Читать книгу Michelle - Reiner Kotulla - Страница 10

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Sechs

„Wir werden heiraten“, hatte sie gesagt. Also waren sie, traditionell betrachtet, verlobt. Sie studierten, befanden sich damit in derselben Lebenssituation und bauten sich gemeinsam etwas auf. Er würde sich somit zwischen sie drängen. Hatte er das nicht bereits getan? Und warum war Borjanka, zumindest ansatzweise, darauf eingegangen? Nur weil sie sich gut unterhalten hatten? Hatte er sie bedrängt? Fragen, die ihn nicht ruhen ließen. Das Einfachste wäre doch, so ging es ihm durch den Kopf, die Sache auf sich beruhen zu lassen, zumindest zu warten. Und er wartete.

Er hatte ihr seine Telefonnummer und E-Mail-Adresse gegeben. Ob sie die Visitenkarte aufgehoben hatte? Jedes Mal, wenn er ins Netz ging, schaute er nach. Vergebens. Sie ging ihm nicht aus dem Kopf und dem Sinn. Er fragte sich nach dem Unterschied zwischen Kopf und Sinn. Fühlen und Denken, bildeten sie nicht eine Einheit? Er war davon überzeugt. Zumindest negatives Empfinden beflügelte die Gedanken, ließ sie nach Abhilfe suchen. „Faulheit kann der Motor sein für technischen Fortschritt“, hatte ihm Juri Brelow seinerzeit erklärt, als sie über die Motivation menschlichen Handels gesprochen hatten.

Jetzt musste er innerlich über das Abgleiten seiner Gedanken lachen. Was hat Borjanka mit Faulheit und technischem Fortschritt zu tun? Mit ihr nichts, aber mit Juri Brelow, an den er so oft denken musste. Juri Brelow, der, hätten sie beide die Chance gehabt, sich länger zu kennen, ein Freund geworden wäre. Seine Gedanken kehrten wieder zu Borjanka zurück. Morgens, wenn er wach wurde und abends, bevor er einschlief, dachte er an sie. Sehnsucht war das wohl, die ihn nach Befriedigung suchen ließ.

Also fuhr er am Freitag wieder hin.

Sie verschaffte sich und ihm etwas mehr Zeit, indem sie einen späteren Zug nehmen wollte. Zwei Stunden hatten sie Zeit. Sie erzählte von ihren Großeltern, der Vertreibung nach Kasachstan. Sie berichtete von dem Leid, das sie ertragen mussten, aber auch davon, dass ihr Großvater vorgehabt hatte, wären die Deutschen in ihr Dorf an der Wolga gekommen, mit diesen zusammenzuarbeiten und an ihrer Seite gegen Stalin zu kämpfen. Doch Stalin war ihnen zuvorgekommen.

Wieder unterhielten sie sich ununterbrochen. Ihr Gespräch hatte nur selten Berichtscharakter, meist äußerten sie ihre Gedanken, Eindrücke und Meinungen. So lernten sie sich kennen. Ein paar Mal berührten sich ihre Hände, als sie zum Bahnhof gingen. In Gießen dann der Kuss, wieder auf den Mund und etwas länger.

Michelle

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