Читать книгу Michelle - Reiner Kotulla - Страница 7
ОглавлениеDrei
Schon so manches Mal kam ihm der Gedanke, dass es wohl nicht ausreicht, sich hin und wieder zu politischen Fragen zu äußern. Auch die sogenannten Biertischgespräche führten zu keiner gesellschaftlichen Veränderung, selbst dann nicht, wenn man die Lufthoheit über ihm errang. Oft hatte er mit seinem Vater darüber gesprochen. Der war erst vor einiger Zeit aus der SPD ausgetreten. Lange schon habe er das vorgehabt, sagte er, doch immer wieder aufgeschoben. Erst die seiner Ansicht nach verfassungswidrige Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg gegen Jugoslawien habe den Ausschlag gegeben. Auch für ihn, Alexander, kam eine Arbeit in dieser Partei nicht infrage. Sie war nicht mehr die Interessenvertreterin der lohnabhängigen Menschen in diesem Land, sondern eher der verlängerte Arm der Arbeitgeberverbände. Der allgemeinen Parteiverdrossenheit mochte er sich aber auch nicht anschließen, obwohl er, was die Schwarzen, die Rosaroten, die Grünen und die Gelben betraf, der Aussage des englischen Satirikers Jonathan Swift zustimmen konnte, der vor 300 Jahren seine Ansicht zu einer politischen Partei so geäußert hatte, dass sie aus einer Horde unselbstständiger, teils korrumpierter, teils einfach opportunistischer Leute bestehe, die von einem einzigen demagogischen Gehirn angestiftet, angeführt, inspiriert und kommandiert werde. Dieses Gehirn, so dachte Alexander, ist nicht das einer einzelnen Person, sondern eher ein Synonym für die Interessen sozialer Schichten oder Klassen.
Angeregt, darüber nachzudenken, hatte ihn letztlich ein Artikel, den er in einer Tageszeitung gelesen hatte. Dort ging es um den Versuch des Kanzlers, über eine manipulierte Vertrauensfrage Neuwahlen zu erzwingen. „Des Kanzlers Neuwahlcoup“, so hieß es da, sei ein Akt der Piraterie, des puren Narzissmus. Er drücke Endzeitstimmung aus und eine Zockermentalität ohne durchdachtes politisches Kalkül. Der Kanzler pervertiere den Geist des Parlaments, zwinge die eigene Regierungsfraktion unter seine Knute und verhelfe so der Kandidatin der Schwarzen zur Macht. Und warum machen, so fragte sich Alexander, all die einflussreichen Rosaroten dieses Theater mit? Denken und handelten sie nicht genauso, wie Jonathan Swift es damals formulierte? Aber, dachte er, so kann man sicher nicht alle Parteien charakterisieren. Von seinem Vater wusste er, dass dieser schon seit einiger Zeit mit einer sozialistischen Partei sympathisierte, gegenüber der es im Westen des Landes immer noch Vorurteile gab. Man getraue es sich nicht, so sagte er, ihrem Programm zuzustimmen, und vermute hinter ihr immer noch den Stalinismus alter DDR-Prägung. Peter Fabuschewski meinte, das sei falsch, entspräche jedoch bürgerlichem Zeitgeist.
Alexander nahm sich vor, demnächst noch einmal mit seinem Vater darüber zu reden. Besuchen wollte er ihn sowieso, musste seinen Besuch bei Renate erklären. Er vergaß aber zunächst sein Vorhaben, als er am Abend seinen E-Mail-Briefkasten öffnete. An Michelle Carladis hatte er schon lange nicht mehr gedacht. Jetzt wurde sie zur Ideenlieferantin. Alexander erinnert sich, dass sie, obwohl sie sich anfangs gut verstanden hatten, beim Sie verblieben waren.
von: michellecarla@web.de
Hallo Herr Fabuschewski,
Ich wende mich auf diesem Wege an Sie, weil meine Freizügigkeit zurzeit stark eingeschränkt ist. Der Grund für mein von mir selbst gewähltes Exil verbietet es mir, auf andere Weise mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hoffe, dass Sie mir helfen können.
Nach den für mich schrecklichen Ereignissen der Vergangenheit hat man mir geraten, über eine schriftliche Reflexion dessen, was mit mir geschehen ist, zu mir selbst zu finden. Zunächst habe ich an ein Tagebuch gedacht. Da kann man zwar offen sein, erhält aber keinerlei Feedback. Das aber ist es, was ich mir von Ihnen erhoffe, erwarte allerdings, dass Sie mir ehrlich sagen beziehungsweise schreiben, ob Sie dazu bereit und, zeitlich gesehen, in der Lage sind.
Aber was schreibe ich da, Sie wissen doch noch gar nicht, um was es eigentlich geht.
Sicherlich haben Sie sich seinerzeit Gedanken darüber gemacht, warum ich Ihnen gegenüber so zurückhaltend geworden war. An jenem Tag, als wir im Café Alte Lahnbrücke saßen, hatte ich schon Angst, mit Ihnen zu sprechen. Ich habe Sie, nur um schnell wieder nach Hause zu kommen, an Anne verwiesen, obwohl mich der Fortgang Ihrer Geschichte brennend interessiert hat. Anne hat mir dann später, als Morina Vlado und Juri Brelow schon tot waren, alles erzählt. Auch dass Sie, dank Ihrer Ermittlungen – ich will es einmal so nennen – dazu beigetragen haben, dass Herr Brelow rehabilitiert wurde. Ich hoffe, dass Kai Ludwig eine gerechte Strafe erhalten wird. Nun schweife ich aber ab, ich wollte doch eigentlich über mich schreiben.
Sie haben Klaus doch sicher als eine hilfsbereite Person kennengelernt. So habe ich ihn anfangs auch gesehen. Auch mir gegenüber hat er sich so verhalten. Ich musste nur andeuten, dass ich etwas brauchte, und schon war er da und half. Außerdem war er überaus höflich und zurückhaltend. Es hat etwa einen Monat gedauert, bis er versucht hat, mit mir zu schlafen. Ich nahm an, dass er noch nicht viel Erfahrung hatte. Deshalb habe ich es auch zunächst hingenommen, wenn er auf mich und meine Bedürfnisse wenig Rücksicht genommen hat. War er gekommen, verlor er sofort das Interesse an mir. Habe ich das anfangs noch akzeptiert, war ich dann doch langsam sauer, wenn er mich so einfach liegen ließ.
Ich habe dann gewartet, bis er eingeschlafen war. Später dann habe ich versucht, mit ihm darüber zu reden. Ich glaube, er verstand überhaupt nicht, was ich ihm hatte sagen wollen. Daher wurde ich deutlicher, erzählte ihm, was ich tat, während er schlief. Ich dachte, dass ihn das erregen würde. Aber ganz im Gegenteil, er war fast empört. Sein Vater hätte ihm erklärt, dass Selbstbefriedigung eine Schweinerei sei, vor allen Dingen, wenn ein Mann das täte. Ich war geschockt, hoffte aber immer noch auf eine Veränderung. Ich dachte, dass ein längeres Zusammensein dazu beitragen könnte, und habe einen gemeinsamen Urlaub vorgeschlagen.
Die zwei Wochen auf Korsika haben aber nichts dergleichen bewirkt. Ganz im Gegenteil, Klaus verbot mir, um ein Beispiel zu nennen, am Strand das Bikinioberteil abzulegen. Einmal, wir waren abends ans Meer gelaufen, fanden wir eine Bucht, menschenleer. Weißer Sand, das Wasser dunkelblau. Ich zog mich vollständig aus, rannte los und sprang in die Wellen. Ich schaute absichtlich nicht zurück, in der Hoffnung, Klaus würde mir folgen. Dann sah ich, dass er völlig angezogen bei meinen Sachen saß. Später machte er mir Vorwürfe, es hätte ja jemand vorbeikommen können, der mich dann nackt gesehen hätte. Ich war sauer, ging abends alleine in die Bar und habe mich dort mit einem Paar unterhalten. Klaus kam dazu, sah, wie ich gerade mit dem Mann sprach, drehte sich um und ging. Als ich in unser Zimmer kam, schlief er schon. Am nächsten Morgen machte er mir erneut Vorhaltungen, ließ seine Eifersucht heraus. Ehrlich gesagt war ich froh, als wir wieder zu Hause waren.
Während ich das hier aufschreibe, erinnere ich mich daran, dass ich Ihnen das schon einmal erzählt habe.
Viel schlimmer wurde alles, als ich am Morgen aus dem Haus am Fischmarkt auf die Straße trat und dort von Klaus Wagner empfangen wurde. Er machte mir Vorhaltungen und unterstellte mir, dass ich nicht nur bei Ihnen geschlafen hätte.
Es tut mir leid, Herr Fabuschewski, aber ich kann im Moment nicht weiterschreiben. Ich erwarte auch nicht, dass Sie sich jetzt schon, hinsichtlich meiner Bitte um Hilfe, äußern.
Herzliche Grüße,
Michelle
Alexander erinnerte sich gut daran, wie es ihn erstaunt hatte, als Michelle Carladis, die ihm seinerzeit die ersten wichtigen Informationen für sein Erstlingswerk geliefert hatte, plötzlich den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, ohne ihr Verhalten genau zu begründen. Klaus Wagner hatte er als einen hilfsbereiten Menschen in Erinnerung, der nicht lange gezögert hatte, als Michelle ihn bat, Alexander beim Einzug in seine neue Wohnung am Wetzlarer Fischmarkt zu helfen. An einem Abend danach, Michelle und er hatten sich bis spät in die Nacht hinein bei ihm in der Wohnung unterhalten, war Michelle nicht mehr nach Hause gegangen und hatte bei ihm übernachtet. Am Morgen hatte er von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachten können, wie Klaus Wagner Michelle Vorhaltungen machte, als sie aus dem Haus trat. Ein wenig hat er Wagner verstehen können, und er hatte überlegt, wie er selbst in dieser Situation reagiert hätte. Er war jedoch davon ausgegangen, dass Michelle Wagners offensichtliches Missverständnis hatte aufklären können. Gut erinnerte er sich auch noch daran, wie er Michelle später auf der Alten Lahnbrücke getroffen hatte und sie überreden musste, mit ihm eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Sie hatte sich vor dem Betreten und nach dem Verlassen des Cafés verstohlen umgesehen, so, als ob sie befürchten musste, beobachtet zu werden. Weil er aber so sehr mit seiner eigenen Arbeit beschäftigt war, hatte er nicht weiter darüber nachgedacht und Michelle aus den Augen verloren.
Alexander musste nicht weiter überlegen und klickte auf „antworten“.
Liebe Michelle,
noch weiß ich nicht wie, aber dass ich Ihnen helfen möchte, ist für mich keine Frage. Sie können auf mich zählen.
Alexander
„Hallo Alexander, lange nichts von dir gehört.“ Peter, sein Vater, wohnte in der Weißadlergasse, circa einhundert Meter vom Fischmarkt entfernt. Ohne vorher bei ihm angerufen zu haben, war er losgegangen. Es war einer von diesen Sommerabenden, der versprach, einem ausgedehnten Biergartenbesuch nicht im Wege zu stehen. Entsprechend dicht besetzt waren die Tische vor dem Bistro, einem gemütlichen Lokal, direkt gegenüber von Alexanders Wohnung. Alexander wohnte in dem Haus, das seinerzeit das Reichskammergericht beherbergt hatte, an dem Goethe eine kurze Zeit gewirkt hatte. Aber das Geschoss mit Alexanders Wohnung war erst viel später auf das alte Gebäude gebaut worden, wie der Vermieter ihm erklärt hatte. Alexander zögerte, konnte den Besuch bei seinem Vater auch verschieben, tat es aber nicht. Er folgte der kurzen Schwarzadlergasse und bog ab in die Weißadlergasse. „Ja, und ich habe auch schon ein schlechtes Gewissen, weil ich mich schon so lange nicht mehr bei dir gemeldet habe.“ Das Unangenehme zuerst, dachte Alexander und berichtete von seinem Besuch bei Renate. Peter hörte zu und lächelte wissend, wie es Alexander schien.
„Ich habe es gewusst, seit ihr damals von Sardinien zurückgekommen seid. Sag mir doch bitte in Zukunft Bescheid, wenn du verreist. Dann muss ich mir keine Sorgen machen. Kinder wird man nicht los. Leben sie in der Ferne, macht man sich weniger Gedanken um sie, als wenn sie in der Nähe wohnen.“
Alexander versprach, sich zu bessern. Jetzt war er erleichtert. Er hatte sich dieses Gespräch schwieriger vorgestellt, hatte Angst gehabt, sein Vater würde ihm Vorhaltungen machen, weil er mit dessen Freundin eine Beziehung begonnen hatte. Jetzt dachte er, dass zunächst alles gesagt sei, wusste aber auch, dass sie noch einmal darüber reden mussten. Peter hatte zwei Flaschen Schwarzbier auf den Tisch gestellt, kellerkalt. Pilsener tranken sie beide gerne aus der Flasche, Schwarzbier lieber aus einem Glas. „Zunächst wollte ich dich anrufen, bevor ich dich aufsuche. Ich dachte, dass ich dich vielleicht störe.“
„Warum solltest du mich stören?“
„Eher wobei, Peter.“
„Ach so, ich verstehe. Du willst wissen, wie es um meine Beziehung zu Marina Nowak steht?“
„Nun, ja.“
„Wir sind uns nähergekommen, haben aber nicht die Absicht, zusammenzuziehen. Ich glaube, ich lebe schon zu lange allein, als dass ich mich jemandem unterordnen könnte.“
„Es muss ja nicht Unterordnung bedeuten, will man ein gemeinsames Leben organisieren. Du bist kompromissfähig, wie ich dich kenne, und der Altersstarrsinn kann doch noch ein paar Jahre auf sich warten lassen“, warf Alexander ein.
„Ich glaube, unterordnen war das falsche Wort. Ich meinte eher, dass ich mir ein gewisses Maß an Freiheit bewahren möchte. Und zwar so lange, wie ich diese Freiheit noch nutzen kann. Ich meine damit nicht sexuelle Freiheit, obwohl ich diese auch nicht ausschließen möchte,“ sagte sein Vater.
„Meinst du nicht, dass das sehr egoistisch ist, was du da gerade sagst?“
„Ja, aber nur dann ist es egoistisch gedacht, wenn der Partner oder die Partnerin diese Haltung nicht akzeptiert, beziehungsweise er oder sie nicht für sich dieselben Rechte in Anspruch nimmt.“
„Gut, das hört sich schon anders an.“
„Marina denkt ähnlich. Außerdem hat sie ihren Vater bei sich aufgenommen und damit die Aufgabe übernommen, sich um dessen Belange zu kümmern. Aber du weißt ja, Alexander, nichts bleibt so, wie es ist. Alles ändert sich mit der Zeit, so auch Einstellungen.“
„Mein Vater, der Philosoph.“
„Nein, bin ich nicht, denn dazugehört ja wohl mehr, als ab und zu einen klugen Spruch von sich geben zu können.“
„Das war auch eher ironisch gemeint, Peter. Aber erzähle mir doch bitte, woran du gerade arbeitest.“ Alexander merkte, dass er im Moment nicht weiter nachfragen sollte, was seines Vaters Beziehung zu Marina Nowak betraf.
„Ich habe dir doch von Jäckel berichtet, dem Wetzlarer Rechtspopulisten“, begann Peter Fabuschewski.
„Ja, ich erinnere mich daran, du hast seinerzeit selbst verfasste Flugblätter verteilt.“
„Stimmt! Jetzt arbeite ich an einer Dokumentation über ihn und seine Kontakte zur rechten Szene. Außerdem habe ich darüber nachgedacht, wieder politisch tätig zu werden. Nach dem Fiasko bei den Sozis werde ich aber so bald keiner politischen Partei mehr beitreten, obwohl ich mit den Zielen der Linken sympathisiere, wie du ja weißt.“
„Nenne ein Beispiel“, sagte Alexander.
„Du kennst den Streit um die EU-Verfassung?“
„Ja.“
„Was mich zum Beispiel an der EU-Verfassung stört, Alexander, ist die dort verankerte Pflicht zur Aufrüstung. Es soll zwar ein Amt für militärische Fähigkeiten eingerichtet werden, jedoch keine Institution für Friedensforschung und Konfliktvorbeugung. Auch das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wird nicht für alle Mitgliedsstaaten festgeschrieben. Dagegen werden Dogmen der neoliberalen Wirtschaftsform in den Verfassungsrang erhoben. Ich meine, dass das nicht den Bürgern nutzt, sondern den international agierenden Unternehmen, Banken und Versicherungen. Eine Sozialcharter, die Lohndumping und Arbeitsplatzabbau verhindern könnte, sucht man jedoch vergebens.“
„Das klingt plausibel. Und was dein Vorhaben betrifft, so ergeben sich da vielleicht Möglichkeiten der Zusammenarbeit.“ Alexander berichtete von Renates gegenwärtiger Arbeit und darüber, dass auch er vorhabe, zu diesem Thema zu arbeiten. Dass er selbst auch mit dem Gedanken spielte, politisch tätig zu werden, erzählte er nicht. Auch von Michelles E-Mail sprach er nicht, noch zu vage waren seine Ahnungen.
Er machte einen Umweg, bevor er nach Hause ging. Über das sogenannte Eselstreppchen gelangte er zur alten Lahnbrücke, überquerte diese und stand kurz darauf vor dem Haus, in dem Michelle Carladis gewohnt hatte. Und jetzt noch wohnte. Am Briefkasten und unter der Klingel stand jedenfalls immer noch ihr Name. Er schaute hoch zu den Fenstern, die zu ihrer Wohnung gehörten. Keines war erleuchtet.
Auf dem Rückweg fasste er einen Entschluss. Sein neuer Roman würde heißen: „Der Leidensweg der Michelle“.