Читать книгу Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin - Reiner Schöne - Страница 12
ОглавлениеSweet little Sixteen
Seemann wollte er werden. Kapitän, oder Steuermann. Irgendwie klang Steuermann besser. Steuermann ist wichtiger als Kapitän. Ein Kapitän befiehlt nur rum, der Steuermann aber macht das Ding. Er ist eindeutig der Macher an Bord. Sagte ihm seine kindliche Seele und ließ ihn Schiffe malen. Aus Lexika, aus Abenteuerbüchern; kein Abbild eines Schiffes war vor ihm sicher. Aber es mussten Segelschiffe sein, am liebsten malte er die »Gorch Fock«. Nichts unter einem Dreimaster. Und er las jedes Buch, in dem ein Segel gerefft wurde.
»Na, was willst du denn mal werden?« Die Standardfrage, mit der jedes Kind gepeinigt wird, oder motiviert, je nachdem, diese Frage konnte er ohne rumzurudern beantworten.
»Seemann. Steuermann.« Zehn Jahre lang. Andere gehen durch die Stadien ihrer Berufswahl. Erst Feuerwehrmann, dann Lokomotivführer wie sein Freund Ede, den sie »Laubfrosch« nannten wegen des grünen Anzugs, den Edes Mutter handgenäht hatte in diesen schweren Zeiten. Edes Opa war bei der Bahn; Ede spielte mit Modelleisenbahnen. Er, sein Freund malte Schiffe.
Dann kam Inge in sein junges Leben. Inge war seine erste Liebe und hatte keine Lust, ihr Leben als Dauer-Strohwitwe zu verbringen. »Wenn du auf See bist, dann bin ich ja immer alleine.« Recht hatte sie. »Was mach ich denn da?« Inge war gerade sechzehn und dachte weiter als bis zum Horizont.
»Stimmt, da hast du Recht.« Er dachte nach. Die Kastanienbäume blühten auf der Allee zum Schloss, er atmete ihren Duft ein. Inges Duft. Er liebte ihren Geruch.
Zwei Minuten später warf er den Traum seiner ganzen Kindheit über Bord. »Dann werd ich eben nicht Seemann.«
Liebe macht blind, aber sie bewahrt einen vor der Seekrankheit.
Sie standen vor dem Möbelgeschäft am Herderplatz und sahen die Nierentische. Die Schwanenhals-Lampen im Trio und das türkise Sofa. Noch drei Jahre bis zum Abitur, noch drei Jahre, bis die Glocken läuten würden.
Die Rock’n’Roll Heros ihrer kleinen Stadt ließen es krachen. Was man so krachen nannte in der Zeit, bevor 120 Dezibel das Maß aller Dinge wurden. Der Spruch »If the music’s too loud, you’re too old« war noch weit weg. Sie tanzten engumschlungen zu Schmuseklängen; er renkte ihr den Arm aus und trat ihr auf die Füße beim Rock’n’Roll der ersten Stunde, und sie waren glücklich.
Er hatte keine Ahnung, was er nun statt Seemann werden sollte. Inge war alles recht, solange es ihn in ihrer Nähe hielt.
Tanzstunde. Geht heute noch jemand zur Tanzstunde?! Wer nicht geht, verpasst die Romantik der ersten Liebe. Der Konfirmationsanzug tut‘s noch, dachten die Eltern, aber er sah in den Hochwasserhosen aus wie Elvis für Arme. Zehn Zentimeter ist er gewachsen in den zwei Jahren. Inge jedenfalls hatte ein Tanzstundenkleid und sah aus wie eine Braut. Schön.
Wieder gingen sie am Schaufenster mit den Nierentischen vorbei. Träumten, küssten sich, und noch immer wurde er nicht Seemann, noch immer wusste er nicht, was er werden sollte. Der Traum der ersten Jahre verblasste irgendwo zwischen Nirwana und Abitur.
Zwanzig Jahre später. Klassentreffen. Die Nierentische stehen irgendwo rum, wahrscheinlich bereits auf dem Flohmarkt, Inge trägt eine Perlenkette und ist immer noch schön. Und sie hat einen Eherring am rechten Ringfinger.
Er nicht.
Im ICE zwischen Hamburg und Berlin, 28. 11.01