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Rätische Rätsel DIE ZAUBERKREISE VON CARSCHENNA
ОглавлениеEin schier unlösbares Rätsel der Archäologie sind Schalensteine. Es gibt natürliche Wannen, die durch Verwitterung und Auswaschungen entstanden sind. Kuriose Beispiele liegen in der Landschaft des mystischen Waldviertels in Niederösterreich herum, dort, wo gerne die Steine wackeln. Aber nicht diese Gletscherspuren sind gemeint, sondern künstlich von Menschenhand geschaffene, runde Vertiefungen im Fels. Die Entstehung der meisten Relikte wird in die Bronzezeit verlegt, es gibt aber vereinzelte Funde, die bis in die Altsteinzeit zurückreichen. Der Durchmesser der Schalen kann bis zu einem halben Meter betragen. Die meisten Markierungen sind hingegen nicht größer als ein, zwei Zentimeter. Oft sind diese Mulden, Schälchen oder Näpfchen mit Linien verbunden, treten mit anderen geometrischen Mustern auf oder stehen im Zentrum konzentrischer Kreise und Spiralen. Die Camuni im Val Camonica waren recht fleißig beim Hinterlassen dieser Geometrie. Dabei setzten sie das Schälchen gerne ins Zentrum von Ringmustern. Warum und wozu, bleibt spekulativ.
Zeichen im Naquane-Nationalpark: ein Schälchen, umgeben von zahlreichen konzentrischen Ringen
Blick in die unwegsame Viamala-Schlucht im Kanton Graubünden
Im Schweizer Ort Carschenna dreht sich alles im und um Kreise. Er liegt auf einer Anhöhe oberhalb von Domleschg im Schweizer Kanton Graubünden. Hier machte der Forstingenieur Peter Brosi 1965 eine überraschende Entdeckung: Unter einer Humusschicht kamen glatt geschliffene Felsrücken mit seltsamen Steingravuren zum Vorschein: konzentrische Kreise, Schälchen, Zickzacklinien, Kreuzsymbole, Sonnenräder, geometrische Muster sowie vereinzelte Motive von Mensch und Tier. Zunächst wurden zehn Felsplatten mit etwa 400 Einzeldarstellungen freigelegt. Sie sind im kleinen Umkreis von 600 Metern angereichert und liegen meist an einer nach Norden steil abfallenden Bergschulter. 1984 und 1996 wurden in unmittelbarer Nähe (Badugnas und Viaplana) noch zwei Felsen mit Ritzzeichnungen gefunden. Das lässt vermuten, dass sich unter dem Rasenteppich von Carschenna weitere Felskunstschätze verbergen könnten.
Die geheimnisvollen Felszeichnungen von Carschenna, oberhalb von Sils im Domleschg in der Schweiz
Die Altersbestimmung der Zauberzeichen fällt schwer. Es scheint mehrere Schaffensperioden gegeben zu haben. Im Vergleich mit Val Camonica wird der Ursprung in die späte Jungsteinzeit datiert (ca. 3. Jahrtausend v. Chr.) oder eher noch in die Bronze- und Eisenzeit (ca. 2000 v. Chr. bis Christi Geburt). Die „Visitenkarte“ der Räter ist erkennbar: Neben der dominierenden Kreissymbolik zeigen etliche Graffiti, darunter Reiterdarstellungen und Zeichen, die an eine „Schaufel“ erinnern, eine frappante Ähnlichkeit mit den Felszeichnungen der Camuni. Das kann kein Zufall sein. Es muss in der Vorzeit zwischen den Älplern in Carschenna und den Menschen des Camonica-Tales regen Kulturaustausch gegeben haben. Aber wo liegen die Wurzeln? Welche Motive sind die älteren? Im Rätischen Museum in Chur sind Kopien der Carschenna-Muster ausgestellt. Wer sie im Original besichtigen will, muss sich beeilen. Die Verwitterung lässt die ungeschützten Gravuren immer mehr verblassen. Sorgen bereiten zusätzlich neuzeitliche Kritzeleien, die das bedeutende Kulturerbe verunstalten.
Carschenna liegt auf 1.110 Metern Seehöhe nahe dem frühmittelalterlichen Kirchenkastell Hohenrätien über dem Eingang zur Viamala-Schlucht. Die Besichtigung der restaurierten Burganlage kostet einen kleinen Obolus, aber der steile Aufstieg zum aussichtsreichen Felsplateau lohnt sich. Wer die Fundstellen mit den Felszeichnungen lieber direkt ansteuern möchte, erreicht sie von den Ortschaften Thusis oder Sils über einen markierten Wanderweg in etwa einer Stunde. Die Gravuren liegen nahe beisammen, teils im Wald, teils auf einer kleinen Lichtung unterhalb einer Hochspannungsleitung.
Die ungewöhnlichste Zeichnung besteht aus drei konzentrischen Kreisen mit einem Näpfchen als Mittelpunkt. Zwei parallele Linien außerhalb der Ringe weisen zu einer Aushöhlung, die bei meiner Besichtigung mit Wasser gefüllt war. Was mich dabei amüsierte: Aus der „Vogelperspektive“ betrachtet, könnte man die Felsgrafik für den Grundriss des „Raumschiffs Enterprise“ halten. Die Verbindung der konzentrischen Kreise zum Wasserbecken ist bestimmt nicht zufällig gewählt. War Carschenna einst ein heiliger Kraftort, wo dem Lebensspender Wasser gehuldigt wurde?
Burganlage Hohenrätien, nahe den Felsbildern von Carschenna
Die Symbole von Carschenna: Dienten sie astronomischen und topografischen Zwecken?
Was die Zeichen wirklich bedeuten, wird kaum mehr zu klären sein. Archäologen sprechen vieldeutig von einem „Opferplatz für die Erdmutter“, „künstlerischen Ausdruck von Hirten“, „kultischen Platz für Riten“ oder „Darstellungen von Mond- und Sonnenkonstellationen sowie Gestirnen“. Der Geologe Markus Weidmann hat die Carschenna-Symbolik mit der Topografie umliegender Ortschaften verglichen und fand verblüffende Gemeinsamkeiten. „Vielleicht stellen die alten Felszeichnungen eine Art prähistorischen Katasterplan dar“, mutmaßt der Schweizer. Der Gedanke, dass Carschenna einst ein Schauplatz für topografische und astronomische Beobachtungen war, ist nicht so abwegig: Der im Ortsnamen enthaltene Begriff Carschen bedeutet auf Rätoromanisch „aufgehender Mond“!