Читать книгу Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen - Reinhard Erös - Страница 12
ОглавлениеZelte oder Blechhütten
In den Bergen Nordpakistans naht der Winter. Vor dem Schnee und der Kälte kommt hier gewöhnlich zunächst Regen. Die obdachlosen Überlebenden des Bebens müssen entweder rasch in den wärmeren und schneefreien Süden transportiert oder einige Monate lang nässe- und kältegeschützt in den Bergen untergebracht werden. Verständlicherweise lehnt die pakistanische Regierung eine Evakuierung von Millionen Bergbewohnern ab. Dazu wäre sie organisatorisch auch kaum in der Lage.
Soldaten lernen und üben das Überleben im Winter. Mitarbeiter von UN- und Hilfsorganisationen sind darauf leider nicht so gut vorbereitet und deshalb häufig überfordert. Natürlich weiß jeder Mediziner, wie anhaltende Kälte auf den Menschen wirkt: Normalerweise hält der Körper seine Temperatur auch bei Schwankungen der Umgebungstemperatur konstant bei rund 37 Grad Celsius. Wird der Körper über längere Zeit kalten Temperaturen ausgesetzt, produziert er innere Wärme, etwa durch automatisiertes Zittern der Muskeln. Zusätzlich ziehen sich die Blutgefäße in Armen und Beinen zusammen. Das »warme« Blut wandert nach innen und versorgt die lebenswichtigen Organe. Das »kalte« Blut bleibt in einer Art »Schale« in der Peripherie. In der Folge kommt es zu Erfrierungen an den Extremitäten. Hält die äußere Kälte an oder wird sie verstärkt durch Wind, sinkt zunehmend auch die Körperinnentemperatur ab. Der Betroffene verliert das Bewusstsein, es kommt zu Atem- und Kreislaufstillstand. Er stirbt. Wenn Wind auf den Betroffenen einwirkt, wird dieser Prozess stark beschleunigt: Man spricht hier vom »Wind-Chill-Faktor«. Schon bei null Grad Celsius Außentemperatur erzeugt ein mäßiger Wind von 28 Stundenkilometern eine gefühlte und am Körper tatsächlich wirksame Temperatur von minus 13 Grad Celsius. Nässe, körperliche Anstrengung, Verletzungen und Erkrankungen, unzureichende Nahrung und Flüssigkeitszufuhr verstärken diesen Vorgang zusätzlich.
Wenn wir die obdachlosen, erschöpften Erdbebenopfer lebend über den Winter bringen wollen, ist es die dringlichste Aufgabe, sie über längere Zeit regen-, wind- und schneegeschützt unterzubringen. Aber noch ist es angenehm warm und trocken bis auf die Höhe von zweitausend Metern. Die Maschinerie der UN und der großen Hilfsorganisationen läuft zwei Wochen nach dem ersten Beben an. Aus dem Ausland werden täglich Hilfsgüter nach Islamabad geflogen. Die NATO entsendet Pionierkräfte ihrer erst 2002 aufgestellten »Schnellen Eingreiftruppe« (Response Force), die im Erdbebengebiet zum Einsatz kommen sollen. Von Italien kommend, treffen sie und ihr schweres Gerät jedoch erst nach einigen Monaten auf dem Seeweg ein. Die zur Räumung der Straßen bestimmten Baumaschinen hätte man allerdings auch in Pakistan anmieten und damit sofort nach dem Beben einsetzen können.
Das Hauptquartier dieser Truppe, gestellt vom Joint Command aus dem warmen Portugal, mietet sich im Marriott, dem teuersten Hotel in Islamabad, ein. Die Kritik der pakistanischen Presse und der Protest deutscher Stabsoffiziere gegen diese unpassend feudale Unterkunft stößt bei der Führung des NATO-Verbandes in den ersten Wochen auf taube Ohren. Dagegen sind die Heeresflieger der Bundeswehr von Anfang an auf dem militärischen Teil des Flugplatzes von Islamabad in einfachen Containern untergebracht. Mit ihren Großraumhubschraubern CH-53 werden sie in den kommenden Monaten auch bei schwierigster Wetterlage Hilfsgüter in die Berge fliegen und auf dem Rückweg Kranke und Schwangere in die Kliniken im Süden bringen.
Anfang November sitze ich mit Alem im Gästehaus in Peschawar, dessen Chef uns wieder einmal einen guten Rat gibt. »Die Winter der vergangenen Jahre waren sehr kalt und schneereich«, erklärt unser balakoti. »Die Bergbauern im Norden sind keine Nomaden, die mit Zelten umgehen können. Daher rate ich dringend von Zelten ab.« Aber da es zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht geregnet oder gar geschneit hat, ist Nordpakistan in den vergangenen Wochen zum größten Campingplatz der Welt geworden. Zehntausende mehrköpfige Familien hausen in zum Teil winzigen Zelten. Sämtliches Zeltmaterial in Pakistan ist von den Hilfsorganisationen innerhalb weniger Tage aufgekauft worden. Die großen Organisationen beschaffen die Zelte mittlerweile auch in den Nachbarländern sowie in Asien und Europa. Ab Mitte November erwarten die Fachleute zunächst Regen, der dann sehr schnell in Schnee übergehen soll. Also ist Eile geboten. Wenn es nur um wenige Tage geht, kann man natürlich auch im Norden Pakistans bei Regen und Schnee in einfachen Zelten überleben. Vielleicht sogar ein bis zwei Wochen – vorausgesetzt, die Zeltwände sind wasserdicht, der Schnee drückt das Dach nicht ein, die Bewohner sind gesund, werden hinreichend ernährt, können sich warm halten und ihre Bekleidung trocknen. Kurz, die Hilfsorganisationen, die ausschließlich auf Zelte setzen, müssen von einem übermenschlichen Optimismus erfüllt sein.
Wir jedenfalls machen uns große Sorgen um die Menschen in den windigen Zeltstädten, an denen wir auf unseren Fahrten in die Berge vorbeikommen. Jeden Tag ist uns die Gefahr bewusst, wenn wir – wie mit Ghul Aga und dem Brigadekommandeur vereinbart – Reis, Mehl, Milchpulver, Eiweißkekse, Speiseöl, Tee und Zucker auf angemieteten Lkws nach Balakot befördern. Von dort aus verteilen wir, unterstützt von pakistanischen Soldaten, mehrere Hundert Tonnen Hilfsgüter in den zerstörten Bergdörfern.
Noch ist es trocken und tagsüber auch leidlich warm …
Ein pakistanischer Stabsoffizier erläutert Reinhard Erös und seinem Sohn Urs die Lage im Erdbebengebiet
Wir überlegen fieberhaft, ob es eine Alternative zu den Zelten gibt, die bezahlbar und lieferbar wäre. »Blechhütten«, lautet schließlich die Antwort. Diese Lösung ist etwas teurer als einfache Zelte und mit mehr logistischem Aufwand verbunden. Doch Blechhütten sind stabil, regen- und schneedicht, und sie können – in Einzelteile zerlegt – von Tragtieren oder kräftigen Männern auch in Gebirgsregionen transportiert werden. Große Mengen an Wellblechteilen sind in Pakistan nicht überall erhältlich. In Lahore und Faisalabad werden wir endlich fündig. Zwar ist es von dort ein weiter Weg in die Berge, doch die Transportkosten in Pakistan sind sehr günstig. Der Brigadekommandeur in Balakot ist begeistert, als wir ihm unser Konzept »Blechhütten statt windiger Zelte« vorstellen, und verspricht uns seine volle Unterstützung.
So schicken wir noch vor dem Beginn der Regenfälle die ersten Lastautos, beladen mit Blechteilen, Kanthölzern, Metallstreben, Werkzeugsätzen und Kisten voller Nägel und Schrauben auf die tagelange Reise in die Berge. Dabei sind die Materialbeschaffung und die Finanzierung nur ein Teil des Problems. Die einfachen Bergbewohner müssen auch lernen, aus den Einzelteilen eine stabile Hütte zu bauen. Zu diesem Zweck habe ich zusammen mit dem General die Dorfältesten aus den Bergen zu einer Vorführung eingeladen. Ein Offizier dolmetscht, während ich den erwartungsvoll Lauschenden die Vorzüge und den Aufbau einer Metallhütte erläutere:
Zwei kräftige Männer sind in der Lage, ein zirka dreißig Kilogramm schweres Blechteil auch steile Berghänge hinaufzutragen. Wie viele Teile ihr euren Tragtieren zumuten könnt, wisst ihr besser als ich. Ältere Kinder tragen die Holzteile und Werkzeuge. Für das Zusammensetzen der Metallbleche werden lediglich drei Großgewachsene benötigt, die mit Hammer, Nägeln und Schrauben umgehen können. Das Häuschen verfügt über einen kleinen Rauchabzug. Eure Frauen können also auch bei Regen und Schnee im Innenraum kochen. Das Metall ist feuerfest. Das Dach hält Schnee aus und ist wasserdicht. Sollte es weitere Nachbeben geben, stürzt die Hütte nicht sofort ein. Und selbst wenn sie einstürzt, werden die Bewohner nicht erschlagen. Beim Wiederaufbau eurer Dörfer im Frühjahr können die Blechteile anderweitig genutzt werden.
Einweisung eines pakistanischen Pionieroffiziers in den Bau einer Wellblechhütte
Lehrvorführung zum Zusammenbau einer Blechhütte
Schritt für Schritt erkläre ich das Zusammenschrauben der Blechteile. Der Pionieroffizier zimmert parallel dazu mit zwei seiner Soldaten das erste Häuschen in knapp zwei Stunden zusammen. Die Alten aus den Dörfern sind beeindruckt und klatschen begeistert. Dann fordert der Offizier unsere Gäste zum Zusammenbauen einer zweiten Hütte auf. Die drei kräftigen Freiwilligen benötigen zwar eine Stunde länger als die geübten Soldaten; aber dann steht auch dieses Häuschen – schmuck anzusehen und stabil.
Tag für Tag kommen nun Männer auch aus entlegenen Gebieten und schleppen auf Eseln und Maultieren die Blechteile und Werkzeugsätze zu ihren Familien. Sobald sie eine Hütte fertiggestellt haben, wird sie von der Armee registriert, und die Familie erhält von uns eine Grundausstattung für das »neue Heim« mit Gaskocher, Öllampe und Steppdecken. Etwa 750 Euro kostet uns die Komplettausstattung einer Blechhütte einschließlich der Transportkosten aus Lahore. Eine siebenköpfige Familie findet darin nachts – wenn auch unter beengten Verhältnissen – Platz. Tagsüber spielen die Kinder sowieso im Freien, der Familienvater ist unterwegs, und die Mutter kocht bei Regen in der »brandsicheren« Hütte. Im Gegensatz dazu sind Zelte leicht entflammbar: Immer wieder erfahren wir in den kommenden Wintermonaten, dass dort offenes Kochfeuer zu Bränden geführt hat und Menschen zu Schaden gekommen sind.
Meine Frau an der »Heimatfront« in Deutschland ist dank E-Mail-Kontakt, der erstaunlicherweise über meinen Laptop auch im pakistanischen Bergland funktioniert, über den erfolgreichen Beginn unseres Projekts informiert. Sie startet eine Spendenaktion »Blechhütten statt windiger Zelte« und kann in wenigen Wochen Tausende von Hilfsbereiten dazu bewegen, für unsere Häuschen in Pakistan zu spenden. Wir sind überwältigt, als zur Adventszeit bundesweit in deutschen Kindergärten und Schulen, in Kirchengemeinden und Vereinen dazu aufgerufen wird, den Erdbebenopfern in Pakistan mit einer Blechhütte als Weihnachtsgeschenk ein festes Dach über dem Kopf zu bescheren. Als dann auch noch etliche deutsche Zeitungen, darunter das deutsche Nachrichtenmagazin, und die pakistanischen Medien über unsere erfolgreiche Arbeit berichten, sind wir schon ein wenig stolz. Dank der großzügigen privaten Spenden und in kameradschaftlicher Zusammenarbeit mit den zupackenden pakistanischen Soldaten und ihrem engagierten Kommandeur haben meine Frau, Alem und ich mehreren Tausend Obdachlosen ein »warmes Weihnachtsfest« und sicheres Überleben im Winter ermöglicht. Und dies ohne aufwendige Bürokratie und »kopflastige« Organisation.
In der Nacht hat es nur wenig geschneit. Der eisige Wind am Vormittag weht dann auch schnell den weißen Staub von der Straße. An den blaugrünen Nadelzweigen der Fichten entlang unserer Route bleibt der Schnee dagegen wie Puderzucker haften. Ich bin gerade auf der Rückfahrt von Balakot nach Peschawar in meinem Beifahrersitz eingenickt, als mich Alem an der Schulter rüttelt: »Schau mal aus dem Fenster. Erkennst du diese Flagge?«