Читать книгу Aufruhr in Loynmitte - Reiner Kotulla - Страница 6
Drei
ОглавлениеIn dieser Woche kam ich nicht mehr dazu, die Erzählung zu beginnen. Es gab Probleme mit meinen Jugendlichen, die mich voll in Anspruch nahmen. Am Freitag, nach Feierabend stand mir der Sinn danach, sofort die Heimreise anzutreten, nach Frankfurt, zu Jasmin, meiner Freundin. Zehn Jahre waren mir jetzt zusammen. Hin und wieder hatten wir das Thema Heirat angeschnitten, es aber nicht ernsthaft weiterverfolgt.
Als ich jetzt auf der Fahrt im Auto daran dachte, wurde mir bewusst, dass es immer Jasmin gewesen war, die davon gesprochen hatte. Sie war fünf Jahre jünger als ich. Die Vierzig sah man ihr aber noch nicht an, zumal sie sich jugendlich kleidete. Stets freute sie sich, wenn ich ihr wegen ihres Aussehens Komplimente machte, die meinerseits immer ehrlich gemeint waren. Jasmin war eher zierlich gebaut und nur 1 m 56 groß. Beim Klamotten– und Schuhkauf endete der Rundgang im Kaufhaus oft in der Kinderabteilung.
Etwa auf halber Strecke zwischen Wetzlar und Frankfurt existierte für mich eine unsichtbare Grenze. Überschritt beziehungsweise überfuhr ich sie, wie gerade jetzt, ließ ich meine Arbeit, die Wetzlarer Freizeit und alle damit verbundenen Probleme hinter mir, richtete meinen Blick auf das kommende Wochenende und das Zusammensein mit Jasmin. Das war bisher völlig problemlos gegangen, sollte aber bald…
Als ich zu Hause ankam, war Jasmin noch nicht da. Sie war wie ich Sozialarbeiterin, leitete in Frankfurt einen Kindergarten und hatte am Abend oft noch Elterngespräche zu führen. So sicherlich auch heute. Freitagabend aßen wir immer beim Italiener an der Ecke.
Ich rief sie an. Gegen acht könne sie dort sein, meinte sie. So hatte ich gute zwei Stunden Zeit. Deshalb machte ich es mir auf der Couch bequem, schlief sogleich ein.
Ich sah sie in einer Grube stehen, auf einen Spaten gestürzt, mir zuwinkend. Wie fest angewurzelt stand ich, konnte keinen Schritt tun.
Da wurde ich wach. Nur eine halbe Stunde hatte ich geschlafen. Von wegen “hinter mir lassen“. Und doch empfand ich diesen kurzen Schlaf als erholsam. Ich ordnete meine Sachen in den Kleiderschrank, stopfte die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine. Im Büroschrank fand ich einen DIN A5-großen Kalender vom letzten Jahr, den ich zu meinem aktuellen Schreibbuch umfunktionierte. Obwohl ich mein Textverarbeitungsprogramm einigermaßen gut beherrschte, habe ich es mir zur Regel gemacht, meine Texte zuerst per Hand aufzuschreiben. Erstens geht es so schneller, als wenn ich sie in den Rechner tippe und zweitens kann ich per Hand auch im Freien texten, was mir das Notebook nicht erlaubt. Vielleicht gibt es bald Notebooks mit Smartphone-Technologie, sodass man auch unter Sonnenschein schreiben und lesen kann. Hinzu kommt, dass ich beim Übertragen auf den Rechner bereits eine erste Überarbeitung vornehmen kann.
Etwa eine halbe Stunde blieb mir noch, und so begann ich meine ersten Aufzeichnungen: „Wie oft war ich schon vorbeigefahren?“
Damit hatte ich mich entschieden, sowohl über mich zu schreiben, als „Pavel, der Erzähler“, vielleicht in der Form eines Tagebuchs, als auch über „Martin, der Pfarrer“ in der Form einer Erzählung.
Etwa zehn Minuten saß ich an „unserem“ Tisch, als Jasmin mir auf die Schulter tippte, und ich vor Schreck zusammenfuhr.
„Hast du es dieses Mal nicht geschafft, auf halber Strecke deine Probleme zurückzulassen?“ fragte Jasmin anstelle einer Begrüßung. Ich stand auf, umarmte meine Freundin und küsste sie wie immer auf den Mund, sodass Livio, der Wirt, wie stets neidvoll seufzte, „amore, amore!“
„Keine Probleme“, meinte ich, „nur eine neue Idee.“
„Urlaubs- oder Schreibidee?“ fragte Jasmin, obwohl ich mir ziemlich sicher war, sie sei davon ausgegangen, dass es eher der zweite Teil der Frage war, der mich hatte nachdenken lassen. „Beides“, log ich, weil wir uns am vergangenen Wochenende vorgenommen hatten, an diesem über unseren Urlaub zu sprechen.
„Erzähle Pavel! Mir ist heute nicht danach, über meine Arbeit zu berichten, obwohl es da schon etwas gäbe – eine unangenehme Sache. Davon später.“
Ich wollte sofort nachfragen, doch da war Livio an unseren Tisch getreten, den Bestellblock demonstrativ in der Hand haltend. Beide nahmen wir Pizza, und kaum, dass sich Livio entfernt hatte, begann ich von meinem Besuch an der Ausgrabungsstätte zu berichten. Ich erzählte, dass mir dort, ich zögerte an dieser Stelle, ein Student über seine Arbeit berichtet hätte und dass ich, schon auf dem Weg nach Hause, den Entschluss gefasst hatte, über die Zerstörung der Kirche eine Erzählung zu schreiben. Warum ich von einem Studenten und nicht von Rajna gesprochen habe, konnte ich mir selbst nicht erklären. Jasmin schien interessiert zugehört zu haben. Doch als ich meinen Bericht unterbrach und sie anschaute, erfolgte ihrerseits keine Reaktion, obwohl sie mir in die Augen sah.
Sekunden dauerte es, bis sie sagte: „Interessant, Pavel, und wo soll die Geschichte spielen?“
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. „Was meinst du, natürlich in der Umgebung von Leun, Solms und Wetzlar.“ „Ach so, ja natürlich.“
Was hat sie nur, fragte ich mich. Da kam Livio mit der Pizza. Als er uns einen guten Appetit gewünscht hatte, verschwand er sogleich und beide griffen wir zu, aßen das erste Achtel wie üblich aus der Hand.
Ich glaubte, Jasmin sei überhaupt nicht anwesend. Sie kaute wie automatisch auf ihre Pizza herum.
„Jasmin, was ist los? “hielt ich es nicht mehr aus. Immer noch keine Reaktion ihrerseits. „Jasmin!“ wurde ich etwas lauter. „Ja, ach so, ja, ich habe ein Kind geschlagen.“ „Wie, was? Ein Kind geschlagen?“
„Also gut, ich wollte es erst zu Hause erzählen – aber ich muss es jetzt loswerden.
Vor drei Tagen hatten wir einen Wandertag. Wir also los zum Bahnhof Westend. Kurz vor der Station, du weißt, diese viel befahrene Straße. Ich lief vorne, hielt an der Ampel, als Klaus-Dieter, der Junge von dem Lehrerehepaar, einfach weiterlief. Ich erwischte ihn gerade noch an der Schulter, riss ihn zurück, brüllte ihn an: ‘Kannst du nicht warten, du…‘. Er grinste mich an, du weißt, mit dieser Miene, die Kinder Erwachsenen gegenüber provozierend aufsetzen, und meinte abschätzig: ‚Ich gehe, wann ich will, Tante.‘ Noch immer hielt ich ihn an der Schulter fest. Da trat er mir vor das Schienbein, dass ich schmerzhaft zusammenzuckte, ihn losließ, mich aber nicht beherrschen konnte und ihm eine knallte.
‚Das sag ich meinem Papa, der es nämlich Lehrer‘, brüllte er. Innerlich immer noch erregt, blickte ich dem Bengel in die Augen und sagte betont leise und ganz langsam: ‚Und deiner Mama, die ist nämlich auch Lehrerin‘. ‚Und meiner Mama!‘ schrie er und lief erneut auf die Straße. Doch da hatte die Ampel auf Grün umgeschaltet und nichts passierte. Inzwischen hatte ich mich beruhigt. Vor dem Bahnhofsgebäude ließ ich anhalten und wartete, bis alle da waren. ‚Klaus-Dieter‘, sagte ich nun in dem Befehlston, den ich nur selten anwende, ‚ab sofort bleibst du hinten, bei Frau Lange, und immer neben ihr, nie vor oder hinter ihr, hast du mich verstanden?‘ Er antwortete nicht. Ich sah ihn an und ergänzte: ‚Tust du das nicht sofort, brechen wir die Sache hier ab, gehen nicht in den Zoo, sondern laufen zurück zum Kindergarten.‘ Er überlegte. Da meinte die Melanie, sie ist das größte und sicherlich auch stärkste Mädchen in der Gruppe, dessen Mutter Schichtarbeiterin bei Höchst ist: ‚Klausi, du Arschloch, wenn du nicht sofort machst, was sie sagt, und wir wegen dir nicht in den Zoo gehen, dann kriegst du sie auch noch von mir und das kannst du dann ruhig auch deinem Papa und deiner Mama verklickern.‘
Das wirkte. Später berichtete die Kollegin: ‚Den ganzen Tag ist er nicht von meiner Seite gewichen.‘ So, das war‘s Pavel, und jetzt ist mir wohler.“
Während ich das letzte Achtel meiner Pizza aß, dachte ich über das Gehörte nach.
„Zwei Grappa!“ rief Jasmin in Richtung der Theke.
„Was glaubst du, kann da noch etwas von den Eltern kommen?“ „Da bin ich mir ziemlich sicher.“
Entspannt saßen wir später auf unserer Couch. Ich musste noch einmal von meinem Vorhaben berichten. Jasmin bestärkte mich in meiner Absicht, nicht ahnend, dass sie damit einen Teil der Wende, unser Leben betreffend, mit eingeleitet hatte.