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Wonach die Frage fragt
Оглавление»Gerechtigkeit« ist ein positiv konnotierter Begriff. Gerechtigkeit stellen wir uns zumeist als einen Zustand vor, der durch eine faire Verteilung von Gütern und die Bestrafung und Wiedergutmachung von Unrecht gekennzeichnet ist. Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, kann deshalb leicht so verstanden werden, als erfrage sie, ob Krieg mit einem solchen Zustand in Verbindung gebracht werden kann. Das wäre jedoch ein Missverständnis. Denn der Ausdruck bellum iustum (›gerechter Krieg‹), in dem der Aristotelische Gedanke eines polemos dikaion2 wiederauflebt, bezeichnet seit der Spätantike ein Kriegshandeln, das durch die Berufung auf göttliches oder natürliches Recht oder vernunftrechtliche Normen gerechtfertigt, d. h. als zulässig ausgewiesen werden kann. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« zielt auf die Möglichkeit von Krieg ab, der in diesem Sinn normativ gerechtfertigt ist.
Als normativer Maßstab kam dabei, weil es universell geltendes positives Völkerrecht nicht gab, bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts nur ein nichtpositiver Maßstab in Betracht: das Natur- oder Vernunftrecht, in dem sich das von Natur aus bzw. von Vernunfts wegen Richtige artikulierte. Heute kann demgegenüber über die Zulässigkeit von Krieg auf der Grundlage von Pakten und Verträgen, d. h. von universell geltendem positivem Völkerrecht, juristisch entschieden werden. Die Möglichkeit der Bezugnahme auf einen nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit hat dadurch aber nicht an Bedeutung verloren. Denn eine juristische Entscheidung über die Zulässigkeit von Krieg bezieht sich ihrer Natur nach stets nur auf dessen rechtliche Zulässigkeit. Die Bezugnahme auf die Moral, wie wir den nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit heute meistens nennen, ist deshalb aus mehreren Gründen unverzichtbar. Sie dient
(1) einer vom positiven Recht unabhängigen Beurteilung von Handlungen und Handlungsweisen,
(2) der Kontrolle und Kritik des positiven Rechts und
(3) der Begründung von Vorschlägen zu seiner Veränderung,
(4) der Rechtfertigung rechtswidrigen Handelns sowie
(5) der Begründung von Handlungserwartungen, die über das vom positiven Recht Verlangte hinausgehen.
Die Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt, zielt nicht auf eine juristische Auskunft ab. Sie nimmt vielmehr Bezug auf die Moral als einen nichtpositiven Maßstab normativer Richtigkeit. Ich verstehe die Frage deshalb so, dass sie erfragt, ob überhaupt – und wenn ja: unter welchen Bedingungen – das Kriegshandeln einer Partei als moralisch erlaubt und insoweit gerechtfertigt angesehen werden kann.
Indem ich die Frage so verstehe, setze ich zweierlei voraus:
Zum einen gehe ich davon aus, dass die Frage auf die Beurteilung eines Handelns abzielt.
Zum anderen nehme ich an, dass sie auf die Beurteilung des Handelns einer bestimmten Art von Akteuren abzielt, nämlich von Kollektivpersonen.
Erstens interpretiere ich die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« also so, dass sie sich nicht auf Krieg als ein Geschehen, einen Zustand oder einen Sachverhalt bezieht, sondern auf das mögliche moralische Recht einer handelnden Partei, Krieg zu führen. Unter Krieg wird dabei zwar grundsätzlich eine Form eines Konflikts verstanden, »an dem zwei oder mehr Akteure beteiligt sind«.3 Wo ich aber über Krieg als einen Gegenstand der moralischen Beurteilung spreche, verwende ich den Ausdruck »Krieg« als Bezeichnung für das Kriegshandeln jeweils einer Partei.
Verstünde man die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« demgegenüber so, dass sie auf die moralische Beurteilung eines Geschehens oder eines Sachverhalts abzielte, dann ließe sich darauf kaum mehr erwidern als dies: dass Krieg ein großes Übel ist und deshalb nicht gerecht. Eine Antwort auf so konkrete Fragen wie die eingangs genannten, ob ein Staat, der dazu in der Lage gewesen wäre, das moralische Recht gehabt hätte, 1915/16 den Völkermord an den Armeniern oder 1994 den Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda durch ein militärisches Eingreifen zu stoppen, ließe sich aus einer solchen Auskunft nicht ableiten.
Zweitens wird die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« im Folgenden so verstanden, dass sie auf die Beurteilung der Handlungen von Kollektivpersonen abzielt.4 Denn in
seiner Kernbedeutung bezeichnet ›Krieg‹ […] die Austragung eines Konflikts zwischen Staaten und/oder hierarchisch verfassten Kollektiven (z. B. aufständischen oder revolutionären Bewegungen oder Teilpopulationen eines Staates wie beim sogenannten Bürgerkrieg), bei der sich mindestens eine Konfliktpartei militärischer Gewalt bedient.5
Es geht also nicht um die Kriegführung einzelner Personen, wie sie sich in Nachbarschaftskriegen oder in Ehe- und Rosenkriegen manifestieren mag, sondern um den Einsatz militärischer Gewalt durch Staaten oder durch Kollektive, die – wie zum Beispiel Guerillabewegungen – über eine interne Struktur verfügen, welche es ihnen erlaubt, als Kollektiv gleichsam wie eine Person zu handeln.
Die Bedeutung des Kriegsbegriffs war und ist zwar historischem Wandel unterworfen,6 und der Begriff bezeichnet heute keineswegs mehr nur die militärische Austragung »symmetrischer« Konflikte zwischen politischen Verbänden.7 Privatkriege zwischen Individuen werden jedoch nicht mit Hilfe militärischer Apparate geführt, und Gegenstand moralischer Beurteilung kann nicht das zufällige Zusammentreffen unkoordinierter Aktivitäten Einzelner sein, sondern nur das Handeln eines Akteurs, der sich auch für eine andere Handlungsweise entscheiden könnte oder hätte entscheiden können. Die Frage »Gibt es einen gerechten Krieg?« kann deshalb sinnvollerweise nur so verstanden werden, dass sie sich auf das mögliche moralische Recht eines Staates oder einer nichtstaatlichen Kollektivperson bezieht, Krieg zu führen.
Wenn ich dort, wo ich auf ein solches moralisches Recht Bezug nehme, abkürzend auch von der Legitimität eines Krieges spreche, ist damit immer die moralische Erlaubtheit des Einsatzes militärischer Mittel durch jeweils eine Partei gemeint. Auch dort, wo ich danach frage, ob das Führen von Krieg (oder eine andere Handlung) rechtfertigbar oder gerechtfertigt ist, zielt die Frage auf die moralische Erlaubtheit von Kriegshandlungen ab.
Im Übrigen bezeichne ich mit dem Ausdruck »Ethik« nicht nur eine Teildisziplin der Philosophie, sondern vor allem die Theorie der Moral und das systematische Nachdenken über moralische Maßstäbe und moralische Fragen; mit dem Ausdruck »politische Philosophie« beziehe ich mich auf diejenige Teildisziplin der Philosophie, die politische Prozesse und politisches Handeln ethisch-moralisch reflektiert.