Читать книгу Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin - Reiner Schöne - Страница 10
ОглавлениеDie Walnuss
Es war vier Uhr morgens, sehr früh für einen Neunjährigen. Mein Vater trug meinen Koffer zum Bahnhof, und der Bahnhof war weit weg, ein paar Kilometer entfernt von meinem warmen Bett. Auch meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, den Jüngsten zum Zuge zu bringen; mein Bruder durfte weiter schlafen. An ein Taxi war nicht zu denken, außerdem hätte es um die Zeit in Weimar sowieso keins gegeben. Selbstverständlich hatte keiner in unsrer Nachbarschaft ein Auto. Und noch fuhr kein O-Bus um diese Stunde.
Es war ein kalter Herbstmorgen, meine Mutter zog die Schultern hoch und fror. Über Nacht war Schnee gefallen, sehr früh in diesem Jahr, unsere Schritte knirschten auf der weißen Pracht und noch war kein Mensch auf den Beinen, um die Wege zu räumen. Wir liefen schon eine Weile auf der Belvederer Allee Richtung Stadt und waren kurz vor der Helmholtzstraße, da ließ mein Vater einen krachen. Kein verklemmter, heimlicher Furz; ein richtig lustvoller Kracher war das.
»Aber Vati!« Meine Mutter wollte ihre erzieherische Aufgabe nicht vernachlässigen, aber da sie eine wunderbar humorvolle junge Frau war, übertönte ihr Glucksen den ohnehin gespielten Vorwurf. Ich wollte noch einen nachlegen und drückte, um meinen Vater zu entlasten, aber es wurde nichts. Nicht mal ein Rohrkrepierer gelang mir.
Eine abenteuerliche Reise lag vor mir; alleine, ohne Familie, sechs Wochen ohne vertraute Stimmen und vor allem ohne die geheimnisvollen Abendgeschichten, die wir uns immer erzählten, mein Bruder und ich. Wir hatten hinter’m Kopfende unserer Betten wundersame Gänge voller fantastischer Wesen und Abenteuer. Und da war jeden Abend was los, auch unsere Hunde waren immer dabei. Jeder hatte einen. Hunde, die unserer Fantasie entsprungen waren, und die man als Kind einfach brauchte.
Am Bahnhof wurde ich der Obhut irgendwelcher Erwachsenen übergeben, die sich auch um meine Weggefährten kümmerten, und dann stiegen wir ein in einen kalten Zug mit harten Holzbänken; die Koffer wurden in die altmodischen Gepäcknetze gehievt, und mit Geheul und fürchterlicher Rauchentwicklung zockelte der Zug nach Norden. Einen ganzen Tag lang ratterten wir durch ein kleines Land, das sich gerade von den Bombenschäden zu erholen versuchte. Die frühen Fünfziger waren eine emsige Zeit für die Überlebenden des Grauens.
Nach endlosen Stunden rumpelte der Zug ein in Sellin auf der großen Insel Rügen; ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir umsteigen mussten, aber es waren mit Sicherheit einige Male. Es war schon wieder dunkel, unser kleines Grüppchen tippelte Richtung Kindererholungs-heim, und ich merkte sofort, hier roch’s anders als in Weimar. Frischer. Ich hatte von Seeluft bisher nur gehört.
Ein mitfühlender Arzt hatte meinen Eltern die Möglichkeit verschafft, den wachsenden, dünnen Jungen ein paar Wochen lang aufpäppeln zu lassen und verschrieb mir eine Kur. Ich war pudelgesund, aber der Doktor meinte, das würde mir gut tun. Und ein Esser weniger würde das schmale Familienbudget für ein paar Wochen entlasten. Das Heimpersonal allerdings wunderte sich überhaupt nicht, was für Mengen ich in mich reinzustecken imstande war. Zehn belegte Scheiben Brot am Abend war ganz normal; die Küche hatte keinen Mangel an Proviant. Meine ganze Kindheit lang hab ich gegessen wie ein Scheunendrescher, meine Mutter sagte immer; »Am Essen wird nicht gespart.« Erst viel später hat sie mir auf ein paar bohrende Fragen hin gestanden, dass sie und mein Vater öfter mal hungrig ins Bett gegangen sind, damit wir Jungs satt werden konnten in den Nachkriegsjahren, die mit ihren immer zu knapp bemessenen Lebensmittelkarten den Überlebenden wahren Erfindungsreichtum abverlangten.
Ich war schon immer ein Geruchsmensch. Gerüche haben sich immer in Verbindung mit dem jeweiligen Ort eingenistet in mein Langzeitgedächtnis. Hier im Heim roch’s intensiv nach Kernseife, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel und Suppe. Die Beleuchtung war funzelig, die Glühbirnen waren auf sparsame 25 Watt reduziert. Aber es war eh dunkel in diesen Jahren; ich habe oft meine Hausaugaben beim Scheine der gemütlichen Petroleumlampe gemacht, wenn mal wieder Stromsperre war, damit die volkseigene Planwirtschaft genügend Energie hatte, um den Kapitalisten im Westen zeigen zu können, auf welcher Seite der grünen Grenze der bessere Staat lag. Der Geruch einer Petroleumlampe ist mir bis heute vertraut und verbindet sich mit meiner Kindheit. Durchaus positiv.
Und dann kam der große Moment. Am Morgen nach dem Frühstück ging’s ans Meer. Da lag sie, die riesengroße Ostsee; die Wellen rollten, die Fischerboote waren an den Strand gezogen, und ein paar Fischer hatten ihre Netze gespannt und flickten sie. Es roch nach allem, was mein abenteuerlustiges Thüringer Kinderherz erfreuen konnte. Es war überwältigend. Hinterm Horizont ging’s weiter, aber das konnte ich nicht sehen. Wasser, Wellen, Meer soweit man sehen konnte. Ich stand da, staunte, und der frische Wind blies in meinen offenen Mund. Am intensivsten hatte ich den Seetang in der Nase; Salz, Seetang, Sand; die Möwen kreischten und stritten sich um die Brocken, die die Fischer liegengelassen hatten. Teergerüche von den Spanten der Boote mischten sich in all die die wunderbaren Düfte hier.
Seit ich sieben war, wollte ich Seemann werden. Ich war fast am Ziel. Das war das wahre Leben hier. Sechs Wochen lagen vor mir, sechs Wochen Leben am Meer. Ich vermisste nichts; nicht die Stimme der Mutter, keine Kracher vom Vater und keine brüderlichen Fantasien um Hunde und Schätze hinter der Wand am Bett. Weimar war unendlich weit weg, Heimweh kam überhaupt nicht auf.
Wir durchstreiften die Gegend. Es war eine unbekannte Welt mit Mooren, einem geheimnisvollen See, Buchenwäldern und jeden Tag wieder der Strand. Wir suchten Bernstein, wühlten im angeschwemmten Seetang herum; es war jedes Mal aufregend, wenn man wieder einen gelblichen Stein gefunden hatte; aber dann wars eben doch nichts anderes als das, ein Stein. Die Taschen waren voll von sandigen Muscheln, die nach einigen Tagen einen gefährlich rottigen Geruch verströmten.
Unter der Seebrücke wars immer spannend, die Wellen liebkosten die Pfeiler, und ich verliebte mich. Nicht in eine Meerjungfrau, sondern in Gerlinde. Im Bett neben mir lag mein neuer Freund Ulli, und wir merkten, dass wir uns beide in Gerlinde verliebt hatten. Gerlinde hat das nie erfahren; sie hätte uns beide haben können, aber wir waren viel zu schüchtern, um sie einzuweihen in unsere Schwärmereien. Wir wären eh zu jung für sie gewesen, sie war ja schon elf.
Es wurde langsam winterlicher, der Nikolaustag kam, und wir kriegten kleine Leckereien. Eine Nuss hatte es mir besonders angetan, eine Walnuss. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Walnuss gegessen, oder ich hatte doch und erinnerte mich an den köstlichen Geschmack, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schenkte ich dieser Walnuss meine unerwiderte Zuneigung. Ich knackte sie nicht, ich trug sie mit mir herum, roch an ihr, leckte sie ab, versuchte, sie in meinen neunjährigen Mund zu stecken. Was für eine Köstlichkeit! Die Erinnerung an diese eine Walnuss hat mich mein Leben lang begleitet.
Und dann, Wochen später, fasste ich mir ein Herz und knackte sie. Ganz langsam, Viertel für Viertel steckte ich sie in den Mund und genoss, wie ich nie wieder eine Walnuss genossen habe.
Killarney, Irland, 30. Juni 2007