Читать книгу Aufruhr in Loynmitte - Reiner Kotulla - Страница 4
Erster Teil Eins
ОглавлениеWie oft war ich schon vorbeigefahren? Und es wäre wohl auch besser gewesen, hätte ich an diesem Tag nicht angehalten, wäre nicht ausgestiegen, um mich zu erkundigen, was es mit dem Bauwagen auf sich hat. Doch ich fragte mich, was macht eine Frau im Bikini in einem Bauwagen, der inmitten von bewirtschafteten Feldern stand? Also stieg ich aus und lief die Anhöhe hinauf, um mich zu erkundigen.
„Entschuldigung, darf ich Sie fragen, was Sie hier machen?“
Sie blickte mir offen in die Augen, und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie sprach mit mir, wie es eine Mutter tut, die ihrem Söhnchen etwas zu verstehen gibt.
„Dürfen sie. Wir sind Studenten der Uni Marburg. Archäologie ist mein Hauptfach, und wir graben hier nach Überresten einer mittelalterlichen Siedlung, genau genommen nach einer Kirche, die nach dem Heiligen Martin benannt gewesen sein soll.“
Mein Interesse war geweckt.
„Warum fragen Sie?“
Ich schaute sie an, dachte, was habe ich zu verlieren, wenn ich ihr die Wahrheit sage?
„Mehrmals schon bin ich da unten die Straße entlanggefahren, sah hier oben den Bauwagen stehen und habe nicht weiter darüber nachgedacht. Gerade eben wäre ich wohl wieder vorbeigefahren, hätte ich Sie nicht so, ich meine in diesem Aufzug, aus dem Wagen steigen sehen.“
„Wissen Sie“, und da war er wieder, dieser Ton, „es sind Semesterferien, da weilen eine ganze Reihe meiner Kommilitonen auf Malle, sitzen in eben diesem Aufzug um einen Topf Sangria und saugen an Strohhalmen bis der Arzt kommt.“
Während sie sprach, hatte sich ihr Gesichtsausdruck gewandelt. Ein gewisser Trotz machte sich breit, als hätte ich ihr ob ihrer Bekleidung einen Vorwurf gemacht.
„Ich glaube“, sagte ich, um etwas klarzustellen, „Sie verstehen mich falsch. Mal ganz davon abgesehen, welchen persönlichen Eindruck sie gerade auf mich gemacht haben, gönnen Sie mir bitte meine Überraschung, dieses Bild hier an diesem Ort empfangen zu haben.“
„Meine Güte, wie Sie so daherreden. Das erinnert mich an meinen Deutschlehrer in der Oberstufe, der quatschte auch immer so geschwollen.“
„Leider, junge Frau, Lehrer bin ich nicht. Ich bin Sozialarbeiter, zeitweise zum Jugendamt in Wetzlar abgeordnet und arbeitet dort mit jugendlichen Arbeitslosen. Nebenher bin ich Schriftsteller, schreibe historische Romane. Mein Spezialthema ist das Mittelalter, besser der Feudalismus.“
„Ach so, und dort lachen die Jugendlichen nicht, um in ihrer Sprache zu bleiben, ob ihrer Ausdrucksweise?“
„Doch schon, und ich freue mich immer, wenn sie mich darauf hinweisen.“
„Seltsamer Sozialarbeiter, aber gut, wenn Sie mehr über unsere Arbeit hier wissen wollen, da oben, der Kollege ist der Grabungsleiter“. Sie wies mit einer Handbewegung auf einen Mann, der etwa 50 m von uns entfernt auf einer Anhöhe stand, ein Kartenbrett vor sich an die Brust gedrückt, anscheinend Notizen machend.
„Danke“, sagte ich und wandte mich in die angegebene Richtung. Dann drehte ich mich noch einmal zu ihr um. Sie rückte einen Campingstuhl an den Tapeziertisch, der vor dem Bauwagen stand, auf welchem einige Bücher und Schreibbretter lagen. Vermutlich hatte sie dort zu arbeiten. So konnte ich mich sicher später von ihr verabschieden.
Ich stellte mich dem Mann mit dem Schreibbrett vor: „Pavel Jung, ich wohne hier in der Nähe.“
Offensichtlich hatte ich ihn beim Nachdenken gestört, weshalb er jetzt ein wenig genervt zu sein schien.
„Sie wollen sicherlich wissen, was wir hier tun?“
„Wenn es Sie nicht gerade stört?“
„Ehrlich gesagt schon. Aber hier“, er zog unter dem Schreibpapier auf dem Klemmbrett eine Zeitungsseite hervor und reichte sie mir mit den Worten „Da finden Sie alles kurz zusammengefasst. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen.“
Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass es nicht meine Absicht sei, ihn bei der Arbeit zu stören. Ich würde den Artikel, ich zögerte einen Moment, unten am Bauwagen lesen, falls er nichts dagegen hätte und ihn dann bei der jungen Frau zurücklassen.
„Gute Idee Herr Jung, die Rajna können Sie fragen, wenn Sie mehr wissen wollen.“
Ich verabschiedete mich, was der Mann kaum noch wahrnahm.
Ich begab mich zurück zum Bauwagen.
„Da sind Sie ja schon wieder“, lächelte sie in der ironischen Weise, die ich nun schon an ihr kannte.
„Hat er sie ebenso abgewiesen, wie er das gegenüber allen unerwarteten Besuchern tut?“
„Genauso, und er meinte, die Rajna können Sie fragen…“
„Jaja, aber lesen Sie erst einmal den Artikel“, und dabei wie sie auf das Papier in meiner Hand.
„Darf ich mich hier an den Tisch setzen?“
„Ja natürlich, möchten Sie einen Kaffee, ich koche gerade welchen?“
„Gerne“, sagte ich.
Ich setzte mich auf einen weiteren Gartenstuhl den ich an den Tisch heranzog, und vertiefte mich in den Text, der aus der hiesigen Regionalzeitung stammte.
Aufmerksam las ich, konnte aber nicht vermeiden, hin und wieder meinen Blick auf Rajna zu richten, die, vor sich eine Kaffeetasse, ebenfalls zuerst Textseiten ordnete, um dann an einem Text zu arbeiten, indem sie dort Randnotizen einfügte.
Mein Blick verharrte auf ihr, wenn ich der Annahme war, dass sie es nicht bemerkte. Anfang zwanzig mochte sie sein, etwa einen Meter siebzig groß, kräftig gebaut erweckte sie den Anschein, gut mit Spitzhacke und Schaufel umgehen zu können. Ich hatte mir bisher wenig Gedanken über die Arbeit von Archäologen gemacht, bildete mir aber ein zu wissen, dass die darin besteht, Zeugnisse aus vergangenen Zeiten zu entdecken, welche sie dann mit wissenschaftlichen Methoden näher bestimmen. Die Aufgabe von Historikern ist es dann, so glaubte ich, aus den Angaben bezüglich der Ausgrabungen Schlüsse hinsichtlich geschichtlicher Abläufe zu ziehen. Die Grenzen der eigenen Aussagen zu den Annahmen der anderen können wohl fließend sein, was das Ende des Textes, den ich gerade gelesen hatte, belegt. Darüber wollte ich, wenn Rajna dazu bereit war, mit ihr reden, denn als ich eben die Schlussfolgerung der Archäologen las, erinnerte ich mich an ein Seminar meines Studiums. Ein Semester Geschichte hatte ich mir geleistet - Mittelalter. Da war es unter anderem um den Protest der von der Kirche als Ketzer bezeichneten Menschen gegangen, die sich damals gegen die römische Papstkirche gestellt hatten, und das nicht nur in Wort und Schrift.
Rajna musste wohl bemerkt haben, dass ich den Artikel fertiggelesen hatte. Sie legte das Papier welches sie gerade bearbeitet hatte, zur Seite, nahm einen Schluck aus der Tasse und blickte zu mir hin, so als wollte sie fragen: „Und, was meinen Sie dazu?“
„Und was meinen Sie dazu?“
„Ja, was soll ich sagen? Die Schlussfolgerung, die ihre Kollegen ziehen, erscheint mir auf den ersten Blick hin plausibel zu sein. Meine Vermutungen gehen aber in eine andere Richtung.“
Alle Ironie war aus ihrem Gesicht gewichen. Erwartungsvoll blickte sie mich an.
„Und gehen wohin?“
Ich zögerte. Sollte ich ihr meine spontanen Gedanken darlegen, die ich in keiner Weise belegen konnte? Vielleicht freute ich mich lediglich auf den Protest aus berufenem Mund, als ich im Brustton fester Überzeugung sagte: „Das können die Bauern und Handwerker der Umgebung gewesen sein, die es leid waren, die Ausbeutung des Feudaladels weiter hinzunehmen. Ich meine, die der weltlichen als auch die der geistlichen Herrscher dieser Gegend hier.“
Wieder überlegte Rajna eine Zeit lang. Sie hatte sich in dem Stuhl zurückgelehnt, ihre Beine übereinandergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Können Sie das belegen, Herr…?“
„Entschuldigung, ich heiße Pavel Jung, bin Sozialarbeiter und zeitweilig nach Wetzlar versetzt. Und belegen, nein das kann ich nicht – noch nicht.“
„Und das heißt? Ach so, meinen Vornamen kennen sie ja, Rajna Selbmann. Ich studiere in Marburg und wohne in Wetzlar.“
Sollte ich jetzt sagen angenehm? Ich verzichte darauf.
„Noch nicht heißt, ich werde es versuchen.“
„Und mir ihre Ergebnisse übermitteln?“
„Gerne, wenn Sie mir sagen wohin?“
„Ja, rajna-selbmann@t-online.de“
„Gut, dann will ich sie nicht länger stören.“
Ich erhob mich und bat darum, den Zeitungsartikel behalten zu dürfen.
„Können Sie Pavel und viel Erfolg! – Ach so, Pavel, das klingt russisch?“
„Ja, der Jugendfreund meiner Mutter – aber das ist eine lange Geschichte.“
„Vielleicht ein anders Mal?“
Ich verabschiedete mich, ging hinab zur Straße, wo mein Auto stand. Als ich noch einmal zum Bauwagen zurückblickte, war Rajna nicht mehr zu sehen.