Читать книгу Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin - Reiner Schöne - Страница 16
ОглавлениеOrpheus steigt herab und rein in den Hootenannyklub von Ostberlin
Ich war ihnen geradezu in die Arme gelaufen. Ich war für sie genauso der Jackpot, wie sie für mich. Möglicherweise wären sie auch ohne mich ausgekommen; für mich jedenfalls war’s der Sechser im Lotto; von dem Tag an war mein Leben nicht mehr dasselbe; es war besser. Sehr viel besser.
Irgendwann am Ende der Steinzeit, im Frühsommer 1965 hatte ich den festen Vorsatz, mein sicheres Leben aufzugeben. Ich wollte raus. Raus aus der Geborgenheit des Theaters der kleinen Städte. Meine Perspektive war, nach dem Engagement am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau, meinem ersten gleich nach der Schauspielschule, nach Rudolstadt zu gehen, von dort nach Meiningen, dann nach Karl-Marx-Stadt, um nach vielen Jahren – vielleicht - irgendwann im Mekka der Theaterkunst anzukommen: In Berlin, der Hauptstadt der DDR.
Aber es gab eine Abkürzung. Ich hörte, das Fernsehen hätte ein Ensemble; ich meldete mich zum Vorsprechen an, neudeutsch Casting und trampte nach Berlin. Ich hatte von einem Stück gehört, das in Rostock lief. Es spielte in den Südstaaten Amerikas, und ein Bluessänger namens Val Xavier war die Hauptfigur: Tennessee Williams’ »Orpheus steigt herab«. Ich war elektrisiert; der Blues, das war seit langem meine Musik. Ich hatte mir blaue Gitarren-Licks aus den Fingern gesaugt, ich lernte von Westplatten, an die man schwer rankam, aber man kriegte sie. Das war die ideale Rolle fürs Casting in Adlershof, dem Sitz des Fernsehfunks der DDR. Da könnte ich ganz legitim die Schauspielerei mit der Musik verbinden und denen zeigen, dass ich auch singen kann. Und Gitarre spielen. Ein guter Plan.
Ich kam, sah und spielte meine Szene aus dem Stück, streichelte und peinigte die Saiten meiner Gitarre, intonierte die Blue Notes, wie ich sie von Ray Charles und Jimmy Witherspoon gelernt hatte, von Snooks Eaglin und Joe Turner, Sonny Terry und Brownie McGhee, von allen meinen schwarzen Helden der schwarzen Rillen im Vinyl; der Blues und ich waren eins.
Hubert Hölzke, Regisseur und offenbar der Chef der Kommission sah mich an und schwieg. Dann kamen die Worte, die ich mein Leben lang nicht wieder vergessen sollte: »Sie schickt uns der Himmel.«
Ich verstand nichts.
»Wir suchen seit Monaten einen Mann, der Blues singen und Gitarre spielen kann. Der beides ist, Schauspieler und Sänger. Wir haben ihn gerade gefunden.«
»Was haben Sie vor?« fragte ich noch immer ahnungslos.
»Wir wollen »Orpheus steigt herab» fürs Fernsehen machen, aber wir hatten bis vor fünf Minuten keinen Val Xavier. Haben Sie Zeit im August, September?«
Ich fiel aus allen Wolken. »Ja,« sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. »Aber ja.«
Ich hatte natürlich keine Zeit, ich war verdammt noch mal unter Vertrag, ich musste im August auf der Freilichtbühne mindestens drei Rollen spielen, wie sollte ich das hinkriegen!?
»Ihre Partnerin wird Gisela May sein.«
Das wird ja immer besser: Gisela May! Ich musste das machen, ich musste raus aus meinem Theatervertrag. Ich sagte zu allem Ja und Amen, was mir der Regisseur sagte und fuhr verwirrt nach Zittau zurück. Mit der Bahn, das leistete ich mir jetzt.
Und ich werde es den Zittauern nie vergessen, sie ließen mich raus, sie verbauten mir nichts. Nur noch ein paar Vorstellungen Open Air, dann Adios und ab in die große weite Welt. Nach Ostberlin.
Aber erst mal machte ich eine gründliche Recherche. Als diplomierter Absolvent des Schauspielstudios des Deutschen Nationaltheaters zu Weimar hatte ich ja gelernt, wie man sich auf eine Rolle vorbereitet. Da galt’s erst mal den Überbau, den Unterbau, den historischen Hintergrund, die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Wo und Wohin, das Warum und Woher zu sichten, zu klären; das ganze kopflastige Gebäude, um eine Rolle zu erarbeiten; ergo, bevor man die erste Zeile Text lernte, musste erst mal die Dramaturgie klar sein. Es dauerte Jahre, bis ich mich von dieser Kopflastigkeit befreit und den Beruf in die richtigen Proportionen gebracht habe, um dann aus dem Bauch raus zu spielen. Und nicht immer alles intellektuell zu hinterfragen. Eigentlich hab ich mich erst mit »Hair« freigeschwommen und begriffen, was Acting heißt. Nämlich eine bestimmte Figur in einer bestimmten Situation glaubhaft rüberzubringen. That’s it. Mehr ist es nicht. Simpel. Für »Acting« gibt’s ja noch nicht mal ein adäquates deutsches Wort. Schau-spielen triffts nur halb. Bei »Schauspielern« dreht sich mir immer der Magen rum. Das klingt nach Laienspiel und Muff.
Zurück in die Vergangenheit, noch war ich in Zittau. Und fuhr nach Leipzig. Wieder mit der Bahn; Trampen war für die Mittellosen, ich war ja bald reich. Also ich reiste nach Leipzig zur Deutschen Bücherei. Ein ganz erstaunliches Institut; die haben alles gesammelt, was je in deutschen Landen in der Muttersprache gedruckt ward. Mit meinem Textbuch von »Orpheus steigt herab« erschien ich an der Pforte und wollte alles lesen, was es über Tennessee Williams und sein Werk zu lesen gab. Ich hätte genauso gut nach den geheimen Unterlagen der Freimaurer fragen können, das wäre nicht schwieriger gewesen. Was ich wollte, lag nicht einfach offen rum, für jedermann einsehbar. No way, José; was ich lesen wollte, lag im Giftschrank. Ein Bibliothekar schritt vor mir her, schloss Türen auf und hinter uns wieder zu, bis wir zum Allerheiligsten kamen. Dann wurden Mappen mit Zeitungen vor mir aufgehäuft, die zu lesen einer Sondergenehmigung bedurften. West-Zeitungen. Gift.
Ich las und lernte, machte mir Notizen und verließ nach ein paar Stunden das Haus auf demselben komplizierten Weg.
Dann begannen endlich die Proben in Berlin, und ich war in dem Himmel, aus dem ich geschickt worden war. Ich kriegte einen Vorschuss, holte mir von der Bank ein Bündel Zehnmarkscheine und steckte sie in die Brusttasche meines Hemdes, die ich jederzeit wieder auffüllen konnte. Symbol meiner neuen Unabhängigkeit.
Ich war frei. Ich war an keinen langfristigen Vertrag gebunden, ich konnte alles machen, was ich wollte. Ich hätte als Müllmann arbeiten können, wenn mir der Sinn danach stand; zum ersten Mal in meinem jungen Leben war ich wirklich frei. So empfand ich das.
Gisela May holte mich immer mit ihrem Westwagen ab, einem mörder Ford Taunus. Für mich als Trabbikind, für das ein Wartburg schon das Non Plus Ultra war, war das wie ein Rolls Royce. Wir alberten rum, fielen in den Kurven verkehrsgefährdend aufeinander; es waren fröhliche Wochen. Wir hatten, wie am Theater, ein paar Wochen lang Proben. Dann gab’s erst mal eine vierwöchige Pause, weil La May eine Tournee im »kapitalistischen Ausland« hatte (was war die DDR-Terminologie doch verschroben). Ich fuhr ins Zittauer Gebirge zurück und spielte auf der Freilichtbühne in Oybin.
In einer Nachmittagsvorstellung auf den Felsen im unwegsamen Gelände passierte’s dann. Ich knickte um, KRRRXXX und landete im Krankenhaus. Ich hatte mir das Bein gebrochen. Zwei Wochen bevor ich wieder in Berlin sein sollte. Eine Woche lag ich mit dem Bein im Gips in der Klinik und war am Boden zerstört.
Aber der Schutzheilige der Mimen ließ mich nicht im Stich, das neue Röntgenbild zeigte nur eine leichte Fissur, nicht wirklich einen Bruch. Da hatte die Ärztin wohl ihre Brille nicht auf bei der Diagnose. Ich durfte gehen, ich konnte gehen, am Stock noch, aber ich konnte. Halleluja!
Zurück nach Berlin, zurück zu den Proben, zurück in die große abenteuerliche Welt.
Dann wurde endlich aufgezeichnet. Ein paar Tage lang. Mit vier riesigen Ampexkameras. In den Studios in Johannisthal. Die Takes waren nicht vergleichbar mit kurzen Filmtakes, es waren so zehn Minuten lange Segmente. Für mich Neuling war das wie Theater. Ohne Publikum. Und da wir ja tatsächlich noch in der Steinzeit lebten, musste nach jeder dieser für heutige Verhältnisse endlos langen Einstellungen das Regieteam nach Adlershof fahren, um sich das anzusehen. Das dauerte immer ewig. Gisela May durfte natürlich mit, wir anderen warteten, bis die Gang wieder zurück kam und das Urteil verkündete.
»Gestorben, nächste Szene bitte.« Ich war bodenlos enttäuscht. »Wie, wir können das nicht noch mal spielen, das wars schon?« Alle kuckten mich an, als ob ich komplett meschugge wär. »Sei doch froh, dass es gut war und die Szene im Kasten ist.« Besonders Gisela May sah mich an, also ob ich vom Mond käme. Ich kam ja auch vom Mond. Das Theater war mein Mond, und da gab’s Proben, dann die Premiere und dann viele Vorstellungen, in denen man die Chance hatte, immer besser zu werden, immer mehr Spaß an der Rolle zu haben. Und nun war die Premiere auch gleich die letzte Vorstellung. Das gefiel mir nicht. »Ich möchte das aber gerne noch mal machen,« maulte ich. Und kam nicht durch. Gestorben ist gestorben. Wir machen hier kein Theater.
Irgendwann gab ich meine kindischen Wünsche auf und war dankbar, dass sie mir Komplimente machten. Ich war ja so käuflich.
Die Rolle war mein Break im Osten; ein paar Monate später lief das Fernsehspiel auf dem Schirm; es war der Beginn einer produktiven und schönen Zeit. Die keine drei Jahre dauern sollte.
Ich war ursprünglich zum Casting getrampt, um einen festen Vertrag zu bekommen beim »Ensemble des Deutschen Fernsehfunks«.
»Den würden wir Ihnen auch gerne geben, aber wir haben keine Vakanzen mehr. Aber…« ich hatte schon die Ohren hängen lassen, »Sie werden ein ,frei-fester’ Schauspieler bei uns, ohne Vertrag, jedoch mit der Zusicherung, dass wir Sie auch beschäftigen.« Das kriegte ich schriftlich.
Gut. Sehr gut, denn sonst hätte ich keine »Zuzugsgenehmigung« nach Berlin bekommen. Wir schrieben das Jahr 1965 im ultrabürokratischen Arbeiter- und Bauernstaat. Da konnte man nicht einfach von A nach B umziehen ohne staatliche Absegnung.
Es war die Steinzeit.
Als wunderbares Nebenprodukt dieses Deals konnte ich meinem Wehrkreiskommando in Zittau entfliehen; als sie mich dann in Köpenick gefunden hatten nach ein paar Monaten, war ich schon in Karlshorst. Solche Lücken im System gab’s schon. Sonst hätten sie mich vielleicht doch noch shanghaied. Und ich hätte, statt Filme zu drehen, die Panzerketten der Nationalen Volksarmee geölt. Wahrscheinlich wäre es eher der Dienst mit dem Spaten gewesen. Auch verlorene Jahre.
»Papa was a rolling stone, wherever he laid his head was his home.« So bin ich dank meines unruhigen Blutes ja letztendlich drumrum gekommen. Ohne einen Felix Krull zu machen.
Statt bei der Volksarmee landete ich im Hootenanny-Klub. Dem wichtigsten Forum der Folkniks von Ostberlin. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg hatten weltweit eine powervolle Bewegung hervor gebracht, und die musikalische Ausdrucksform waren die Protestsongs. Wir sangen mit Inbrunst Bob Dylans »Blowing in the wind« und vor allem die Hymne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung »We shall overcome«, mit Fug und Recht die »Internationale« unserer Generation.
Der Begriff »Hootenanny« ist tausendmal erklärt worden, und doch weiß kaum jemand, was es bedeutet. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein ungezwungenes Miteinander, Durcheinander, Füreinander von Leuten, die Lieder schreiben und dann das Bedürfnis haben, sie anderen vorzusingen. Die Jazzer haben das Jamsession genannt, und ich glaube, da haben sich mal ein paar Folkniks eine fette Tüte gedreht, ihre Gitarren gezupft und gejodelt, und als sie dann gut drauf waren, hat einer zur Kinderfrau der Familie, der Nanny, gesagt: »Man, that’s a hoot, nanny.«
Das Ganze geht auf die Vierziger Jahre zurück, auf Gewerkschaftslieder, auf Sing-alongs, auf Woody Guthrie, dann Pete Seeger; also wo kam wieder mal her, was die Welt bewegte? Aus den US of A. Und kam, trotz aller Abschirmungen irgendwann in die DDR. Und wurde im musikalischen, im kulturellen Vakuum aufgesogen. Talente gab’s genug.
Aber es gab nicht nur den Vietnamkrieg und die weltweiten Proteste dagegen. Man hatte ja auch genug Dreck vor der eigenen Haustür weg zu fegen. Doch da wurden die Oberen ganz schnell zickig. Biermann wurde »ausgebürgert«, andere wie Renft schlichtweg verboten. Das ist ja alles bekannt. Wenn es um die Kritik am Leben in der DDR ging, kannte die Partei kein Pardon. Insofern war die politische Stoßrichtung gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam den Genossen nur willkommen.
Aber neben Politik gabs auch noch Poesie. Ich nahm mir Wolfgang Borcherts Gedicht »Versuch es« vor, schrieb eine schöne Weise dazu und sang es auf den Hootenannys so wie das alte Volkslied »Der König von Thule«.
Marianne Oppel war eine der Stützen des Hootenannyklubs mit ihren Möglichkeiten, die sie bei DT64 hatte, dem wohl wichtigsten Sender dieser Jahre. Der dann leider nach der Wende brutal abgewickelt wurde. Als wir 1990 ein sehr emotionales Wiedersehen hatten im noch real existierenden Funkhaus in der Nalepastraße (alles abgewickelt heute, dem Verfall preisgegeben, ein Geisterhaus, ein Denkmal verfehlter Bundespolitik, leider), da sagte Marianne zu mir: »Immer wenn einer unserer Freunde abgehauen ist nach drüben, war das für uns ein schmerzlicher Verlust. Es war, als ob er gestorben wäre.« Das ging mir schon sehr nahe und hat mein Fluchttrauma von 1968 noch schlimmer gemacht.
Der Mittelpunkt der neuen Bewegung war das Kino International. (Wenn man bedenkt, wie sehr die Chefideologen bemüht waren, die volkseigene Republik zu isolieren, wie sehr sie ihre eigenen Hirne zu- und uns eingemauert hatten, dann war »International« der glatte Hohn).
Alle hatten freien Zugang zur Bühne, jeder konnte seine Songs singen, es war ein unglaublicher Nährboden, kreativ zu sein, seine Meinung zu singen. Innerhalb der – oft eingehaltenen – Grenzen versteht sich. Da waren sie alle, Perry Friedman, der Kanadier mit seinem Banjo, Kurt Demmler, Hartmut König, Klaus Schneider, Bettina Wegner, Dorit Gäbler, Lutz Kirchenwitz. Ich sang meine Songs, alte und neue Blues, und dann fand ich zwei Texte, die mich elektrisierten. Das war Zeitgeist.
»Paul’s Dream«, ein englischer Text von Paul Jones und »Der Ledernackenblues« von Günter Kunert. Ich setzte die Texte in Töne; ich war erst am Anfang meiner Fähigkeiten als Songwriter, Liedermacher, oder wie auch immer das genannt wurde; Texte schrieb ich erst später, im Westen.
Mit den beiden Songs ging ich zu Amiga, der konkurrenzlosen, staatlichen Plattenfirma. Der A&R Chef hieß Hoffmann und empfing mich ganz unkompliziert.
Ich setzte mich auf die Kante seines Schreibtisches, griff mir die Gitarre und legte los. Offenbar gefiel ihm, was er hörte.
»Hast du ‘ne Band?« wollte er wissen.
»Nein.«
»Moment,« er griff zum Hörer und telefonierte ein paar Minuten. »Jetzt hast du ‘ne Band. Nächste Woche Dienstag seid ihr im Studio, ist das in Ordnung?«
Und wie das in Ordnung war. Meine erste Single.
»Ist das dann Mono oder Stereo?« Soviel Fachkenntnisse hatte ich bereits.
»Natürlich Stereo, zwei Spuren haben wir schon.«
Auch die Beatles und die Stones waren kaum weiter, die ersten Platten, die Musikgeschichte geschrieben hatten in den Swinging Sixties waren in Mono, später gabs zwei Spuren, das war dann Stereo, dann vier Spuren; die Aufnahmetechniken wurden immer komplizierter, unsere deutsche »Haare« LP zwei Jahre später mit Harold Faltermeyer noch als Tonassistent (!) wurde auf acht Spuren aufgenommen, unser deutsches »Jesus Christ Superstar« Doppel-Album von 1972 hatte schon sechzehn Tracks, und dann ging’s über vierundzwanzig, zwei Maschinen kombiniert ergaben achtundvierzig, bis wir heute bei unendlich angelangt sind. Musik wird dadurch nicht besser. Man braucht nur wochenlang, um die ganzen Tracks zu mischen.
Wir probten die beiden Songs, dann ging’s ins Studio. Ich denke mal, dass wir einen Take, sicher nicht mehr als zwei brauchten, dann waren »Pauls Traum« und der »Ledernackenblues« im Kasten und ein paar Wochen später auf dem Markt, um einen kapitalistischen Terminus zu verwenden.
Horst Bonnet, Regisseur an der Komischen Oper, hatte eine ganz verwegene Idee, 1967. Er besetzte mich als Prinz Orlowsky in der »Fledermaus«. Eine Rolle, die normalerweise von Altistinnen gesungen, von Frauen. Aber er kannte meine Bluesröhre, er kannte meine Arbeit am »Musicman« am Metropoltheater, er wollte einen Mann für diese androgyne Rolle. Liegt ja auf der Hand. Aber das war hoch, verdammt hoch, wie sollte ich das in den Griff kriegen. Außerdem war das ein Operette. Mann, worauf lass ich mich da ein!? Aber eine Operette an Walter Felsensteins Komischer Oper. Eine der großen Bühnen des Musiktheaters. Es wäre der Ritterschlag für mich.
Wir machten einen Test. Der Kapellmeister saß am Flügel. Um mich zu begleiten, vor allem aber, um zu checken, ob das mit dem Bluesman auch wirklich geht. Ich sang so opernhaft ich konnte »Ich la-ha-de gern mir Gäste ein…,« ich dachte, ich leg denen jetzt einen Caruso hin, dass sie umfallen vor Begeisterung. Ich sang aus voller Brust so hoch ich konnte. Ich selber war begeistert; solcher Töne war ich fähig!? Wow.
Der letzte Akkord verklang. Dann war Stille. Horst Bonnet sah den Kapellmeister an. Ein stummes »Und?«
Der Meister nahm den Fuß vom Pedal. »Hm, interessant. … Klingt fast wie’n Schlager.«
Scheiße, so beschissen war das? Ich wurde ganz klein.
»Aber wir machen das, das wird interessant.« Er würde abends am Pult stehen, es war seine Verantwortung, es war sein Ja.
Nun musste ich nur noch dem großen Häuptling vorsingen. Walter Felsenstein. Er war praktisch die Komische Oper. Seit 1947.
Dieselbe Situation, ich sang wie ein Gott, der Professor hörte zu, und noch bevor der letzte Ton verklungen war, sprangen meine beiden neuen Gönner mir zur Hilfe; bevor Felsenstein was sagen konnte, sagten sie: »Herr Professor, Sie müssen wissen, der Reiner kommt vom Blues, er singt sonst Musicals, er…..«
Felsenstein unterbrach ihren Wortschwall cool und sagte mit seinem Wiener Akzent: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen…« Mit Blick zu mir, »er ist doch a Prinz.«
Ich hatte die Rolle.
Dann brach alles zusammen, Horst Bonnet wurde krank, die Inszenierung wurde gestrichen, und ich kam nie dazu, mit Hans Nocker auf der Bühne zu stehen.
Aber der Blues und meine Protestsongs machten mir nur wenig später die Mauer auf. Gerade so weit, dass ich durchschlüpfen konnte.
Wieder war einer weg. Bereut hab ich’s nie.
Irgendwo an der Ostsee, 8. November 2007