, da allenfalls die öffentliche Sicherheit tangiert sein kann. Ein Einschreiten gegen Veranstaltungen, die ihrem Charakter nach mit bestimmten Ereignissen (z. B. Staatstrauer, schweres Unglück mit vielen Opfern) im Widerspruch stehen, ist zum Schutz der öffentlichen Ordnung unzulässig, da es nicht Aufgabe der Polizei sein kann, einem nichtbestehenden Trauerbewusstsein Geltung zu verschaffen (BVerwG, DVBl. 1970, 504).
Beispiel: Wenige Tage nach einem Amoklauf in einer Schule mit vielen Toten verbietet die Stadt S. eine zugelassene Waffenmesse (§§ 68, 69 GewO), u. a. mit der Begründung, es seien erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu befürchten (§§ 69 a Abs. 1 Nr. 3, 69 b Abs. 2 GewO). Dieses Verbot war rechtswidrig, da man die öffentliche Reaktion gegen die Veranstaltung nur als sehr verhalten bezeichnen konnte (vgl. VG Stuttgart, Beschl. v. 13.3.2009 – 4 K 920/09).
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Im Bereich der Sexualität ist der Wandel außerrechtlicher Normen besonders augenfällig. Die Liberalisierung des Strafrechts hat zur Straflosigkeit vieler Verhaltensweisen geführt, kein Grund also, sie über den Umweg „öffentliche Ordnung“ wieder zum Gegenstand polizeilichen Handelns zu machen. Straflos ist z. B. die einfache Homosexualität, die bloße Ausübung der Prostitution, der Betrieb eines Bordells, eines sogenannten Massagesalons oder eines Swinger-Clubs (vgl. BVerwG, DVBl. 2003, 741, 742; VGH BW, DÖV 2007, 348), sofern nicht besondere Umstände hinzukommen, wie z. B. die Ausübung der Prostitution in Gemeinden bis 35000 Einwohnern oder in Sperrbezirken der übrigen Gemeinden, §§ 1, 2 ProstitutionVO v. 3.3.1976 (GBl. S. 290), Art. 297 EGStGB, § 120 OWiG, § 184 d StGB (VGH BW, BWVBl. 1972, 138; NVwZ-RR 1990, 413) oder in jugendgefährdender Weise, § 184 e StGB. Nur in diesen Fällen kann zur Gefahrenabwehr gehandelt werden – allerdings zum Schutz der öffentlichen Sicherheit. Im gewerblichen Bereich können sexualbezogene Handlungen (z. B. Bedienung durch völlig nackte Barfrauen – VGH BW, GewArch 1976, 200 f.; Peep-Show – BVerwG, NVwZ 1990, 668; Geschlechtsverkehr vor Publikum – BVerwG, NJW 1982, 665) mit dem dort bestehenden spezialgesetzlichen Instrumentarium bekämpft werden (z. B. § 5 Abs. 1 GastG, § 33 a Abs. 2 Nr. 2 GewO). Nacktheit in der Öffentlichkeit kann unter Umständen einen Straftatbestand (z. B. §§ 183, 183 a StGB) erfüllen, wird in Schwimmbädern oder Parks teilweise gestattet oder doch toleriert und kann ansonsten eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 118, 119 OWiG sein, deren Verhütung dem Schutz der öffentlichen Sicherheit dient (unzutreffend OVG Münster, NJW 1997, 1180).
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§ 118 OWiG ist auch einschlägig für Handlungen, die gemeinhin als grober Unfug bezeichnet werden (z. B. das Versetzen von Parkbänken, Verrichten der Notdurft in der Öffentlichkeit). Ihre Unterbindung bezweckt den Schutz der Rechtsordnung und ist somit für die „öffentliche Ordnung“ ohne Belang.
Der Betrieb eines Laserdromes „ist wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt und wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der Gesellschaft mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde unvereinbar“ (BVerwG, NVwZ 2002, 598). Folgt man dieser Auffassung, so wäre allein die öffentliche Sicherheit tangiert (vgl. auch EuGH, NVwZ 2004, 1471).
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Äußerst problematisch ist das generelle Verbot der Bettelei. Diese ist in ihrer „stillen Form“ i. d. R. weder Straftat (Bettelbetrug ist meist nicht gegeben, weil den üblichen Behauptungen der Bettler zumeist Skepsis entgegengebracht wird) noch Ordnungswidrigkeit nach § 118 OWiG, da der Gesetzgeber den früheren Straftatbestand Bettelei (§ 361 Nr. 4 StGB) ersatzlos gestrichen hat. Und dass nur durch ein Bettelverbot ein gedeihliches Zusammenleben möglich ist, wird niemand behaupten können. Ebenso wenig kann das Betteln als straßenrechtliche Sondernutzung angesehen werden. Ein Betteln in „aggressiver Form“, d. h. unter gleichzeitiger Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten (z. B. Beleidigung, Nötigung) kann jedoch polizeirechtlich relevant sein – dann aber unter dem Merkmal „öffentliche Sicherheit“ (VGH BW, VBlBW 1998, 428). In der Praxis teilweise anzutreffende Formulierungen, mit denen „das die körperliche Nähe suchende oder sonst besonders aufdringliche Betteln“ untersagt wird, sind nicht hinreichend bestimmt. Im Übrigen ist ein solches Verhalten allenfalls lästig (s. u. RN 41).
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Die Beseitigung unfreiwilliger Obdachlosigkeit ist in erster Linie eine Aufgabe der Sozialbehörden (vgl. §§ 27, 68 SGB XII). Nach polizeirechtlichem Verständnis ist derjenige obdachlos, der nicht Tag und Nacht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt und insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft entspricht. Das Vorliegen einer Obdachlosigkeit ist ausschließlich anhand objektiver Kriterien festzustellen. Damit ist nicht zu berücksichtigen, aus welchen Gründen eine Obdachlosigkeit eingetreten ist und ob der Betroffene den Eintritt (mit-)verschuldet hat (VGH BW, Beschl. v. 23.9.2019 – 1 S 1698/19). Polizeiliche Maßnahmen, wie z. B. die Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft oder die Beschlagnahme einer Wohnung, können allenfalls Notbehelfe sein. Sie dienen dem Schutz von Leben und Gesundheit des Obdachlosen und damit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit (VGH BW, VBlBW 1993, 304; 1996, 233; NVwZ-RR 1995, 326). Die freiwillige Obdachlosigkeit der Nichtsesshaften tangiert weder die öffentliche Sicherheit noch die öffentliche Ordnung (VGH BW, VBlBW 1983, 302, 304). Niemand ist verpflichtet, ein „Dach über dem Kopf“ zu besitzen. Die Entscheidung, ob die Obdachlosigkeit freiwillig oder unfreiwillig ist, wird nach subjektiven Gesichtspunkten getroffen, hängt also vom Willensentschluss des Betroffenen ab (VGH BW, Beschl. v. 27.11.2019 – 1 S 2192/19). Auch kann das Sich-Niederlassen auf Wegen zum Zwecke des Alkoholgenusses nicht generell als nichterlaubnisfähige Sondernutzung qualifiziert werden. Ebenso wenig ist ein polizeiliches Einschreiten erforderlich, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen. Das Auftreten von Gruppen, die in der Öffentlichkeit Alkohol zu sich nehmen (z. B. auch Punker oder Skinheads) mag zwar für manchen ein Ärgernis sein, der „gute Eindruck“ oder das „Erscheinungsbild einer Kommune“ sind jedoch keine polizeilichen Schutzgüter (VGH BW, BWGZ 1999, 115). Etwas anderes gilt natürlich hinsichtlich tatsächlich polizeiwidriger Handlungen, die im Zusammenhang mit der Obdachlosigkeit stehen, wie z. B. Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle, wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass diese Delikte nicht obdachlosenspezifisch sind.
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Keine Ordnungsverstöße sind im Zusammenhang mit der Haltung von Hunden oder anderen Tieren erkennbar. Maßnahmen, die sich gegen bissige oder kotabsetzende Hunde richten, ergehen zum Schutz der Gesundheit (VGH BW, NVwZ 1992, 1105; VBlBW 1990, 29) oder zum Schutz verwaltungsrechtlicher Normen (Hundekot als Abfall i. S v. § 3 Abs. 1 KrWG). Gegen den Halter eines ständig bellenden Hundes kann zur Verhinderung der weiteren Begehung einer Ordnungswidrigkeit (§ 117 OWiG) und damit zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden. Streunende Hunde oder andere Tiere können Verkehrsunfälle verursachen. Maßnahmen dagegen ergehen also zum Schutz von Leben, Gesundheit und Vermögen. Das Halten gefährlicher Tiere kann u. U. eine Ordnungswidrigkeit nach § 121 OWiG sein, unsachgemäßes Halten kann gegen das Tierschutzgesetz verstoßen. Maßnahmen gegen sog. Kampfhunde (z. B. Leinenzwang, Maulkorbpflicht) sind rechtlich problematisch, weil es einen verlässlichen Rechtsbegriff „Kampfhund“ nicht gibt (vgl. VGH BW, NVwZ 1992, 1105; 1999, 1016; BVerfGE 110, 141; Orlikowski-Wolf, VR 2002, 369). Zur neuen „Kampfhundeverordnung“ s. u. § 17, RN 15. Die Zulässigkeit von Anlagen, die der Tierhaltung dienen, bestimmt sich nach Baurecht und/oder Bundes-Immissionsschutzrecht.
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Im Juni 2021 einigten sich die Innenminister der Länder auf einen Erlass, in dem die Reichskriegsflagge als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, wenn sie eingesetzt wird, um bewusst an die Fahnenaufmärsche der Nationalsozialisten zu erinnern, bei ihrem Hissen ausländerfeindliche Lieder gesungen werden oder sie bei paramilitärisch anmutenden Versammlungen verwendet wird. Hintergrund der Entscheidung ist, dass die Reichskriegsflagge in der jüngsten Vergangenheit von rechtsextremistischen Gruppen bei Versammlungen immer öfter als Symbol und Ersatz für die verbotene Hakenkreuzfahne verwendet wurde. Zur Frage, ob die öffentliche Sicherheit tangiert ist s. o. RN 25.
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Dass „wildes Plakatieren“, das Bemalen von Flächen oder das Anbringen von Graffiti die öffentliche Ordnung tangiert, ist nicht ersichtlich (a. A. OLG Stuttgart, NVwZ 1987, 171). Fraglich erscheint auch die Annahme einer Sondernutzung (§ 16 StrG), da hier kaum der Gemeingebrauch anderer beeinträchtigt wird. Richtig ist Folgendes: Wird durch derartige Handlungen rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört (§ 303 Abs. StGB) oder das Erscheinungsbild der Sache maßgeblich verändert (§ 303 Abs. 2 StGB), kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden. Sind diese Tatbestände nicht erfüllt, erscheint ein Ordnungsverstoß kaum vorstellbar.
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Der in der Praxis häufig verwendete Begriff „Ordnungsstörungen“ trägt wenig zur Lösung polizeirechtlicher Probleme bei. Soweit damit Verhalten oder Zustände beschrieben werden, die die „öffentliche Ordnung“ tangieren, ist er überflüssig. Wenn man aber den Begriff „Ordnungsstörung“ für Erscheinungen verwendet, die allein das gewünschte positive Erscheinungsbild einer Kommune trüben (z. B. das Herumlungern Jugendlicher oder Stadtstreicher), ohne dass die Gefahrenschwelle überschritten wird, erweckt man den Eindruck, als sei polizeiliches Einschreiten bereits zulässig, was aber nicht der Fall ist. Im Übrigen ist das (häufig mit der objektiven Situation nicht übereinstimmende) Sicherheitsgefühl der Bürger kein polizeiliches Schutzgut und ebenso wenig dürfen Personen, deren soziale Situation Maßnahmen des Sozialstaates herausfordert, zusätzlich mit den Mitteln des Polizeirechts ausgegrenzt werden.
Unter diesem Blickwinkel ist der in den letzten Jahren wiederholt vorgenommene Versuch mancher Kommunen, gestützt auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“, unerwünschten Verhaltensweisen „im Kampf gegen die urbane Unordnung“ im Wege einer entsprechenden Polizeiverordnung entgegenzutreten, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten.