Читать книгу Aufruhr in Loynmitte - Reiner Kotulla - Страница 9
Sechs
Оглавление„Machen Sie da nicht was über die Martinskirche?“
Ich erschrak, hatte ich ihn doch nicht bemerkt, meinen Vermieter Paul Wittlich, der jetzt hinter der Hecke, die sein Grundstück umschließt, hervortrat.
„Tag, Herr Wittlich, ich habe sie nicht bemerkt und mich deshalb erschrocken.“
„Macht nichts, Herr Jung, also ich hätte da was für Sie, ich hol‘s grad.“
Er verschwand hinter der Haustür und kehrte kurz darauf zurück, streckte mir seine Hand entgegen, in der er eine braune Scherbe hielt.
„Das da habe ich gefunden, als wir damals die Grube für den Teich haben ausgraben lassen.“
Ich nahm das Keramikstück in die Hand und betrachtete es von allen Seiten. Offensichtlich handelte es sich hier um ein Bruchstück aus einem in Ton gebrannten Behälter. Es sieht aus, als sei der Boden des Topfes mit Fingern festgedrückt worden, schloss ich aus den Dellen am unteren Rand des Bruchstückes.
„Aus der Grube für den Teich, sagten Sie?“
„Ja.“
„Und aus welcher Tiefe etwa?“
„Naja, so einen Meter.“
„Interessant, Herr Wittlich, und was haben sie damit vor?“
„Keine Ahnung, ich dachte nur, vielleicht können die da unten das gebrauchen“, und dabei wies er mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Ausgrabungsstelle etwa 300 Meter hangabwärts, jenseits der Bundesstraße.
„Das trifft sich gut, ich bin gerade auf dem Weg dorthin.“
„Was soll ich damit, geben Sie es denen dort.“
Ich nahm die Scherbe an mich. Sie war so fest und dick, dass ich sie bedenkenlos in meine Hosentasche stecken konnte. Eigentlich war ich mir gar nicht so sicher gewesen, nun aber hatte ich einen Grund sie zu besuchen. Natürlich würde ich Rajna das Fundstück übergeben und nicht dem Ausgrabungsleiter. Der hatte mich ja an die Studentin verwiesen.
Ich steckte also die Keramikscherbe in die Seitentasche meiner alten Militärhose und machte mich auf den Weg zur Ausgrabungsstelle.
Der Himmel hatte sich zugezogen, schwül heiß war die Luft. Vielleicht würde es endlich ein Gewitter geben. Wochenlang schon dauerte die Hitzewelle an, die wieder einmal die Klimaforscher auf den Plan rief. Von einem Jahrhundertsommer war die Rede, und dass dieses Wetter ein Anzeichen für einen Klimawandel sei.
An der Ausgrabungsstelle angekommen, stellte ich mit Erleichterung fest, dass die Bauwagentür
offen stand. Vor dem Bauwagen der Tapeziertisch und rundherum einige Campingstühle, allerdings unbesetzt. Also waren sie alle bei der Grube.
Mein Blick dorthin war durch einen Berg Erdaushub versperrt. Über einen Trampelpfad gelangte ich an den Erdhaufen. Ein paar Schritte um ihn herum, und ich erstarrte. Allein, zwischen den freigelegten Grundmauern der Kirche saß sie, bekleidet mit dem mir schon bekannten Bikini, mir den Rücken zugewandt, auf einem Tuch, ein Buch in den Händen haltend.
“Verweile doch, du bist so schön“, dachte ich mit dem Dichter. Schon wollte ich zu ihr hingehen, als ich plötzlich die Idee für das Titelbild meines Buches hatte. Zum Glück hatte ich mein Smartphone eingesteckt. Ich nahm es aus der Hosentasche, hielt es hochkant in ihre Richtung und drückte ein paar Mal auf den Auslöser. Später würde ich Sie fragen, ob sie damit einverstanden sei, das Motiv für den Bucheinband abzugeben.
„Hallo!“, rief ich vorsichtshalber, um Rajna nicht zu erschrecken. Sie wandte sich mir zu und als sie mich erkannte, legte sie das Buch auf die Seite und winkte mich heran.
Jetzt war ich froh darüber, die Scherbe dabeizuhaben, konnte ich doch so die aufgekommene Verlegenheit überspielen, die sich eingestellt hatte. So sehr überraschte mich das Bild, Rajna, auf einem Handtuch sitzend, inmitten von Steinhaufen und Mauerresten.
„Setzen Sie sich doch zu mir, Herr Jung“, sagte sie, und dabei deutete sie auf eine Steinplatte etwa, einen Meter von sich entfernt.
„Ja danke“, sagte ich, und bevor ich Platz nahm, holte ich die Scherbe aus der Tasche, um mich nicht aus Versehen darauf zu setzen.
„Schauen Sie Rajna, was mir mein Vermieter mit der Bitte übergeben hat, es an Sie weiterzugeben!“
„Immer noch der Alte“, sagte sie lachend. Dabei murmelte sie: “Mit der Bitte übergeben hat.“ Sie nahm mir das Keramikteil aus der Hand und betrachtete es eingehend.
„Interessant“, meinte sie schließlich, „und wo genau hat er das gefunden?“
Ich gab wieder, was mir der Mann erzählt hatte.
„300 Meter“, sagte sie und blickte in westliche Richtung. “Ja, das könnte hinkommen, dort etwa könnte sich die Siedlung befunden haben, die seinerzeit gewüstet wurde.“
„Sie meinen Loynmitte?“
„Woher wissen Sie das?“
„Nun, ich habe recherchiert.“
„Sie scheinen es ja wirklich ernst zu meinen.“
„Eh, womit?“
„Naja, sagten sie nicht, sie wollten eine Geschichte zu den Vorgängen hier um das Jahr 1350 schreiben?“
„Ja, das will ich immer noch, allerdings, wie sie sagten, eine Geschichte, besser gesagt, eine lange Kurzgeschichte.“ Rajna lachte.
„Worüber lachen Sie?“
„Über den Begriff lange Kurzgeschichte. Ist das nicht ein Widerspruch?“
„Überhaupt nicht, eben kein Roman, sondern vom literarischen Charakter her eine längere Erzählung.“
„Naja, jetzt erinnere ich mich, hatten wir in der Schule, in Deutsch.“
Jetzt wollte ich doch wissen, was Rajna heute hier so allein zu tun hatte. Der Ausgrabungsleiter und die anderen seien zu einer Besprechung beim Bürgermeister. Man wollte klären, was mit der Ausgrabungsstelle geschehen sollte, wenn die Grabungen abgeschlossen sind.
Sie hatte praktisch die Wache übernommen. „Bis abends, bis zur Rückkehr meiner Kommilitonen“, erklärte sie. Bis abends, dachte ich und empfand die Aussicht angenehm, noch eine Zeit lang mit ihr plaudern zu können.
„Eine Wüstung also“, ergriff ich das Wort.
„Ja, sie wissen vermutlich, dass es verschiedene Gründe dafür gab, warum Menschen ihr Siedlungsgebiet verlassen mussten.“
„Klar, Klimaveränderungen, Seuchen, feudale Landnahme, Kriege.“
„Und, was schätzen Sie, war hier der Grund dafür, dass die Bauern Loynmitte verlassen haben?“
„Nun, das wissen wir noch nicht. Fakt ist immer noch der Streit zwischen den Wetzlarern und den Solmsern.“
Ich wollte jetzt nicht weiter nachfragen, müsste ich dann doch über das berichten, was ich über die Situation in Wetzlar seinerzeit in Erfahrung gebracht hatte, müsste ihr auch meine Schlussfolgerungen im Hinblick auf die hiesigen Wüstungsursachen darlegen. Das wollte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht tun. Warum ich das nicht wollte, war mir selbst nicht klar. Vielleicht, weil ich bisher noch nicht genügend Belege für meine Vermutungen hatte. Und außerdem wollte ich ja keine historische Abhandlung, sondern eine Kurzgeschichte schreiben, deren Handlung von mir frei erfunden war.
Eines wusste ich aber schon jetzt, ich würde auch über mich selbst, über mein Leben, über meine Forschungsarbeit und natürlich auch über sie, die Archäologiestudentin schreiben. Also musste ich jetzt damit rausrücken, dass ich sie mit besonderer Absicht fotografiert hatte. Das tat ich nun, ging aber dabei ganz vorsichtig vor. Ich bemerkte, dass alles noch nicht entschieden sei und so.
„Zeigen Sie das Bild her!“ meinte sie in einem Ton, der nichts Gutes erahnen ließ.
Ich zog mein Smartphone aus der Tasche, öffnete die „Galerie“ und hielt ihr das Gerät hin, Protest erwartend. Sie nahm mir das Handy aus der Hand und betrachtete eingehend, was ich aufgenommen hatte.
„Das hier“, meinte sie, nachdem sie die Aufnahmen durchgesehen hatte, „da bin ich gut getroffen.“
„In Ordnung“, tat ich gleichgültig, das gefällt auch mir.“
„Ja, und welche Rolle kommt mir in der Geschichte zu?“
„Na, ist doch klar“, sagte ich, ohne zu überlegen,“ der Autor verliebt sich in die Studentin.“
„Rein fiktiv natürlich!“
„Aber ja, nur einmal so angenommen.“
„Na, dann bin ich ja mal gespannt. Ich bekomme sie doch hoffentlich zuerst zu lesen?“
„Aber ja, selbstredend.“
Es entstand eine Pause, eine Verlegenheitspause. Rajna blickte zum Himmel und ich registrierte plötzlich, dass Wind aufgekommen war.
„Wenn das mal kein Gewitter gibt“, meinte sie.“ Besser wir decken den Rest der Grundmauern ab, die müssen vor Wasser geschützt werden.“
Rajna stand auf, legte ihre Sachen jenseits der Mauer ab und wies mit der Hand auf die große Plane, die zum Abdecken bereitlag. Der erste Blitz und kurz darauf der Donner, wie aus heiterem Himmel. Die Plane war aufgelegt. Rajna bedeutete mir, es ihr gleich zu tun und Steine zur Befestigung auszulegen. Die ersten Tropfen, und ehe wir uns versahen, entlud sich der Himmel, Donner folgte auf Blitz.
Etwa einhundert Meter waren es bis zum Bauwagen. Wir rannten los, blieben aber etwa nach der Hälfte des Weges stehen und sahen uns an, lachend.
„Jetzt sind wir eh nass,“ meinte sie und ging mir gemächlich voraus. Da auch meine Klamotten bereits durchnässt waren, folgte ich ihr in gleicher Weise. Im Bauwagen standen wir uns unschlüssig gegenüber.
„Wollen Sie warten, bis das Gewitter vorüber ist und dann gehen?“
„Wenn Sie nichts dagegen haben?“
„Nein, aber drehen Sie sich bitte um, ich will mir trockene Sachen anziehen.“
Ich tat, wie mir geheißen. An den Spiegel an der Wand des Bauwagens hatte sie wohl nicht gedacht, oder? Denn - plötzlich trafen sich dort unsere Blicke für einen Augenblick. Sie lächelte, äußerte sich aber nicht weiter. Umgezogen öffnete sie mir die Tür und blickte hinaus.
„Es hat aufgehört zu regnen, schauen Sie doch wieder einmal vorbei!“ „Bestimmt“, sagte ich und machte mich auf den Weg.
Was ich gesehen hatte, verfolgte mich, erschien mir in der Nacht im Traum. Doch wie es mit den Träumen so ist, wenn es schön wird, gehen sie zu Ende.
Tags darauf begab ich mich auf die Obstwiese hinter dem Grundstück meines Vermieters, dorthin, wo ich die Siedlung vermutete. Ich setzte mich auf eine Bank, die am Weg stand, und versuchte, mir vorzustellen, wie sie gelebt haben, die Menschen, hier vor 700 Jahren. Bestimmte Personen hatte ich dabei nicht vor Augen. Zunächst verschaffte ich mir einen allgemeinen Überblick.
Um diese Zeit waren die meisten Menschen Bauern. Sie lebten in Nachbarschaft und halfen einander. Sie bildeten eine Dorfgemeinde. Aus ihrer Mitte wählten sie den Vorsteher. Das war der Schulze. Der das Dorf umgebende Wald, das Weideland, die Teiche und Bäche gehörten allen gemeinsam. Das war die Allmende. Alle Dorfbewohner durften im Wald jagen und Holzfällen. Jeder konnte im Teich oder in den Bächen fischen. Man trieb die Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine auf die Dorfweiden und Waldwiesen. Inmitten der Allmende lag das Ackerland. Die Bauern oder ihre Vorfahren hatten es in gemeinsamer Arbeit urbar gemacht und bestellt. Von diesem Ackerland sprach die Dorfgemeinde jedem Bauern einen Teil zu. Diese Felder gehörten ihm, ebenso das Stück Land, auf dem sein Haus stand oder sich der Hof befand. Gäbe es da nicht die Kriege, die sich die Fürsten lieferten, wäre alles in schönster Ordnung gewesen. An diesen Kriegszügen, die fern ihrer Heimat stattfanden, mussten auch die Bauern teilnehmen. Der Befehl dazu kam vom Fürsten. So mussten die Bauern über Monate hinweg ihren Höfen fernbleiben. Mit der Arbeit auf den Feldern plagten sich dann die Frauen, Kinder und alten Leute. Oft blieb Arbeit unverrichtet. Wenn gar der Bauer mehrere Jahre hintereinander in den Krieg ziehen musste, war es um die Familie und den Hof in der Heimat schlimm bestellt. Wer aber dem Befehl zum Kriegsdienst nicht folgte oder wer ohne Erlaubnis das Heer verließ, erhielt eine hohe Strafe. Die Fürsten boten den Bauern an, den Kriegsdienst mit ihren bewaffneten Kriegern zu übernehmen. Doch jeder Fürst forderte dafür von den Bauern eine Gegenleistung. Künftig sollte das Ackerland der Bauern dem Herrn gehören. Zwar durfte ein Bauer auch weiterhin darauf wirtschaften, musste jedoch einen Teil seiner Ernte seinem Herrn als Abgabe erbringen. Außerdem musste er für den Herrn arbeiten, meist auf dessen Feld. Dies nannte man fronen und die Dienste Frondienste. Der Bauer musste seinem Herrn, dem Feudalherrn, gehorchen. Er war von nun an ein höriger Bauer.
Wenn durch Dürre oder Unwetter ein Teil der Ernte vernichtet wurde, erging es den Bauern schlecht. Dann mussten sie zum Beispiel zerriebene Eicheln oder Baumrinde ins Mehl mischen, um Brot backen zu können. Half der Feudalherr mit seinen Vorräten, also mit den zuvor erpressten Abgaben aus, verlangte er, dass der hörige Bauer ihm dafür seine Felder übereignete.
So wurden schon damals die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher. An dieser Stelle meiner Überlegungen fiel mir das folgende Gedicht von Bertolt Brecht ein: Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“
Mein Blick ging über die Wiese und die alten Obstbäume, die jetzt hier wuchsen, und doch konnte ich mir, als ich meine Augen schloss, vorstellen wie Menschen hier lebten, arbeiteten und liebten.
„Es hat aufgehört zu regnen, schauen Sie doch wieder einmal vorbei!“
Das waren ihre letzten Worte gewesen, und ich hatte geantwortet: „Bestimmt!“
Kommt nicht jeder gebundene Mann irgendwann mal in die Lage, von etwas, von jemandem, von einer Frau gepackt zu sein, wobei jede Vernunft in die Brüche geht, ging es mir durch den Kopf. Wie sieht es dann aus, mit seinen moralischen Bedenken, wenn er zu Hause eine Partnerin hat, die er um keinen Preis verlieren will. Oft schon hatte ich davon gelesen, wie es diesen Mann fortzieht und der Kopf an einer Ausrede tüftelt, um unbeobachtet das Handy zu nutzen. Trostworte, Schwüre, Vertröstungen und dann zurück an den häuslichen Tisch, ins Bett, auch das gehört dazu, während die Gedanken woanders sind. Recht üppige Gedanken, zumindest eine Zeit lang, weil es dort anders ist, neu, näher oder ferner der Arbeit, ein Abenteuer und mehr, manchmal viel mehr.
Hat es die Partnerin vielleicht gemerkt und sich nichts anmerken lassen? Und ist es ihr eventuell schon einmal ähnlich ergangen? Wollte nicht auch sie einmal ausbrechen, sich anderswo umsehen, anregen, erregen lassen? Gibt es nicht viel zu viele Beziehungen, wo beide, abgestumpft, bloß immer wieder zusammenfinden, weil sie denselben Wohnungsschlüssel in der Tasche haben? Hat aber nicht jeder ein Recht auf Glück, auch wenn es dicht neben dem Glück eines anderen steht, es sogar in Gefahr bringt oder zerbricht? „Wo Glück aufgeht, geht die Demut unter“ heißt ein deutsches Sprichwort. In einer solchen Situation weiß man oft nichts Besseres als sich zu sagen: Weg mit der verfluchten, lammfrommen, pedantischen, kleinlichen, ängstlichen, frommen Demut, her mit dem Glück, wenn's ein gutes, ehrliches, heftiges Glück ist.
Und doch, ganz plötzlich kamen mir Bedenken. Ich dachte an Jasmin, und ganz unabhängig von der Bedrohung, der sie gerade ausgesetzt war, überkam mich ein Gefühl großer Zuneigung, das mich keinen Augenblick an unserer Liebe zweifeln ließ. Schlag sie dir aus dem Kopf, Pavel, ermahnte ich mich. Ich erhob mich, den Kopf voll mit dem einen und dem anderen, lief zu meiner Wohnung, packte die üblichen Sachen, setzte mich in mein Auto und fuhr nach Hause. Auf halber Strecke formulierte ich mein zukünftiges Verhalten: Lass sie raus aus deiner Geschichte, beziehe sie nicht mehr ein in deine Autorenarbeit, besuche sie am besten gar nicht mehr, meide in Zukunft den Weg, der an der Ausgrabungsstelle vorbeiführt!