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Das Weib triumphiert über den Tod
ОглавлениеIn einer christlich dominierten Gesellschaft war es natürlich undenkbar, der durch die Evolution bedingten Sterblichkeit des Menschen den Vorrang gegenüber dem göttlichen Willen einzuräumen. Es durfte nicht sein, dass im Sinne von Charles Darwin (1809–1882) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) der Mensch nichts anderes ist als ein weiterer Spielball auf dem großen Experimentierfeld der Evolution: Der Mensch wird geboren, lebt, liebt und stirbt: Was soll daran Besonderes sein?8
Die Kirche predigte, der Tod sei der Sünde Sold9, und der mittelalterliche Inbegriff der Sünde war die Frau, woraus sich das ikonografische Sujet von Tod und Frau oder Tod und Mädchen entwickelte, das gleichsam die Botschaft von der Ursache des Todes transportierte. Künstler der Renaissance wie Hans Baldung Grien (1517) oder Niklas Manuel Deutsch ergötzten sich an diesem ebenso morbiden wie erotischen Thema, das schon in die Reihe der mittelalterlichen Totentänze gehörte. Erst Edvard Munch drehte den Spieß um und ließ in seiner 1894 entstandenen Radierung Das Mädchen und der Tod die Frau über den Tod triumphieren. Zwar hatte sich bildlich die erotische Komposition kaum verändert, und die unbekleidete Frau schien den Nachstellungen des Todes zu erliegen, doch auf der Rahmung des Bildes sprechen Spermien und Embryonen eine andere Sprache. Auch wenn die Frau stirbt, gibt sie das Leben weiter und lebt in ihren Nachkommen fort. Zwar stirbt das Individuum, aber die Gattung lebt weiter. In kaum einem anderen Bild der Kunstgeschichte wird die evolutionäre Deutung des Todes deutlicher als hier.
In einer Folge von sechs Holzschnitten hat der weit weniger bekannte, ostpreußische Künstler Robert Budzinski (1874–1955) ganz ähnliche Gedanken zum Ausdruck gebracht. In seiner Der Sieg des Lebens (Auch ein Totentanz) genannten, 1924 entstandenen Holzschnittmappe orientierte er sich am Vorbild der Totentänze: Der Tod fordert eine junge, im Kornfeld sitzende nackte Frau zum Tanz auf, er ergreift die Fidel und beginnt den scheinbar ungleichen Tanz, der immer wilder wird. Doch schließlich erliegt der Tod dem furiosen Geschehen, löst sich auf, und sein Gerippe zerfällt. Am Schluss steht die Frau, die Hände in die Taille gestützt, triumphierend über dem Häufchen Gebeine, die einmal der Tod waren. Im Sinne einer Melioration des etwas in Misskredit geratenen Wortes darf man diese Frau wahrlich Weib nennen in der ursprünglichen Bedeutung als Pendant zum Mann und als Inbegriff des Weiblichen, das sich letztlich in seiner Gabe ausdrückt, Leben schenken zu können. Indem Budzinski im letzten Bild seines Totentanzes die breiten Hüften der Frau betont, stellt er ihre Gebärfähigkeit bildkompositorisch und damit auch inhaltlich so in den Mittelpunkt, dass sich genau daraus ihre Kraft speist, über den Tod zu triumphieren. Die Begegnung mit dem Tod endet nicht mehr tödlich, sondern das Leben behält die Oberhand. In der Einführung zum Mappenwerk schrieb der Verleger Hanns Heeren: „Diese sechs Holzschnitte des Ostpreußen Robert Budzinski sind kein Totentanz im üblichen Sinne, der uns die Allgewalt des Todes über das Leben vor Augen führt, wie es mehr oder weniger alle Totentänze von Dürer bis auf unsere Zeit taten – diese sechs Holzschnitte sind ein einziges Bekenntnis zur Kraft und zum Siege des Lebens über den sonst so gefürchteten Herrscher Tod. Der einzelne Mensch zwar unterliegt ihm, aber das kraftvoll blühende Leben nimmt den Kampf immer wieder auf und bezwingt den Tod: Der Einzelne stirbt – die Menschheit lebt!“
Diese schlichte Betrachtungsweise stieß jedoch nicht nur auf den Widerstand der kirchlichen Lehrmeinung, sondern sie ging auch am Wollen und Sehnen der Menschen, ob gläubig oder nicht, vorbei, die ihren individuellen Tod nicht nur eingebettet sehen wollten in das Große und Ganze, sondern doch von ihren Fragen nach dem Sinn des Lebens – und des Todes – nicht ablassen wollen. Unter dieser Voraussetzung kann die evolutionäre Sinngebung des Todes, der an sich weder gut noch schlecht, sondern einfach nur notwendig ist, nicht weiterhelfen. Die allermeisten Menschen suchen eine Antwort auf die Frage, warum sie leben und warum sie sterben, und viel mehr noch wie sie sterben, wodurch und wann und wofür.