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Krieg ist nicht kategorisch verboten

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Die zweite Voraussetzung bedarf einer ausführlicheren Begründung. Wer danach fragt, ob – und wenn ja: in welchen Fällen – das Führen eines Krieges gerechtfertigt sein kann, rechnet mit der Möglichkeit, dass Krieg nicht kategorisch, d. h. unter allen Umständen, verboten ist. Das ist der Grund, warum Pazifisten die Theorie des gerechten Krieges – die eigentlich genauer, aber viel umständlicher Theorie der moralischen Zulässigkeit des Führens von Krieg heißen müsste – anstößig finden.

Dass Krieg nicht prinzipiell moralisch verboten sein kann, ergibt sich aus der in allen Kulturen weithin anerkannten Legitimität individueller wie kollektiver Selbstverteidigung. Dass auch die Selbstverteidigung eines Staates weltweit als legitim erachtet wird, lässt sich zum Beispiel daraus ersehen, dass die Charta der Vereinten Nationen ihr einen eigenen Artikel widmet (Art. 51). Wer die Auffassung verteidigen will, dass Krieg, vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, kategorisch verboten sei, hat vermutlich nur drei Möglichkeiten, sich zur Frage der Legitimität kollektiver Selbstverteidigung zu verhalten.

Die erste Möglichkeit besteht darin, zu behaupten, dass es überhaupt keine Fälle legitimer Selbstverteidigung von Staaten oder sozialen Gruppen gibt. Das fällt schwer, sobald man beispielsweise an das 1939 von Deutschland überfallene Polen oder an das 1940 von Deutschland besetzte Norwegen denkt: Auch wenn man annimmt, dass Staaten nur ein derivatives, d. h. abgeleitetes, Selbstverteidigungsrecht zukommt, das sich aus dem je individuellen Selbstverteidigungsrecht ihrer Bürger ergibt23, lässt sich die Legitimität der Selbstverteidigung Polens und Norwegens in der jeweiligen historischen Situation meines Erachtens nicht in Abrede stellen. Wenn sich aber auch nur ein plausibles Beispiel legitimer kollektiver Selbstverteidigung finden lässt, ist die Behauptung, dass es keinen Fall legitimer Selbstverteidigung von Staaten oder sozialen Gruppen gibt, widerlegt.

Die zweite Möglichkeit, zu bestreiten, dass Krieg unter Umständen moralisch erlaubt sein kann, besteht darin, zu behaupten, dass die legitime Selbstverteidigung eines Staates oder einer sozialen Gruppe niemals den Einsatz militärischer Mittel erfordert. Eine solche Behauptung ist jedoch kaum plausibel. Denn von der Selbstverteidigung eines Staates oder einer sozialen Gruppe kann nur dann die Rede sein, wenn die betreffende Kollektivperson sich gegen einen Angreifer zur Wehr setzt, der sie als solche (und nicht etwa einzelne ihrer Mitglieder oder fremde Dritte) angreift oder bedrängt. Angriffe auf Kollektivpersonen als solche werden aber in den meisten Fällen mit militärischen Mitteln ausgeführt, und die Annahme, dass ein Kollektiv zur Selbstverteidigung gegen einen Angriff, der mit militärischen Mitteln erfolgt, seinerseits niemals militärischer Mittel bedarf, erscheint als weltfremd.

Die dritte Möglichkeit, die Voraussetzung zu bestreiten, besteht darin, zu behaupten, der Gebrauch militärischer Mittel sei selbst in einem Fall legitimer Selbstverteidigung prinzipiell illegitim, weil mit einem Krieg stets ein so hohes Eskalationsrisiko verbunden sei, dass die Pflicht zur Kriegsvermeidung das Selbstverteidigungsrecht prinzipiell überwiege. Ernst Tugendhat (* 1930) hat eine solche Position als »verantwortungsethische Konzeption von Pazifismus« bezeichnet.24 Dieses Argument überzeugt mich aus zwei Gründen nicht:

Erstens kann die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation, die im einen Fall unter Umständen sehr viel höher ist als in einem anderen, meines Erachtens nicht generell so hoch veranschlagt werden, dass aus ihr die faktische Aufhebung des Selbstverteidigungsrechts von Staaten und sozialen Gruppen folgt. Denn die Behauptung, dass »heute jeder Krieg notwendigerweise eine Form automatisierter Massenvernichtung«25 sei, ist empirisch – durch den Sechs-Tage-Krieg ebenso wie durch den Kosovokrieg der NATO und viele andere Kriege – widerlegt. In vielen Fällen ist zwar die Gefahr der Eskalation eines Krieges groß; daraus folgt jedoch nicht, dass die Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln prinzipiell illegitim ist. Vielmehr folgt daraus allenfalls, dass sie illegitim ist, wenn eine solche katastrophische Zuspitzung nicht mit hinreichender Sicherheit vermieden werden kann.

Zweitens beruht das Argument auf einer Abwägung, die schon im Grundsatz fehlerhaft ist. Denn das Argument, der Gebrauch militärischer Mittel sei selbst in einem Fall legitimer Selbstverteidigung prinzipiell illegitim, weil das mit einem Krieg verbundene Eskalationsrisiko das Selbstverteidigungsrecht prinzipiell überwiege, gewichtet den legitimen Wunsch Dritter, nicht durch eine Eskalation in einen Krieg hineingezogen zu werden und nicht durch eine Eskalation Schaden zu erleiden, prinzipiell höher als das Selbstverteidigungsrecht eines zu Unrecht angegriffenen Staates oder einer mit militärischen Mitteln terrorisierten sozialen Gruppe. Ihnen, die ja bereits Opfer militärischer Gewalt geworden sind, drohen nämlich durch eine Eskalation nicht in jedem Fall größere Schäden als die ihnen ohnehin bereits entstandenen. Eine derart grundsätzliche Bevorzugung der Interessen derer, die durch illegitime militärische Gewalt (noch) keinen Schaden erlitten haben, gegenüber den Interessen derjenigen, die bereits Opfer solcher Gewalt geworden sind, lässt sich jedoch auch nicht durch den Hinweis, dass die noch nicht Betroffenen in der Regel in der Überzahl sein dürften, überzeugend begründen.

Die Auffassung, dass es unter allen Umständen illegitim ist, Krieg zu führen, ist deshalb mit der in allen Kulturen weithin anerkannten Legitimität individueller wie kollektiver Selbstverteidigung nicht vereinbar. Auch die außerordentlichen Schwierigkeiten, die mit der Entscheidung darüber verbunden sind, ob das Führen eines Krieges ein Akt der Selbstverteidigung ist oder nicht, ändern an diesem Ergebnis nichts. Denn die Schwierigkeit der Abgrenzung von Selbstverteidigungsakten und anderen Handlungen erlaubt nicht den Schluss, Selbstverteidigung sei illegitim. Es fiele uns ja auch nicht ein, von der Schwierigkeit, Hilfe von Bevormundung zu unterscheiden – zum Beispiel bei der Betreuung kranker oder alter Menschen –, darauf zu schließen, dass Hilfe illegitim sei.

Gibt es einen gerechten Krieg?

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