Читать книгу Strafrecht Besonderer Teil. Teilband 1 - Reinhart Maurach - Страница 107
I. Grundtatsachen
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Für das Stadium des Menschen zwischen Befruchtung der weiblichen Eizelle und Geburt fehlt – außer dem altväterlichen Ausdruck „Leibesfrucht“, den § 218 StGB bis zur Reform von 1976 verwendete (so auch seit 1987 wieder § 168 StGB, s. Tlbd. 2, § 62 Rn. 11!) – ein zusammenfassender Begriff. Bis zur 12. Schwangerschaftswoche spricht man vom Embryo, danach vom Fötus. Wenn im Folgenden vom Embryo oder Fötus gesprochen wird, so ist dies umfassend und jeweils den Fötus bzw. den Embryo einschließend gemeint.
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Der menschliche Embryo ist werdendes menschliches Leben; bereits von den ersten Zellteilungen ab ist die menschliche Individualität in ihm angelegt. Was lange Zeit nur als philosophische These oder religiöser Glaubenssatz behauptet wurde, ist durch die moderne Embryonenforschung auch empirisch nachgewiesen. Viele Einstellungen und Handlungen gegenüber dem Embryo lassen sich nur dadurch erklären, dass er diese Eigenschaft als Lebewesen, als Individualität nicht nach außen sichtbar dokumentieren und damit den natürlichen Achtungsanspruch auslösen kann. Aus der Verborgenheit des Embryos in der Gebärmutter resultiert eine spezifische Chancenungleichheit.
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Schmerzfähigkeit des Embryos schon vor der 12. Schwangerschaftswoche kann nicht ausgeschlossen werden[1].
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Bei den Frauen führt ein Schwangerschaftsabbruch nicht selten zu psychischen und psychosomatischen Folgeschäden (SA-Berat. VI/2218). Selbstverständlich dürfen nicht Schuldgefühle provoziert oder gesteigert werden. Andererseits erweckten manche Beratungen in der Vergangenheit den Eindruck, als hätten sie sich zum vorrangigen Ziel gesetzt, derartige Schuldgefühle zu beschwichtigen (Schroeder JuS 91, 365).
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Die Belastungen eines Kindes für die Mutter dürfen nicht bagatellisiert oder durch Hinweise auf unseren Sozialstaat schönfärberisch hinweggeredet werden. Dies gilt für Mütter, die bereits mehrere Kleinkinder oder kleine und junge Kinder haben, vor allem aber für alleinerziehende. Für diese Mütter, die sich in der Regel ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen, sind die Belastungen durch Beaufsichtigung, Transport zum Kindergarten oder zur Pflegemutter, Arztbesuche usw., da sie nicht mit einem Lebenspartner geteilt werden können, doppelt hoch. Gleichwohl kann dieser Gesichtspunkt nicht zu irgendeiner Einschränkung des Rechts des ungeborenen Lebens auf Menschwerdung führen. Denn dies müsste folgerichtig dazu führen, auch Menschen, die sonst für andere eine Belastung darstellen, sei es durch ihre Behinderung, sei es durch ihr Alter, sei es durch beides, zur Tötung freizugeben. Es geht auch nicht an, dem Embryo einen geringeren Wert zuzumessen als dem behinderten oder alten Menschen. Dies gilt eindeutig für religiöse, auf der Gottebenbildlichkeit beruhende Vorstellungen (Hoerster und Schroeder JuS 91, 190, 361), aber auch für simple Alltagsvergleiche: während der Embryo ein unbehindertes, volles Leben vor sich hat, hat der durch einen Schlaganfall behinderte alte Mensch oft nur noch ein kurzes und teilweise sogar ein menschlicher Grundfunktionen beraubtes Leben vor sich.
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Gleichwohl ist ein Unterschied zwischen Embryos und behinderten und alten Menschen nicht von der Hand zu weisen. Der Embryo ist noch kein lebensfähiger Mensch: zu seiner Menschwerdung ist noch eine erhebliche Mitwirkung und Leistung der Schwangeren erforderlich. Der Abbruch der Schwangerschaft ist daher vonseiten der Schwangeren nicht nur die Vernichtung eines fremden Rechtsguts, sondern gleichzeitig die Verweigerung der zur Menschwerdung des Embryos erforderlichen erheblichen Leistungen. Der Schwangerschaftsabbruch ist daher zu einem bedeutenden Teil materiell eine Unterlassungstat, bei welcher die Rechtspflicht zum Weiterhandeln und dessen Zumutbarkeit zu prüfen sind[2].
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Es wird häufig gesagt, dass die Frau ja nicht von selbst schwanger werde, sondern wisse, was sie tue, mindestens sich des Risikos bewusst sein müsse. Indessen hat die Natur zu einer Zeit, als dies für den Fortbestand der Menschheit noch unerlässlich war, die Entstehung von Schwangerschaften mit allen Mitteln des Raffinements, der Verführung und der Ausnutzung von Schwächen gefördert.
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Seit einiger Zeit gibt es die Pille RU 486, jetzt „Mifegyne“, die eine Abtreibung ohne technische Fertigkeiten und ohne Mitwirkung des Arztes ermöglicht. Sollte diese Pille frei oder auch nur ohne strengste Kontrolle abgegeben werden, werden jegliche strafrechtliche Vorschriften zur Bekämpfung des Schwangerschaftsabbruchs wirkungslos[3]. Dies gilt angesichts der modernen Durchlässigkeit der Grenzen auch für die Abgabe in irgendeinem ausländischen Staat.
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Für die tödliche Entfernung des Embryos bzw. Fötus aus dem Mutterleib prägten die Bambergische Halsgerichtsordnung (Art. 158) und die PGO (Art. 133) Anfang des 16. Jahrhunderts den Begriff „Abtreibung“. Das moderne Lebensgefühl hat diesen Begriff nicht mehr ertragen und durch den einseitig auf die Mutter abstellenden Begriff „Schwangerschaftsabbruch“ oder gar den bewusst verschleiernden Ausdruck „Schwangerschaftsunterbrechung“ ersetzt und damit den Begriff „Abtreibung“ 400 Jahre nach seiner Schaffung gewissermaßen selbst aus dem Strafrecht „abgetrieben“. Ein wirklich neutraler Ausdruck fehlt leider bisher.