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Mahalia Jackson und die Folgen

Wie immer fing alles an mit »When the Saints go marchin’ in«. Dem fast zum Karnevalsschlager verpopularisierten Spiritual, das jedes Kind mitgrölen kann. Ich hab vor ein paar Jahren in der »Preservation Hall«, der ältesten Jazzkneipe von New Orleans, ein Schild gesehen, über der Bühne, eine Warnung für’s touristische Publikum: »Requests 20 Dollars, ,When the Saints go marching in’ 100 Dollars.« Schmerzensgeld für die alten Dixieland-Herren, die, wenn sie den Song schon zum drei-millionsten Male spielen müssen, wenigstens pekuniär dafür gestreichelt werden wollen.

Aus der Skiffle-Zeit der Fifties und frühen Sixties kannte man natürlich auch noch andere Spirituals wie »Down by the Riverside« oder »We shall not be moved«, und als ich später des Englischen mächtig war, merkte ich erstmal, was für einen phonetischen Schwampf man damals zusammengesungen hatte. Wir hatten uns die Texte ja ausschließlich von Platten oder Radiomitschnitten abgeschrieben und eben das meiste gar nicht wirklich identifizieren können. Noch heute singe ich manchmal so paar Textzeilen vor mich hin und denke mir, yikes, was für ein phonetisches Schlachtfest hab ich damals veranstaltet. Aber mit Gefühl und sehr viel Begeisterung. Und gemerkt hat’s eh keiner.

Nach und nach legte ich mir ein kleines Repertoire an Negro-Spirituals zu, wie das damals hieß. (Heute wär das nicht mehr politically correct.)

4. April 1961. Ich war nach Westberlin getrampt von Weimar, meiner jetzt wieder so schönen Heimatstadt. Damals ging das ja alles noch ganz easy; ein paar Monate später wurde die Mauer gebaut. Obwohl der kleine Sachse mit dem Spitzbart und der Fistelstimme auf der berühmt gewordenen Pressekonferenz am 15. Juni auf die Frage von Annamarie Doherr von der »Frankfurter Rundschau« doch versprochen hatte: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.«

Am 4. April jedenfalls gab Mahalia Jackson ein Konzert. Und ich musste natürlich dabei sein. Mahalia Jackson war die Größte, die Göttin der Musik, die ich so liebte. Das Konzert fand in der in der Deutschlandhalle statt. Fast auf den Tag genau elf Jahre später, stand ich auf derselben Bühne als Jesus in der deutschen Erstaufführung von »Jesus Christ Superstar«. So schließt sich manchmal der Kreis.

Ich wollte natürlich mehr als nur das Konzert erleben, ich wollte nicht nur ein Autogramm von Mahalia Jackson, ich wollte mit ihr sprechen. Sie sehen. Hautnah. Ich schlug mich also durch die Barriere von tausend Ordnern und Abschirmern und stand plötzlich vor dem Konzertveranstalter.

»Ich komme aus Weimar und möchte Mahalia Jackson sprechen.« Ging nicht. Da könnte ja jeder kommen.»Mahalia Jackson kann vor’m Konzert nicht gestört werden. Sie betet.«

Ich ließ nicht locker. »Und nach dem Konzert!?« Er wimmelte mich ab. »Kannst es ja versuchen. Komm danach wieder hierher.« Was ich als Versprechen nahm und frohen Mutes meinen Sitz suchte in der Riesenhalle.

Dann kam sie auf die Bühne. Applaus. Setze sich in ihrer majestätischen Fülle ans Piano und spielte. Plötzlich kam ihre Zwillingsschwester auf die Bühne. Auch im langen Abendkleid. Noch mehr Applaus. Ich saß so weit weg, dass ich gar nicht mitgekriegt hatte, dass die erste Mahalia gar nicht Mahalia war sondern ihre Pianistin. Mildred Falls. Und dann groovten die beiden, dass die Deutschlandhalle wackelte. Keine Band, nur zwei dicke Damen mit viel Soul. Was für eine Stimme! Ich kriege noch heute eine Gänsehaut, wenn ich an den Abend denke. Bei der letzten der hundertfünfzig Zugaben ging die Godess of Gospel langsam von der Bühne, weit weg vom Mikrofon, sang weiter und füllte die Halle auch ohne Technik.

So, nun ging ich natürlich backstage; aber erst mal musste ich ja wieder an den Ordnern vorbei, die ihren Job sehr ernst nahmen. Mein Mantra war immer wieder: »Ich soll nach dem Konzert hierher kommen, der Chef hat gesagt, ich könnte zu Mahalia Jackson in die Garderobe.« No way. Nix ging. Aber ich blieb stur, bis einer sagte: »Hier, der kommt aus’m Osten, bring ihn in die Garderobe zu Miss Jackson.«

Und dann saß ich ihr gegenüber. Und radebrechte in schlechtem Englisch. Ehrfurcht und Dankbarkeit. Sie hatte gerade zwei Stunden gesungen und alles gegeben – und jetzt nahm sie sich Zeit, mit mir eine geschlagene Viertelstunde alleine zu reden. Das ist Größe. Ich sagte ihr: »Nächste Woche machen wir in Weimar das erste Gospelkonzert,« und sie wünschte mir Glück, und ich sollte das Publikum von ihr grüßen. Dann ging ich, reihte mich ein in die Reihe der Fans; sie kam auch raus und winkte mir tatsächlich noch persönlich zu, was mich in den Augen der anderen adelte.

Ich bin zu meinen Freunden, bei denen ich wohnte, gelaufen. Ziemlich lange hat das gedauert in dem großen Westberlin. Aber ich lief wie auf einer Wolke.

Und es war eigentlich kein wirkliches Gospelkonzert, es war ein Jazzkonzert, das erste in der Geschichte Weimars. Aber wir haben immerhin ein paar Gospelnummern gespielt. Und ich hab die Weimarer gegrüßt von Mahalia Jackson, was mir einen fetten Sympathiepunkt eingebracht hat.

Cut. Zeitsprung. Sommer 1963. Wir saßen am Lagerfeuer, auf dem Zeltplatz in Prerow. Dem Inbegriff der DDR-Ferienträume, dem beliebtesten FFK-Gelände der Welt. Ich schrubbte meine Gitarre, und alles sang mit. Auch so unheilige Songs wie den zeitlosen Hit »Tom Dooley« und so was. Und es wurde die Idee geboren, ich sollte in der Prerower Seemannskirche ein Konzert geben mit Gospelsongs und Bluesen. Am nächsten Morgen begeisterte ich den Pastor dafür; eine nicht ganz unmutige Entscheidung des Pfarrherren, in Zeiten des tiefsten Sozialismus, seine Kirche einem ungewissen Abenteuer zu öffnen.

Es wurde ein Termin festgesetzt, ich glaube, es war eine Woche später an einem Donnerstag. Aber: wie kriegen wir die Leute da rein, wie machen wir Werbung dafür? Wer liest schon die Ankündigungen im Schaukasten vor der Kirche?! Da kam uns der geniale Geistesblitz. Wohin geht jeder mindestens einmal am Tag? Und hat Zeit und Muße, einen Hinweis zu lesen? Auf’s Klo.

Wir schrieben mit der Hand so fünfzig Miniposter, verteilten sie an allen möglichen Ecken des Zeltplatzes, und auch in jeder der kleinen Bretterbuden mit dem Donnerbalken klebte die Mitteilung: Donnerstag, 20. August 1963, 20 Uhr – Reiner Schöne singt Spirituals und Blues in der Seemannskirche Prerow. Die Zettel prangten an der Innenseite der Klotüren, einen halben Meter vor den Augen der Erleichterung Suchenden.

Es wurde ein Werbeerfolg der Spitzenklasse! Ich kam kurz vor halb acht in die Kirche, da waren schon ein paar hundert Leute da, einige saßen beim Altar auf den Seitenbänken, ergo hinter meinem Rücken.

»Setzt euch mal lieber woanders hin, so seht ihr mich ja nur von hinten,« bat ich.

»Ach so, wir dachten, Sie singen da oben mit der Orgel.« Von wegen Orgel. Dann bin ich noch mal raus gegangen, und als ich mit dem Pfarrer und seiner Familie um acht die Kirche wieder betrat, dachte ich, mich trifft der Schlag. Die Kirche war rappelvoll, über 600 Leute waren gekommen, überall standen und saßen sie, und natürlich war auch der Altarraum hinter mir wieder voll.

Ich kriegte Panik. Da hatte ich mir ja was eingebrockt. Ich hatte noch nie in meinem Leben alleine ein Konzert bestritten, kein Mikrofon, kein Verstärker an der Gitarre, nur ich und meine große Klappe. Ich war buchstäblich von der eigenen Latrinenpropaganda überrollt worden. Die einzigen Mikrofone, die ich sah, waren die von Radio DDR, Sender Rostock, der den Abend mitgeschnitten hat. Ein Ü-Wagen stand vor der Tür.

Also gut, ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und redete und sang und erklärte den Leuten, was Spirituals sind, Gospelsongs; wo der Blues herkommt und haute in meine kleine schäbige Gitarre. Die Stimmung war unbeschreiblich. Das Publikum war voll auf meiner Seite, es war ein Riesenerfolg, und meine Angst machte einem Glücksgefühl Platz, das ich heute noch abrufen kann.

Aber dann, am Ende, bat ich die Leute aufzustehen und mit mir das Vaterunser zu beten. Gemurmel, Verunsicherung, nanu, was ist das denn?! Und natürlich wurde das Ganze nie gesendet, dem Sender war das zu viel christliches Gedöns, da kam sicher der Anschiss von der Partei, und die Bänder verschwanden im Archiv. Wenn überhaupt. Schade, da hätt ich heute gerne eine Kopie davon.

Ich kriegte dann noch eine Menge Einladungen, in anderen Kirchen zu singen und wanderte mit der Gitarre auf dem Rücken von Ort zu Ort. Ich fühlte mich wie Paulus, der Wanderprediger.

Ein paar Wochen später in Putbus auf Rügen. Null Werbung; es saßen genau sieben alte Damen in der Kirche. Sieben! Hier gabs offensichtlich keine Toilettenhäuschen. Ich zog mit der Schar der sieben Aufrechten gleich nebenan in die kleine Kapelle und legte los. Eine Achtzigjährige sah die ganze Zeit grimmig aus und kuckte so verquält.

»Ist es Ihnen zu laut?« fragte ich freundlich. Sie legte die Hand ans Ohr und rief zurück; »Wie bitte?« Mit der Lautstärke einer Schwerhörigen. Kleines Gelächter. Aha, das wars.

Viele Jahre später, so 1988 war das, ich hatte noch immer keine Greencard, wohnte aber schon seit ein paar Jahren in Los Angeles, und jede Einreise aus Europa wurde zum Eiertanz; ich wollte natürlich mein Sechs-Monats-Visum wieder haben. Was immer von der Gnade der Einwanderungs-Beamten abhing. Jeder, der schon mal in Amerika war, kennt den Zirkus und die oft nicht sehr freundlichen Gesichter an den Schaltern. Man fühlt sich ausgeliefert und hilflos. Da ist immer der Verdacht von Illegalität, will der etwa hier bleiben? Und arbeiten? Also stellen sie einem tausend blöde Fragen.

Diesmal war ich an eine sehr korpulente schwarze Lady geraten. Das hatte ich immer vermieden bisher, ich kannte genug schwarze Rassisten, die mir kleinem White Boy das Leben schwer machen wollten. Also Miss Officer machte keinerlei Anstalten, mir das Leben leicht zu machen, die Einreise. Irgendwann wurde’s mir zu bunt und ich sagte ganz cool: »By the way, Ma’m, I used to sing Gospels in East German churches.«

Pause, sie kuckte mich an, und ein Lächeln erhellte ihr Gesicht: »Oh really?« Sie knallte mir den ersehnten Stempel aufs Papier, gab mir meinen Pass zurück und sagte strahlend: »Have a nice time in America.«

Thank you Mahalia.

Irgendwo an der Ostsee, 8. November 2007

Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin

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