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Zwei

Es war spät geworden, Mitternacht, als sie in das Haus in der Friedrichstraße zurückkehrten. Im Flur umarmten sie sich nun zum ersten Mal, seit Alexander angekommen war.

„Lass uns ins Bett gehen, es war ein langer Tag. Erzähl mir noch ein wenig von dir und“, sie zögerte, „von Peter.“

Alexander kam ihrer Bitte nach. Sie lagen nebeneinander, und Alexander dachte an die letzte Nacht, die sie zusammen in seiner Wohnung verbracht hatten. „Vielleicht“ stand auf dem Zettel, den er auf ihrem Kopfkissen gefunden hatte, als Renate schon gegangen war. Dieses Vielleicht war nun eingetroffen, und er war froh darüber. Trotzdem mischte sich etwas Wehmut in seine Stimmung, denn er wusste, dass er nicht lange hierbleiben würde. Er fragte sich, und das nicht zum ersten Mal: Liebe ich sie, und könnte ich ihr das auch sagen? Die erste Frage konnte er, das gestand er sich ein, mit Ja beantworten. Bei der Zweiten war er sich nicht sicher. Oft schon, wenn sie zärtlich zueinander gewesen waren, kurz vor seinem Orgasmus, hatte er es beinahe gesagt. Damit stellte sich für ihn natürlich auch die Frage: Stimmt das denn, was ich zur ersten Frage denke? Kompliziert, dachte er und hatte keine Lust, jetzt weiter darüber nachzudenken. Sie hatte ihren Kopf in seine Armbeuge gelegt. Er lag halb auf der Seite, ihr zugewandt. Sie streichelten sich gegenseitig, synchron.

„Hast du an Kondome gedacht?“

„Nein.“

„Ich auch nicht.“

„Es gibt doch auch andere Möglichkeiten. Ich erinnere da an den Abend im Bungalow 74.“

„Gut, aber heute zuerst du mich, und dann ich dich.“

Später saßen sie nebeneinander, an die Wand gelehnt, ein Kissen im Rücken.

„Du siehst, nichts im Leben lässt sich wiederholen.“

„Hast du gut geschlafen?“, fragte sie ihn am anderen Morgen. Sie hatte schon die Fensterläden geöffnet, und so war es hell im Schlafzimmer.

„Sehr gut, und du?“

„Ich auch, aber jetzt habe ich Appetit auf ein Frühstück. Magst du Brötchen holen?“

„Ja, natürlich.“

„Wenn du auf die Breite Straße kommst und etwa dreißig Meter nach links gehst, findest du eine Bäckerei. Inzwischen bereite ich hier alles andere vor.“

Wie schön sie ist, dachte er, als er später in die Küche kam und Renate dabei war, Kaffee in zwei Tassen zu gießen, die sie dann auf den Tisch stellte. „Wie schön du bist“, sagte er.

Renate lächelte ihn an. „Ich würde dir heute gerne ein wenig von der Umgebung Schleswigs zeigen. Meinen Nachbarn habe ich schon gefragt, der leiht dir ein Fahrrad aus.“

„Gut, von mir aus können wir gleich nach dem Frühstück losfahren.“

Sie räumten gemeinsam den Tisch ab und Renate holte eine Wanderkarte, die sie auf dem Tisch auseinanderfaltete.

„Also, wir fahren am Schloss vorbei und weiter, zunächst entlang der B76. Kurz darauf biegen wir links nach Fahrendorf ab. Dort können wir eine Galerie besuchen.“ Jetzt schaute sie ihn fragend an.

„Muss nicht sein, Renate, die Sonne scheint, und wir könnten vielleicht irgendwo zum Baden anhalten.“

„Gut, dann fahren wir weiter bis hier“, sie deutete auf die Karte, „zur Stexwiger Enge, überqueren mit der Fähre die Schlei und fahren auf der anderen Schleiseite zurück nach Schleswig. Ich schlage vor, dass wir, bevor wir die Fähre benutzen, eine Badestelle suchen. Am kleinen Fährhafen gibt es einen Fischimbissstand. Dort können wir dann eine weitere Pause machen.“

Später, an der Kreuzung, verließen sie die Friedrichstraße, bogen in die Breite Straße ab. Renate ihm voraus. Etwa eine Stunde später, hinter der Ortschaft Fahrendorf, verließen sie den Radweg und erreichten nach wenigen hundert Metern das Schleiufer. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ein kleiner Sandstrand, zehn bis fünfzehn Meter breit, rechts und links von Schilf begrenzt, ein idealer Badeplatz, tat sich vor ihnen auf. Sie stellten die Fahrräder ab.

„Äh, Alexander, ich möchte nicht in das Schilf gehen, dort gibt es viele Insekten, aber ich muss mal. Könntest du dich bitte umdrehen?“

„Warum sollte ich?“

„Na gut, wenn du meinst.“

Sie ging einige Schritte in Richtung des Schilfes, zog ihre Hose und den Slip herunter und hockte sich, ihm abgewandt, ins Gras. Dann kam sie zurück und zog sich vollständig aus. Alexander tat es ihr gleich. Anschließend rannte sie ins Wasser, blieb noch einmal stehen, schaute zurück, an ihm herunter und lächelte. „Später“, sagte sie und schwamm ein weites Stück hinaus. Alexander folgte ihr, zögernd, schwamm ein paar Meter, blieb aber in der Nähe des Ufers. Als Renate zurückkam, stand er bis zu den Schultern im Wasser. Sie erreichte ihn, schlang ihre Arme um seinen Nacken und die Beine um seine Hüften.

„Mit einem Kondom geht das jetzt aber nicht so gut.“

„Brauchen wir heute nicht.“

Später lagen sie halb angezogen nebeneinander auf der Uferwiese und hingen ihren Gedanken nach.

„Ich habe Hunger, Renate, lass uns jetzt zu dem Fischimbiss fahren.“

Am Abend saßen sie wieder im Wohnzimmer des Hauses in der Friedrichstraße. „Es tut mir leid, Alexander aber ich muss morgen arbeiten und schon früh aus dem Haus. Du kannst natürlich bleiben, solange du willst.“

„Ich weiß es noch nicht genau, aber ich denke, dass ich bald nach Wetzlar zurückfahren werde. Noch habe ich keine Idee für einen neuen Roman.“

„Da kann ich dir auch nicht helfen, obwohl ich mir ein Thema vorstellen könnte.“

„Ich kann mir denken, was dir da vorschwebt. Als du mir das geschändete Grab gezeigt hast, überkam mich eine Art Vorahnung.“

„Das wäre gut, und wenn du willst, könnte ich dir noch etwas über die Entstehung unserer Vorurteile Juden gegenüber erzählen. Will dich aber nicht in eine bestimmte Richtung drängen.“

„Das tust du nicht, Renate, und ich höre dir gerne zu.“

„Gut, ich habe dir von meinem Großvater erzählt, dem SA-Mann. Der war davon überzeugt, dass die Juden nach der Weltherrschaft streben. Die sei ihnen, sagte er, göttlicherseits vorhergesagt worden. Ich las in einer überregionalen Zeitung, dass es jetzt einhundert Jahre her sei, dass ein Grundlagenwerk des modernen Antisemitismus in Russland von einem orthodoxen Priester namens Sergej Nilus veröffentlicht wurde. Die Protokolle der Weisen von Zion heißt das Machwerk, das auf einer Fälschung zaristischer Geheimagenten in Paris beruht. Die hatten behauptet, sie seien über verschlungene Wege an Mitschriften des Zionistischen Kongresses in Basel aus dem Jahre 1897 gekommen. In diesen Protokollen hätten die Juden einen Plan skizziert, wie sie dereinst die Weltherrschaft übernehmen wollten. Jeder kennt die Vorurteile, die in diesen Protokollen wurzeln: Über den Einfluss auf die Presse und das Finanzwesen übten die Juden Druck auf Volk und Regierung aus. So bestimme zum Beispiel eine jüdische Lobby die Außenpolitik der USA. Dazu gehöre auch die Verschwörungstheorie, dass viertausend Juden am Vortag des 11. September 2001 gewarnt worden seien, nicht an ihrem Arbeitsplatz im World Trade Center zu erscheinen.

Als erster Wissenschaftler hat nun der russische Historiker Michail Lepekhine 1999 Beweise veröffentlicht, die belegen, dass die Protokolle 1898 von einem jungen Anwalt und Propagandisten namens Mathieu Golovinski verfasst wurden. Der zaristische Geheimdienst hatte ihn beauftragt, ein Dokument zu fälschen, das den Zaren glauben machen sollte, Liberalismus und Moderne seien eines der perfiden Mittel, mit denen sich die Juden zur Weltherrschaft aufschwingen wollten. Diese gefälschten Dokumente waren dann auch bald ausschlaggebend für mehrere Pogrome in Russland. In Deutschland hatte der Naziideologe Alfred Rosenberg die 1919 erstmals auf deutsch veröffentlichten Protokolle als Grundlage für seine Arbeiten herangezogen.

Es hat noch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, die bewiesen, dass es sich bei den Protokollen um Fälschungen handelte. Und doch, die Protokolle der Weisen von Zion sind heute verbreiteter als zuvor. Man kann mit ihnen die Juden wahlweise für den Kapitalismus oder für den Kommunismus verantwortlich machen. Der Schreiber des Artikels kommt zu dem Schluss, dass selbst, wenn es sich weltweit herumgesprochen hat, dass diese Protokolle nur eine Propagandafälschung sind, die Saat der Verschwörungstheorie längst aufgegangen sei. Ja, und einen Beweis dafür hast du gestern auf dem Friedhof erlebt.“

„Kannst du mir den Artikel besorgen?“

„Sicher, ich schicke dir eine E-Mail.“

Wie damals, als Renate Wetzlar verlassen hatte, wachte er am anderen Morgen auf und fand den Platz neben sich leer vor. Auf ihrem Kopfkissen ein Zettel: „Vielleicht.“ Im Zug dann, zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Gießen, fasste Alexander Fabuschewski den Entschluss, Renates Vorschlag anzunehmen. Nicht wissend, dass auch die Idee nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber zunächst verweilten seine Gedanken bei Renate. Fremdheit war nicht aufgekommen, obwohl sie sich eine gewisse Zeit nicht gesehen hatten. Als sie ihn am Bahnhof in Schleswig abgeholt hatte, war es ihm vorgekommen, als sei es erst gestern gewesen, dass sie sich getrennt hatten. Sie hatten für ihr Zusammensein keine erklärenden Worte gebraucht. Obwohl alles wie selbstverständlich passierte, war nichts selbstverständlich gewesen. Und dann der Zettel auf ihrem Kopfkissen. „Vielleicht.“ Das war ihre Antwort auf seine Frage gewesen, damals auf der Terrasse vom Bungalow Nr. 74: „Unser letzter Abend?“

Michelle

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