Читать книгу Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin - Reiner Schöne - Страница 14
ОглавлениеHeldenvater
Ich hab einen Korken im Mund und versuche, Schiller zu sprechen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich merke, wie komisch das Ganze ist. Demostenes, der altgriechische Orator, hatte sich Kieselsteine in den Mund gesteckt und gegen die Wellen des Meeres angekämpft, um seine Artikulation fit zu machen für seine großen Volksreden weiland auf dem Peloponnes. Und darunter muss ich heute leiden.
Ich bereite mich auf die Eignungsprüfung zur Schauspielschule vor. Nachdem mir Inge vor zwei Jahren die Seefahrerei gründlich ausgeredet hatte, biss mich irgendwann der Schauspiel-Bug, und nun will ich’s wissen. Inge sitzt zwar immer noch ein paar Bänke vor mir in derselben Klasse, aber unsre Lebensplanung sieht keine Gemeinsamkeiten mehr vor. Leider.
Ich bekämpfe mit Hilfe einer Professorin für Sprecherziehung meine Thüringer Vokale, und sie schickt mich auch noch zu einem veritablen Mimen zum Schauspielunterricht. Abitur mach ich so nebenbei, ich brauch eh immer nur von Pit abzuschreiben für meine exquisiten Zensuren. Von Pits Talenten haben zwei Bänke vier Jahre lang profitiert, und er hat’s später folgerichtig zum Universitätsprofessor gebracht.
So, und nun steh ich vor der altehrwürdigen Eichentäfelung des Boudoirs im Maria-Seebach-Stift, einem wunderbaren Altersheim für die Künstler des Deutschen Nationaltheaters Weimar, mit einem ordinären Flaschenkorken zwischen meinen Zähnen und darf erst mal nur ein einziges Wort hervorbringen. »Hört....«. Aber ein »Hört« von Schiller, also ein ganz besonderes »Hört«. Hintendran hängt nämlich eine ellenlange Rede, die Rede des Alten Stauffacher; der Kenner erkennt »Wilhelm Tell«. Wilhelm-Hinrich Holtz, der Kurator des Heims, der große Mime des Nationaltheaters, der Staatsschauspieler, hat mich vor drei Tagen unter seine Fittiche genommen und mir aufgetragen, diese Rede zu lernen. Ein Blick auf meine 1,95, und der Meister sagt: »Sie sind kein Jugendlicher Held, auch kein Jugendlicher Liebhaber, Sie werden Heldenvater.«
»???«
Mein Zuchtmeister erklärt mir die theatralischen Schubladen: Romeo wird vom Jugendlichen Liebhaber des Ensembles gespielt, Hamlet vom Jugendlichen Helden. Komische Alte kommt nicht in Frage für mich, aber ich nähere mich im Laufe der nächsten Wochen bedenklich dem Komiker. Was mir jetzt noch nicht so klar ist. Als ich begreife, was ein Heldenvater ist, wage ich einzuwerfen, dass ich doch erst Achtzehn sei. Argument abgeschmettert. Wilhelm-Hinrich ist Charakterkomiker und wiegt satte 200 Kilo. Ich bin erst bei 70 Kilo und bei meiner Länge sehe damit aus wie ein Ehringsdorfer Spargel. Der Meister ignoriert das: »Sie müssen an Ihre Zukunft denken!« Und so lerne ich sie auswendig, die Rede des alten Stauffacher auf der Rütli-Wiese, wo dann später geschworen wurde. Schiller hätte seine Freude an mir gehabt. Ich intoniere »Hört, was die alten Hirten sich erzählen« mit Pathos und allen falschen Tönen, derer ich mit meiner eben erst erwachten Theaterleidenschaft mächtig bin.
Wilhelm-Hinrich unterbricht immer wieder. Geduldig, aber entschieden. Stets voller Güte. Und korrigiert. »Hööört...« Sein ö ist mehrsilbig, es geht erst hoch, dann langsam runter, es dauert drei Sekunden. Mindestens. Der Korken zittert. »Hööört...« Ich bin begeistert. Das ist Theater! Davon bin ich noch weit entfernt. Am dritten Tag ist er zufrieden, ich darf jetzt weitersprechen.
Irgendwann sind wir durch. Nach vielen Wochen. Ich bin Deutschlands jüngster Heldenvater. Auch der dünnste. Pappa Wilhelm-Hinrich erklärt mich reif für die Aufnahmeprüfung, und ich fahre mit großen Erwartungen nach Babelsberg. Zur Filmhochschule. Natürlich haben wir noch, wie verlangt, zwei Ausschnitte aus anderen Rollen vorbereitet, aber meine große Nummer ist die Rede des alten Stauffacher vor’m Rütlischwur.
Ich werde auf die kleine Studiobühne der Schule gebeten, stelle mich vor und finde alles wahnsinnig aufregend. Das Adrenalin pumpt mich glücklich; ich bin dem Ziele ganz nahe.
»So, was sprechen Sie denn vor?« Sechs mir unbekannte Gesichter, Prüfer junger potentieller Schauspieltalente, wenden sich mir zu. Professionell, routiniert, schließlich bin ich nur einer von viele Prüflingen heute.
»Als erstes möchte ich eine Szene aus ’Wilhelm Tell’ vorspielen,« die Prüfer haben schon erwartungsvolle Fragezeichen in den Augen, »und zwar« – kleine Pause, um die Spannung zu steigern, mein Timing ist vom Feinsten – »die Rede des alten Stauffacher ‚Hört, was die alten Hirten sich erzählen’.«
Die Prüfer sind einiges gewöhnt, es gibt da die absurdesten Zurschaustellungen. Der Chef fragt, bisher nur rudimentär verwundert: »Warum haben Sie sich ausgerechnet diese Rolle ausgesucht?«
Und nun kommt meine wohl vorbereitete Erklärung: »Ich möchte Heldenvater werden.«
Selbst die allergrößte Höflichkeit hält keinen da unten zurück. Gepruste, Gelächter; wann immer ich an diesen Moment zurückdenke, glaube ich, das Gejohle meines Lebens gehört zu haben. Als Ruhe eingekehrt ist, lege ich los. Und röhre, töne, rufe; mit aller Power meines jungen Talents. Aber dann komm ich gar nicht mehr zu den nächsten beiden Rollen, ich werde gebeten, zu einem Gespräch unter vier Augen zum Chef der Kommission nach unten zu kommen. Kein Kommentar zu meiner Vorstellung eben, nur eine einzige Frage. Klein, kalt. Sachlich. »Glauben Sie, dass Sie eine positive politische Beurteilung von Ihrem Schuldirektor bekommen werden?«
Darauf war ich ja nun gar nicht gefasst. »Ich glaube schon«, sage ich.
»Ich glaube nicht«, sagt er.
»Wieso?«
»Ich hab sie schon. Sie ist gar nicht gut. Wir können Sie nicht aufnehmen. Selbst wenn wir wollten.«
Die Kälte kriecht mir über den Rücken. Aber es kommt noch schlimmer. »Sie dürfen sich auch nicht an einer anderen Schauspielschule bewerben dieses Jahr, Sie müssen ein Jahr warten, aber wir werden Sie auch dann nicht nehmen.«
Originalton unseres Schuldirektors: »Demjenigen, der Künstler werden will, werfe ich Knüppel zwischen die Beine, bis er strauchelt. Wenn er sich trotzdem durchsetzt, dann hat er in meinen Augen das Zeug dafür.«
Ich denke mir, einen so großen Knüppel, über den ich straucheln könnte, kann der gar nicht werfen,. Und komme am Rosenmontag in die Schule mit superblond gebleichten Haaren. Als Prä-Punk. So was hat’s hier noch nie gegeben. Woraufhin sich Bob und Ulli auch gleich zum Friseur begeben, der Aufruhr eskaliert zum Wahnsinn. Mein Direktor nimmt das zum Anlass, sich jetzt den fettesten Knüppel für mich abzuschneiden. Als Monate später alle ihre Abizeugnisse erhalten, in einer wunderschönen Feierstunde in der Aula mit allen Eltern, da ist bis zur letzten Minute nicht klar, ob er mir meins überhaupt aushändigen wird. Immer wieder hatte er in den vier Jahren Penne versucht, mich von der Schule zu expedieren (wegen politisch motivierter Aufsässigkeit.) Und immer wieder hatte die Diplomatie meiner Mutter meinen Arsch gerettet. Aber jetzt sieht es ganz danach aus, dass ich ohne Abiturzeugnis die Schule verlassen werde. Und diesmal rettet mich mein Klassenlehrer.
Mir werden dann später immer wieder die Knüppel irgendwelcher ferngesteuerter Machtinhaber zwischen die Heldenvaterbeine geworfen. Die meisten haben nicht getroffen. Und einige hab ich mir selber geworfen.
Aber man hat ja früh gelernt, über sich selbst zu lachen. »Hööört, was die alten Hirten sich erzählen.«
Berlin, 11. Mai 2004
Reiner Schöne als Hamlet - 1975