Читать книгу Michelle - Reiner Kotulla - Страница 5
ОглавлениеEins
Ein wenig fühlte er sich wie auf der Flucht, als er in Wetzlar in den Zug stieg. Drei Stunden Zeit bis Kassel-Wilhelmshöhe. Was war passiert, dass er das so empfand? Etwa sechs Monate war er jetzt in Wetzlar. Ereignisreiche Monate, dachte Alexander Fabuschewski. Begonnen hatten sie mit einem Unfall, den sein Vater auf dem Weg nach Siegen, als er ihn besuchen wollte, hatte. Dann sein Entschluss, nach Wetzlar umzuziehen. Die neue Wohnung in Wetzlar, Am Fischmarkt, der Artikel in der Zeitung, Michelle Carladis, Morina Vlado und Juri Bredlow, der Freund, der jetzt tot war. Zwei Jahre konnte er von dem Ersparten leben. Zwei Jahre Zeit zum Schreiben.
Der Roman war fertig. Noch achtzehn Monate hatte er Zeit, dann brauchte er neues Geld. Ein Freund hatte ihm das Lektorat angeboten. Nach der Rückkehr würde er das Manuskript versenden, jetzt wollte er erst einmal Abstand gewinnen. Er freute sich auf Renate und darauf, die Unterlagen in kompetente Hände übergeben zu können. Unterlagen, die Juri Bredlow, den Freund, posthum entlasten sollten.
Von Kassel-Wilhelmshöhe nach Hamburg, zwei Stunden und zwei weitere bis nach Schleswig. Renate erwartete ihn an Gleis eins. Später saßen sie in dem kleinen Wohnzimmer im Haus an der Friedrichstraße. Ein altes, einstöckiges Haus, mitten in der Stadt. Sie saßen auf Straßenhöhe, die Fensterläden waren noch nicht geschlossen. Hin und wieder liefen Passanten vorüber, die ihnen auf den Tisch hätten schauen können, wäre es nicht draußen heller als drinnen gewesen. Die Haustür führte direkt von der Straße aus in einen kleinen Flur, von dem aus man in ein Zimmer, das Wohnzimmer, und von dort in die Küche gelangte. Durch das Küchenfenster schaute man auf einen Hof, auf Wände, berankt von Efeu und wildem Wein. Die Weinblätter in hellem Grün, noch nicht ausgewachsen. Die eisernen Gartenstühle standen, noch zusammengeklappt, an den Tisch gelehnt. Das Kopfsteinpflaster des Hofes ließ den erfolgten Frühjahrsputz vermuten. Vom Flur aus, rechter Hand, konnte er einen kurzen Blick in das Schlafzimmer werfen, bevor sie ihn weiter ins Wohnzimmer führte. Zeit genug, das große Bett, ebenerdig, und den Spiegel, gegenüber des Fußendes an die Wand gelehnt, zu sehen. Renate hatte Spaghetti gekocht, Aglio-Olio, und dazu eine Flasche sardischen Wein auf den Tisch gestellt. Während sie Spaghetti auf die Teller tat, öffnete er die Weinflasche und goss beiden ein.
„Erzähle“, sagte sie, nachdem sie zusammen das Geschirr in die Küche geräumt hatten und an den kleinen Tisch, in der hinteren Wohnzimmerecke, umgezogen waren.
Und Alexander erzählte: Von Simone Müller, und wie die an die CD gekommen war. Von Brunhilde Schelliga, der Intrigantin und von Peter, seinem Vater und dessen Freundin, Marina Nowak aus Braunfels. Dann der Anlass, aber nicht die Ursache für seinen Besuch, Materialien und Aufzeichnungen, Beweise für Juri Brelows Unschuld. Renate hörte ihm geduldig zu und las die Texte.
„Gut, Alexander“, sagte sie dann, „ich werde mich darum kümmern.“
Renate arbeitete für die Polizei. Vor einiger Zeit wurde sie zum Landeskriminalamt von Schleswig-Holstein nach Kiel versetzt. Über ihre eigentliche Arbeit hatte sie, seitdem sie sich kannten, wenig gesprochen, durfte sie auch nicht, wie Alexander wusste. Deshalb hatte er es bisher vermieden, nachzufragen. Trotzdem oder gerade deshalb hatte sie ihm schon einige Male geholfen, und das wollte sie auch jetzt wieder tun.
„Ich würde dir jetzt gerne die nähere Umgebung meiner Wohnung zeigen. Was hältst du von einem kleinen Spaziergang?“
Alexander war einverstanden, wollte aber zuvor, da er nicht so gerne aus dem Koffer lebte, seine Sachen auspacken. Sie zeigte ihm ein leeres Fach im Kleiderschrank, der im Schlafzimmer stand, und ließ ihn allein. Kurz darauf kam sie zurück, holte sich aus dem Kleiderschrank eine Jeans und zog sich um. Dabei wandte sie ihm ihren Rücken zu. Als er sie so, fast nackt, sah, erinnerte er sich urplötzlich an den Abend am Weißen Strand, als sie über einen schmalen Pfad zum Bungalow Nr. 74 gelaufen waren. Gerne würde er jetzt auf den Spaziergang verzichten, ließ sich aber nichts dergleichen anmerken. Er ging voraus, und Renate schloss hinter ihm die Haustür ab.
Sie standen auf der Straße, die kein Trottoir besaß und mit Kopfsteinpflaster belegt war. Rechter Hand, so sagte sie, käme man nach circa einhundert Metern auf eine breite Straße. Zu Fuß könne sie dort alle notwendigen Geschäfte erreichen. Sie wandte sich nach links. Nach etwa fünfzig Metern erreichten sie eine mit roten Klinkersteinen verkleidete breite Treppe. Dahinter ein parkähnliches Gelände. In kurzer Entfernung erkannte er eine ebenfalls rote Klinkermauer mit einem schmiedeeisernen Tor. Darauf steuerte Renate jetzt zu. Als sie näherkamen, bemerkte Alexander, dass es sich um einen Friedhof handelte, der sich hinter dem Tor befand. Renate öffnete das Tor, ließ ihn eintreten und verschloss es wieder hinter ihm. Ohne eine Erklärung abzugeben, wandte sie sich nach links.
Ein schöner Waldfriedhof, dachte Alexander. Eichen und Kiefern säumten den Weg. Bald erreichten sie einen Bereich mit offensichtlich sehr alten Grabstellen. Und dann erkannte er die Symbole, die ineinander verschlungenen Dreiecke. Dann das rot-weiße Trassierband mit der Aufschrift „Polizei“. Renate steuerte auf einen großen Grabstein zu. Alexander verstand nun den Grund für das Polizeitrassierband: Hakenkreuze, SS-Runen und die Aufschrift „Juda verrecke!“ auf dem Grabstein für Daniel Rosenbaum.
„Ich fragte mich, als ich hierher gerufen wurde, ob es nur Dummheit ist, dass sie den Toten wünschen, zu verrecken. Je länger ich jedoch darüber nachdenke, glaube ich, dass ihr verbrecherischer Wunsch den Lebenden gilt. Ja, es ist meine gegenwärtige Aufgabe, das herauszufinden. Ich arbeite an diesem Fall auch mit entsprechenden Stellen in Mecklenburg-Vorpommern zusammen, denn zeitgleich mit dem Anbringen dieser Schmierereien haben Neofaschisten im vorpommerschen Wolgast ein Denkmal für die Opfer des Faschismus sowie zahlreiche Gebäude mit diesen Symbolen beschmiert. Die Erfahrungen zeigen, dass es nicht bei den Drohungen bleibt. Denke daran, was deinem Vater in Wetzlar passiert ist.“ Das erste Mal, dachte Alexander, dass sie so konkret über ihre Arbeit spricht. Und noch etwas glaubte er in ihrer Stimme zu erkennen: eine Andeutung persönlicher Betroffenheit. Zunächst wortlos, wandte sich Renate um, strebte dem Friedhofsausgang zu. „Ich könnte jetzt ein Bier vertragen. Was hältst du von einem Norddeutschen in einer ebensolchen Kneipe?“
Alexander war einverstanden. Bald passierten sie das kleine, alte Haus in der Friedrichstraße, überquerten die breite Straße und gelangten in eine schmale Seitenstraße. Schon äußerlich erinnerte Alexander die Kneipe an ein englisches Pub. Das Haus aus roten Klinkersteinen gemauert, über dem Eingang ein Schild in schmiedeeiserner Einfassung. Renate schien schon öfter hier gewesen zu sein. Zielstrebig geleitete sie ihn in eine Ecke. Sofa und Sessel um einen kleinen Tisch. Die Polsterung des Sofas war schon ein wenig zerschlissen. Auf den Armlehnen schienen bereits die Schussfäden hindurch. Alles in allem eine gemütliche Atmosphäre. Das Publikum gemischt, Alte und Junge, eben, wie er es in englischen Pubs erlebt hatte. Renate bestellte für sie beide das Bier, das seiner Werbung gemäß „flenst“.
„So wie du vorhin über deinen Fall gesprochen hast, glaubte ich, in deiner Stimme eine persönliche Betroffenheit herausgehört zu haben.“
„Mein Großvater“, begann Renate nach einer kurzen Pause, „war schon in den zwanziger Jahren der SA beigetreten. Er lebte damals in Berlin und war, wie viele andere, arbeitslos. Man hätte sich dort untereinander geholfen, erzählte er. Im sogenannten Sturmlokal hätten sie sich getroffen und Aktionen geplant. Die meisten von ihnen seien völlig mittellos gewesen. Trotzdem besaßen alle die SA-Uniform. Es habe geheißen, ein reicher SA-Führer hätte sie gespendet. Jeder SA-Sturm sei von einem solchen Paten, wie sie den nannten, betreut worden. Wenn sie dann zu einer Aktion aufgebrochen seien, waren die meisten schon angetrunken. Oft sei es in den ‚Roten Wedding‘ gegangen. Vor Ort hätten sie dann den Schulterriemen abgenommen. Der hatte an beiden Enden Karabinerhaken. In der Mitte zusammengelegt, die Schlaufe über das Handgelenk gestreift, ergab das eine Art Peitsche, an deren beider Enden sich nun die eisernen Karabinerhaken befanden. Damit hätten sie dann die Kommunisten und die Sozis, ohne lange zu fragen, ordentlich verprügelt. Und dann, und darauf war er besonders stolz, am 30. Januar 1933, habe er am großen Fackelzug durchs Brandenburger Tor teilgenommen. Sein Sturm hätte da schon aus über einhundert Mann bestanden. In Marschordnung seien sie marschiert, der Sturmbannführer an der Spitze. In regelmäßigen Abständen hatte dann der Sturmbannführer ‚Deutschland‘ gebrüllt, und aus über einhundert Kehlen ertönte ‚erwache‘. Darauf der Anführer ‚Juda‘ und wieder der Sturm ‚verrecke‘.
Mein Großvater war einer von den vielen Unbelehrbaren. Noch kurz vor seinem Tode sagte er zu mir: ‚Renate, schau genau hin! Heute sitzt das Judenpack schon wieder an den Schaltstellen der Macht. Leider haben wir damals nicht alle erwischt.‘ Ich habe ihn nicht wieder besucht. Und heute, sechzig Jahre später, schmieren sie wieder Morddrohungen an Grabsteine und Hauswände. Ich habe mir vorgenommen, nicht zuzulassen, dass sie ihre Drohung noch einmal wahr machen können.“
Alexander war beeindruckt, hatte dem nichts hinzuzufügen. Eine Vorahnung überkam ihn. Er hatte ein seltsames Gefühl.