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Zwei

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Sie ging mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht ein anders Mal hatte sie gesagt. Aber, so war es immer, wenn ich eine neue Schreibidee hatte. Aufständische Bauern und Handwerker zerstören eine Kirche. Gläubige Christen womöglich schänden ihr Gotteshaus. War das denkbar? Habe ich da etwa zu schnell reagiert, falsche Schlüsse gezogen? Vielleicht auch nur deshalb, um vor der jungen Studentin mit meinem Wissen über den Feudalismus zu prahlen?

Wusste ich doch, dass man im herkömmlichen Geschichtsstudium den Begriff kaum verwendet. Mittelalter in verschiedenen Stufen ist heute die gängige Bezeichnung für dieses historische Stadium. Und doch, konnte die Sache dort an der Lahn nicht eine Aktion der sogenannten Ketzerbewegung gewesen sein? Noch im Auto sitzend fasste ich den Entschluss zu recherchieren, um mich dann zu entscheiden. Doch zuerst wollte ich am Abend noch einmal den Artikel über den Stand der Ausgrabungen gründlich durcharbeiten.

Und dann diese Rajna! Resolut in ihrer Erscheinung sah ich sie plötzlich vor meinem geistigen Auge in einer Grube stehen, die Spitzhacke über den Kopf erhoben und später eine Tonscherbe in der Hand, die sie vorsichtig mit einem Pinsel von Erdresten befreite.

Am Abend, nachdem ich mir in meiner kleinen Küche ein spärliches Essen zubereitet hatte, setzte ich mich in meinen Sessel und las noch einmal den Artikel, der unter der Überschrift „Skelette, Messer und eine Glocke“ in der hiesigen Zeitung erschienen war:

„Weitere Grabungen bei Leun weisen auf größere Siedlung aus der Karolingerzeit hin

Die neuen Grabungen an der B 49 bei Leun haben bestätigt, dass der Bereich der dort gefundenen Martinskirche schon in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts besiedelt war.

Der Professor vom Vorgeschichtlichen Seminar der Philipps-Universität Marburg und sein Grabungsleiter haben darauf hingewiesen, dass die 30 Studenten auf Besiedlungshinweise aus dieser Zeit gestoßen sind.

Zudem fanden sie im dritten Jahr der Grabungen weitere Mauerreste, die nicht nur auf die Martinskirche hinweisen, sondern auf eine ganze Siedlungsanlage mit Umgebungsmauer und Eingangstor Richtung Tiefenbach. Ferner haben sie ältere Mauern an der Kirche ausgegraben. Dabei fanden die Studenten weitere Skelette, die teilweise auf den Mauern bestattet waren. Man geht davon aus, dass beim Ausheben der Gräber nicht tiefer gegraben werden konnte und deshalb die Särge auf den Mauern abgelegt wurden. Im Chorbereich der Kirche fanden die Studenten Keramik aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. Damit ist erwiesen, dass es sich bei der Martinskirche um einen der ältesten Kirchenbauten in Hessen handelt. An das Kirchenschiff sind mehrere Räume angebaut worden. Der Chorbereich ist wohl später als der Altarraum entstanden.

Bereits im vergangenen Jahr sind 30 Skelette geborgen worden, in diesem Jahr etwa ebenso viele. 2016 war als besonderes Fundstück das Fragment einer im Verlauf des 13. oder frühen 14. Jahrhunderts entstandenen Kirchenglocke entdeckt worden. Die archäologische Fundstelle wurde schon 1971 im Zuge des Ausbaus eines Zubringers vom Lahnbahnhof zur B 49 entdeckt, geriet aber wieder in Vergessenheit. Nun steht der Ausbau der B 49 an, und die Fundstelle fand wieder Interesse.

Der ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger sowie nachfolgend die Studenten des Vorgeschichtlichen Seminars haben die Fundstelle anhand der Konzentrationen an Keramik und Knochen auf der Ackeroberfläche genau eingegrenzt.

Den Grabungen vorangegangen waren die folgenden wissenschaftlichen Methoden: archäologische Fernerkundung (Luftbilder) und geophysikalische Prospektion, aber auch sogenannte Schnitte im Gelände, bei denen man tatsächlich bereits 2015 die Kirche „angeschnitten" hatte.

Eine vergleichende Auswertung hatte deutlich den 17 mal 8 Meter messenden Kirchenbau mit halbrunder Apsis im Osten sowie eine einfassende Mauer erkennen lassen. Dass die Siedlung aus der karolingischen Zeit wesentlich größer war, ergaben erst jetzt die Grabungen. Die gefundene Bebauung wie Kirchhof, Kirchenbau und umgebende Dorfwüstung dokumentieren die Studenten für die Landesforschung. Ob es im nächsten Jahr zu weiteren Grabungen kommt, hängt von den Ausbauplänen des Landes für die B 49 ab, so der Grabungsleiter.

Der Wissenschaftler wusste auch zu berichten, dass die Kirchensiedlung im 14. Jahrhundert ein unrühmliches Ende genommen hat. Ein im Wetzlarer Dom aufbewahrter Brief der Wetzlarer Bürger an Erzbischof Balduin von Trier (1285 bis 1354) besagt, dass die Wetzlarer im Jahr 1350 um die Genehmigung baten, mehrere Kirchen in der Region, darunter auch die Martinskirche bei Leun, zu zerstören. Davon, dass dies geschehen ist, zeugt einiger Schutt um die Glocke. Zudem hat man auch Messer, die als Waffen eingesetzt wurden, gefunden. Das Bauwerk ist Opfer des Konkurrenzkampfes im Lahntal geworden.“

Ich musste nicht weiter darüber nachdenken. Mein Entschluss stand fest, ich würde sie schreiben, die Erzählung, der ich den Arbeitstitel „Die Martinskirche im Lahntal“

gab. Und, es musste recherchiert werden, das war mir klar, über die allgemeine Geschichte dieser Gegend, über die Lage der Menschen hier im 14. Jahrhundert und, und, und…

* * *

Wie zeitaufwendig war es doch früher, Nachforschungen anzustellen. Aufwendige Besuche in Archiven und Bibliotheken konnte ich mir ersparen. Die für meine zu erfindende Geschichte um das Ende der Martinskirche notwendigen Informationen besorgte ich mir im Internet. Meine Recherche bezog sich auf die Geschichte von Wetzlar, der bedeutendsten Stadt in jener Region sowie auf die Lage der Bauern im 14. Jahrhundert.

Bald fand ich heraus, dass sich die Stadt Wetzlar in der Mitte des 14. Jahrhunderts im Niedergang befand. Insbesondere die mächtigen Grafen von Solms lösten immer wieder langwierige und teure Fehden mit der Reichsstadt aus. Sie wandten alle Mittel an, um Wetzlar in die Knie zu zwingen und sie dem eigenen Territorium einzuverleiben. Nach der Verlegung der wichtigsten Handelsstraßen nach Westen musste Wetzlar starke Einbußen im Handel hinnehmen. Auch der verheerende Brand von 1334 war für die Stadt ein harter Schlag. Wie auch anderswo, wurde den Juden der Stadt die Schuld am Ausbruch der Pest zugeschrieben. Die Brunnen hätten sie vergiftet, behauptete man. Und dort wie hier entzog man sich der Rückzahlung der Schulden, die man bei Ihnen gemacht hatte, indem man nicht nur die Schuldscheine, sondern auch die Gläubiger, die Juden, verbrannte.

Unklug, wie sich bald herausstellen sollte, hatte man sich damit auch zukünftiger Geldgeber entledigt. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Pest, Brand, Krieg, Handelsflaute und Misswirtschaft zum katastrophalen wirtschaftlichen Niedergang der Stadt führten. Einbezogen in diese Krise war auch die älteste religiöse Institution Wetzlars, das Marienstift, dem beträchtliche Einnahmen verloren gingen. Das führte dazu, dass letztendlich die Gläubiger vermehrt zur Kasse gebeten worden sind. Mit der Zeit steigerte sich deren Wut, vor allem, wenn sie beobachteten, dass sich die geistlichen Herren Konkubinen oder sonstige Frauen mit üblem Ruf leisteten und in Wirtshäusern dem Glücksspiel frönten. Außerdem stagnierte der Bau der Kirche des Marienstifts mangels finanzieller Mittel.

Es war weit nach Mitternacht, als ich meine Recherche vorerst abschloss und zu der Einsicht gelangte, dass von der alle Bereiche des Lebens umfassenden Krise der Stadt Wetzlar und ihrer Institution Kirche kaum eine Gefahr für die fünfzehn Kilometer entfernte Martinskirche ausgegangen sein konnte. Ich fragte mich weiterhin, warum sollten die Solmser Grafen sich den Ast absägen, auf dem sie saßen, und Kirche und Siedlung an der Lahn zerstören?

Und noch etwas fand ich heraus. Höchstwahrscheinlich hat es dort bei der Kirche tatsächlich eine Siedlung gegeben. Auf der Webseite der Stadt Leun gibt es einen Link zu Wüstungen in dieser Gegend. Und eine solche namens Loynmitte ist dort hanganwärts zur Martinskirche verzeichnet.

Später sollte ich erfahren, dass sich die Siedlung nicht südlich, sondern westlich der Kirche befand.

Zufrieden mit dem Ergebnis meiner Arbeit schlief ich ein, nicht ahnend, dass ich schon bald einen Beleg für die Existenz dieser Siedlung erhalten sollte.

Aufruhr in Loynmitte

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