Читать книгу Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin - Reiner Schöne - Страница 8
ОглавлениеDas andere Ende des Regenbogens
Er öffnet die Augen, bevor er aufwacht. Begreift nichts. Wo bin ich, warum liege ich hier zwischen all den Blumen? Erst als ihm eine nasse Schnauze ins Gesicht gestupst wird, klicken langsam die Sinne ein. Wie Ikonen auf einem alten Computer. Eine nach dem andern, wie in slow motion. Neben ihm steht ein türkiser Truck, das Radio ist an, und irgendein Commercial stört den Frieden. Er steht auf, steif und mit Schmerzen im Rücken und macht das Radio aus. Was war los, warum bin ich hier?
Ein Blick auf den Hund bringt ihn zurück zur Realität. Irgendwie war alles zuviel, too much von allem, und er hat sich einfach rausfallen lassen aus seinem Leben. Nur noch weg. Allein sein. Nachdenken oder nicht Nachdenken. Treiben lassen. Stundenlang ist er durch die Wüste gefahren, nur als der Hund unruhig wurde, hatte er gehalten und ihn rausgelassen. Und um irgendwo einen Burger und einen Kaffee in seinen unschlüssigen Magen zu tun. Mechanisch, Hunger war nicht wirklich da.
»Komm her, Julie«. Die Hündin drückt sich an ihn. Sie war schon immer sensibel. Wann immer es ihm nicht gut ging, sie hat es gespürt und war ihm dann noch näher. Hunde haben eine Antenne für menschliche Miseren. Hündinnen vielleicht noch eher als Rüden. Er hatte noch nie einen Rüden. Er hatte überhaupt noch nie einen Hund. Sie ist sein erster.
Die Sonne geht unter, die Grillen werden wach, der Hund jagt einen Jack Rabbit, keine Chance, der Hase wird überleben.
Ist es das, was er wollte? Er lässt sich fallen, macht sich ganz leer, zieht alle Antennen ein und starrt in den Himmel. An nichts denken. Geht das? Als die Hündin zurück kommt, legt er seinen Arm um das hechelnde Tier und steckt seinen Kopf in das schwarze Fell. Sie riecht gut, ganz anders als andere Hunde. Selbst wenn ihr Fell nass ist, ist das immer noch ein schöner Geruch. Er presst sein Gesicht an ihren Kopf und zieht den Hundeduft ein. Ein vertrauter Geruch. Unbedrohlich. Er legt sie langsam auf den Rücken und kniet über ihr. Legt beide Hände um ihren dicken Hals und massiert sie, bis sie das Maul aufklappt und die Zunge raushängen lässt. Das ist das abgemachte Signal zwischen beiden, dass sie glücklich ist.
Er lässt sich wieder auf den Rücken fallen und starrt in den Himmel. Den Bussard nimmt er nicht wahr, der seine Jagd beendet für den Tag. Auch nicht den Kojoten, der auf dem Felsen steht und sie beobachtet. Den Mann und den Hund. Regungslos steht er in der untergehenden Sonne und fixiert die beiden mit seinen gelben Augen. Unbemerkt.
»Zeit für dich.« Er geht zum Truck, kramt unter der Rückbank und holt ein Paket Trockenfutter raus, öffnet eine Wasserflasche, füllt eine Schale und füttert den Hund aus der Hand. Ganz weit weg fliegt ein Flugzeug nach Osten. Ein kleines Gebet, dass das Flugzeug auch da landet, wo es landen soll. Just a little prayer. Dunkel heben sich die Joshua Trees gegen den Wüstenhimmel ab, gegen die Milchstraße; nachts schlafen die Klapperschlangen, er hofft, nicht auf eine zu treten. Die Chance ist gering, tatsächlich einem Wüsten-Rattler zu begegnen, Schlangen weichen aus, weiß er. Das Heulen eines jagenden Kojotenpacks macht die Hündin nervös, sie sucht seine Nähe und knurrt. Warnend; aber mehr ängstlich, er kennt sie seit sechs Jahren, da gibt’s eigentlich nur noch Vertrautheiten zwischen ihnen.
Er liegt da und sieht ganz tief in die Milchstraße hinein. Lichtjahre weit weg ist er, ganz tief eingeschmolzen ins Universum. Komisch, immer wenn er am Mittelmeer den Sternenhimmel sah, überkam ihn ein unstillbares Fernweh, ein schmerzendes Fernweh! Nicht jetzt, nicht heute, da ist nur Frieden und Ruhe. Er ist in der Ferne, in der Welt, er ist angelangt am anderen Ende seines Regenbogens. Go West. Wie die Siedler, die Pioniere der vergangenen Jahrhunderte in ihren Wagentrecks. Von Oklahoma nach Oregon. Von Kentucky nach California. Tausende Gräber säumen die Trails der Ochsenkarren, namenlos, ohne Grabsteine, ohne Blumen. Siedler, die ihre Heimat verlassen hatten, die mit den Indianern in Frieden lebten, bis die US Kavallerie dem ein Ende bereitete, Verrat und Bruch der Verträge politisch kalkuliert im fernen Washington.
Die Hündin hat die Augen geschlossen, aber er weiß, dass sie nicht schläft, das gelegentliche Zucken ihrer Ohren verrät sie. Sie nimmt die Geräusche der nächtlichen Wüste wahr, analysiert sie, jederzeit bereit, Hund zu sein.
Er spürt die Kraft, die aus dem Nichts kommt. Aus dem ,An Nichts Denken’. Wie lange hat er damit gewartet, sich überfordert, wie eine Maschine, die den Ölwechsel brauchte und nicht gewartet wurde!? Er hat funktioniert. Immer die Notwendigkeiten im Blick. Ob er vermisst wird, ob sie ihn suchen?
Er spürt, wie er eins wird mit dem Universum, mit der Wärme seines Hundes, der Milchstraße und dem Mantra der Grillen. Ganz langsam sinkt er ein in den Boden, spürt die Wurzeln der Joshua Trees, den Frieden, den er endlich annimmt.
Und dann sieht er den Engel, der vor ihm steht.
20. Oktober 2001