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Kapitel 7

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Als die Sonne langsam hinter den Gipfeln der Berge verschwand, tauchten die Fackeln den Festplatz in ein verzaubertes Spiel aus Licht und Schatten. Rolo hatte noch nie eine so große Menschenmenge schweigend erlebt. Der Abendwind, der vom See zu ihm hinüberwehte, brachte die Geräusche der Schiffsbesatzung mit sich. Kommandos wurden gebrüllt, eilige Füße rannten über das Schiffsdeck. Der Wind blähte die Segel und es klang, als würden riesige Bettlaken ausgeschüttelt. Rolo vernahm das mahlende Knarren, das Holz auf Holz erzeugt, als die lange Planke über die Reling geschoben wurde. Der Steuermann pfiff und erklärte damit das Anlegemanöver für beendet. Das war das Zeichen für die Besatzung, das Schiff zu verlassen. Im Gleichschritt gingen sie von Bord und verschwanden unter Beifall in der Menge. „Der Hirsch am Bug“, flüsterte Hallimasch, „ist der Sommerkönig.“

Rolo konnte riechen, dass Hallimasch dem Apfelwein sehr zugetan war.

„Sein Geweih trägt die ganze Welt. Dieses Schiff bekommen wir hier nur einmal im Jahr zu sehen. Es ist die Taranis.“

„Die was?“, fragte Rolo.

„Pst!“, zischte Onno.

„Die Taranis“, flüsterte Hallimasch. „Dieses Schiff ist so unsagbar alt, dass nicht einmal ich mich daran erinnern kann, dass es mal ein Jahr nicht kam. Was meinst du, wie alt ich bin?“

„Oh, ich würde schätzen, so um die …“

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Um sie herum sprangen alle von ihren Stühlen. Lana und Tinka standen auf und verschwanden im Gewühl. Viele stiegen auf Tische und Bänke. Auch Rolo und sein Vater versuchten, zwischen der wogenden Menge hindurch einen Blick auf das Schiff zu werfen. Hallimasch lehnte sich lächelnd zurück und nippte an seinem Wein. Irgendwo weit vorne, in der Nähe des Ufers, begann jemand einen langsamen Rhythmus zu klatschen. Vereinzelte Rufe wurden laut. Rolo verstand die Worte nicht. Ein zweiter Klatscher stieg in den ruhigen Takt ein, dann ein dritter. Wie ein Lauffeuer im trockenen Gras verbreitete das Klatschen sich über den Platz. Plötzlich erstarrte die Menge. Auf dem Achterdeck stand eine verschleierte Frau.

„Oje, dieses Jahr erscheint sie ganz in Schwarz“, raunte Onno.

Rolo nickte lächelnd, verstand allerdings nicht den Anlass für Onnos Kummer. Er streckte sich, um die Dame vom See genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr Kleid war aus schwarzer Spitze in einem wallenden Schnitt. Die Ärmel waren eng, wurden nach unten trompetenförmig weiter und verhüllten ihre Hände. Ein Schleier aus dem gleichen Stoff verdeckte ihr Gesicht bis auf die Augen. Rolo fand das alles sehr hübsch, aber er sah keinen Grund zur Aufregung.

„Sehen wohl nicht so oft Laienschauspieler hier“, flüsterte er seinem Vater ins Ohr. Der seufzte und nickte.

„Ja, so sind sie.“

„Die Beleuchtung ist spitze. Ich sehe überhaupt keine Fackeln oder Scheinwerfer, aber sie ist gut ausgeleuchtet. Hast du schon irgendwo Tante Farrah entdeckt?“

Sein Vater deutete zum Schiff.

„Was?“, platzte es aus Rolo heraus.

„Ruhe!“, forderte Onno.

Dann begann sie zu sprechen. „Wisst ihr noch, wer ich bin?“ Ihre Stimme erklang laut und deutlich über den Platz. Rolo schaute nach versteckten Lautsprechern, entdeckte aber nichts.

„Du bist die Bendith Geserith“, antwortete die Menge. „Richtig, das bin ich. Und wisst ihr auch noch, was ich bin?“

Wie aus einem Mund kam die Antwort: „Du bist die Herrin des Tals, des Sees, der Berge und Wälder. Du bist die Hüterin des Landes. Du bist die Mutter des Samens, der Nuss und des Schösslings.“

„Fürwahr, so ist es. Und wisst ihr auch noch, wo ich bin?“ „Du fließt, du schwebst, du webst, welkst und vergehst. Du bist überall.“

„Ja, so ist es. Ich sehe, ich bin unter Freunden.“

Langsam ließ sie ihren Blick von einer Seite des Platzes zur anderen schweifen.

„Wie jedes Jahr um diese Zeit gratuliere ich euch zu einer großartigen Ernte, meine Freunde. Wieder arbeitete die gesamte Dorfgemeinschaft Hand in Hand zum Wohle aller. Ich freue mich, dass sich so gut wie alle rege beteiligt haben. Und manch einer ist wirklich über sich hinaus gewachsen. Doch dazu später. Leider gibt es auch einige Tadel zu verteilen. Lasst uns damit beginnen. So bewegen wir uns vom weniger Schönen zum Guten. Der Schmied Schmottke hat sich in diesem Jahr bei der Berechnung seiner Preise wohl um eine Null vertan. Schmottke, du hast nichts gewonnen, wenn die Bauern sich deine Sensen nicht mehr leisten können. Wo kaufst du dann dein Brot, wenn niemand Getreide erntet, niemand Mehl mahlt, niemand Brot backt?“

Ein Raunen ging durch die Menge. Viele schüttelten empört den Kopf.

„Der geschätzte Schuster Rappen hat hingegen in diesem Jahr am falschen Ende gespart. Seine Schuhe waren mit weniger Fäden genäht als eine Kohlroulade beim Wirt Pint. Werter Rappen, es bringt dir nichts, wenn deine Freunde und Nachbarn ständig wegen Reparaturen zu dir kommen. Kurzfristig mag deine Kasse klingeln, aber du wirst nur die Preise aller Waren im Ort hochtreiben. Die Baumfäller können kaum barfuß in die Wälder, wie auch die Boten ungern barfuß die Briefe austragen. Möchtest du, dass die Zimmerleute sich Splitter laufen und nicht mehr arbeiten können?“

Rolo dachte an die armen Leute, die öffentlich angeprangert wurden und bestimmt auch hier zwischen ihren Freunden, Nachbarn und Familien saßen. Aber es erschien ihm auch sinnvoll und richtig, was die schwarze Frau zu sagen hatte. „Kommen wir nun zu den Geschäften des würdevollen Bürgermeisters Mocke. Nach dem stürmischen Beginn seiner jüngsten Amtszeit …“

Jemand zupfte Rolo am Ärmel. Er schaute sich verwundert um und sah Tinka. Oder Lana. Er konnte die beiden rothaarigen Mädchen, die auch noch fast das gleiche Kleid trugen, nicht unterscheiden. Der Blick ihrer klaren Augen ging ihm durch Mark und Bein. Um seine Verlegenheit zu überspielen, neigte er rasch den Kopf und brachte sein Ohr nah an ihren Mund. Mädchen waren ihm ein Rätsel, mit ihren Launen und ihrem seltsamen Gehabe. Ein Rätsel, dessen Lösung ihm der Mühe nicht wert schien. Warum dieser Moment ihn so kalt erwischte, wusste er nicht. Noch oft sollte er sich daran erinnern.

„Ist das nicht irre? Gefällt es dir hier?“, fragte sie.

„Ja, ist toll. Aber auch irgendwie abgefahren. Wer ist die?“ „Das ist nicht die, sondern die Bendith Geserith“, lachte das Mädchen. „Sie kommt einmal im Jahr und sieht nach dem Rechten. Da wird dann gelobt und viel gemeckert. Besonders habgierige Handwerker und Händler sind ihr ein Dorn im Auge. Jetzt geigt sie gerade dem Bürgermeister die Meinung.“

„Den Bürgermeister? Aber der ist doch das Oberhaupt der Stadt?“

„Klar, aber er ist auch ein gewählter Vertreter der Bürger. Da muss man ihn manchmal dran erinnern. Außerdem wird sie gleich berichten, was wir vom nächsten Jahr zu erwarten haben. Ich weiß genau, was du jetzt fragen willst. Ich weiß auch nicht, woher sie das alles weiß.“

„Abgefahren. Und das Gedicht, das ihr vorhin alle zusammen aufgesagt habt?“

„Gedicht? Du meinst die Losung. Das ist ein alter Vers. Wer den nicht kann, der ist nicht aus Neunseen. So konnte die Bendith Geserith früher herausfinden, ob sich keiner eingeschlichen hat, der hier nicht hingehört.“

„So wie ich. Hier gibt es viele seltsame Leute.“

„Findest du? Wo denn?“

„Na ja, eigentlich überall. Da gibt es diese langhaarigen Großen mit den Gewändern. So ein bisschen wie Karneval und Mittelaltermarkt.“

„Das kenn ich nicht. Aber ehrlich gesagt bist du der Einzige, der hier seltsam angezogen ist.“

Rolo entging ihr pikierter Ton nicht.

„Oh, nein, versteh mich nicht falsch. Ich finde es toll. Aber eben ganz anders als da, wo ich herkomme. Da tragen eben alle“ – er schaute an sich herab - „Jeans und T-Shirt.“

„Das ist aber ganz schön langweilig. Pst, jetzt kommt gleich der spannende Teil.“ Mit diesen Worten wandte sie sich von Rolo ab und gesellte sich zu einer Gruppe kichernder Mädchen.

Rolo seufzte und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Er vermied es, seinen Vater anzugucken, den er aus dem Augenwinkel breit grinsen sah. Rolo schaute verlegen zum Himmel rauf, nur um irgendwo hinzuschauen. Inzwischen war es dunkel, und keine Sterne waren zu sehen hinter dichten grauen Wolken. Leichter Regen setzte ein.

„So weit zum Rat der Stadt“, sagte die Bendith Geserith. „Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu. Bitte nehmt Platz, meine Freunde. Es war ein wundervoller früher Frühling nach einem sehr schneereichen Winter. Doch haben alle Dächer dem Schnee standgehalten. Leider haben die hungrigen Wölfe den Lämmern übel mitgespielt. Der Bürgermeister wird die Neolinga bitten, die Wolfsjagd im Sommer fortzusetzen, wenn die Welpen aus dem Gröbsten raus sind. So traurig das Töten von Tieren ist, ist es doch ein notwendiges Übel. Außerdem wird es den werten Herrn helfen, die verstaubten Knochen etwas auf Trab zu bringen.“

Die Menge lachte.

„Wir befinden uns seit so langer Zeit im Frieden, dass kaum noch jemand die Jahre zählt. Nicht immer waren die Neolinga nur zur Jagd da. Vergesst nicht, warum die Neolinga einst die Farralot von den Farindor übernommen haben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den unerschöpflichen Eifer unseres verehrten Schulleiters Adalar. Steh ruhig auf, mein Freund. Ich sehe dich doch.“

Weiter vorne erhob sich eine große Gestalt. Unter lautem Beifall verbeugte er sich. Bevor Rolo ihn richtig sehen konnte, hatte er sich wieder gesetzt.

„Die Farralot?“, wiederholte Rolo leise.

„Das ist die Schule“, flüsterte Onno.

„Schon immer war das Nachtschattental eine Insel, sagen die einen, eine Festung meinen die anderen. Wie auch immer, feststeht, dass wir mit den Konflikten der Welt nichts zu schaffen haben. Doch hört mir zu! Nicht ewig wird das so weitergehen. Öffnet euch für die Welt da draußen. Natürlich ist es mir viel wert, dass ihr die alten Traditionen noch am Leben erhaltet. Wäre ich sonst hier? Aber vergesst nicht, dass die Zeiten sich mehr als einmal gewandelt haben. Wenn Neunseen nicht die Tore öffnet, wird die Veränderung über uns hereinbrechen wie eine Flutwelle. Lasst lieber kleine Wellen hinein, die eine weniger zerstörerische Wirkung auf uns haben. Wir können die Zeit nicht aufhalten. Und wer sich ihr allzu lange widersetzt, dem wird sie die Beine wegziehen. Habt keine Angst. Es gibt viel Gutes da draußen. Nun zu den Gerüchten.“

Wieder wurde getuschelt.

„Ja, ich weiß, dass viele hier beunruhigt sind. Aber es sind nach wie vor nur Gerüchte. Wir wissen nicht, was des Nachts um den Spineus schleicht, wie die Älteren die Hecke nennen, die den Ort umspannt. Es könnten auch nur streunende Hunde sein. Und die angeblichen Fußspuren haben sich nach Überprüfung durch Meister Adalar als die Spuren des Entdeckers eben dieser Spuren erwiesen. Ich werde jetzt keine Namen nennen, um dem Betroffenen nicht noch mehr Schande zu bereiten.“

Rolo bemerkte, das Onno errötete.

„Dennoch begrüße ich es, dass ihr die Augen offen haltet. Hört gut zu! Ich sage euch, es wird Veränderungen geben! Bald! Doch sollten wir sie willkommen heißen wie lang entbehrte Freunde. Wie die Veränderungen sich auf unser aller Leben auswirken, kann ich jetzt nicht sagen. Doch solltet ihr nicht in starre Furcht verfallen. Wir sind eine starke Gemeinschaft, daran wird so leicht nichts etwas ändern. Und keiner wurde jemals fallen gelassen im Nachtschattental. Einige von euch wissen, wovon ich rede. Und die es jetzt nicht wissen, die geht es nichts an! Vertraut mir. Dies sind nicht die Zeiten für bierseliges Gewäsch. Lasst mich noch sagen, dass Vorsicht unser Begleiter sein soll im nächsten Jahr. Und ich meine damit nicht ungerechtfertigtes Misstrauen, Angst oder sogar Panik. Vorsicht ist das, was den Hasen vor dem Wolf bewahrt. Den panischen Hasen holt der Bussard, weil er zu viel Radau macht im Unterholz.“

Auch Rolo hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wovon sie sprach. Aber es klang sehr spannend für ihn.

„Es freut mich besonders, heute zwei Besucher in unserer erlesenen Runde begrüßen zu können. Steht schon auf, ihr beiden.“

Rolo erschrak. Sein Vater zog ihn am Ellbogen hoch und stand selbst auf. Die Blicke unzähliger neugieriger Augen ruhten auf ihnen.

„Dies sind der ehrenwerte Gatte meiner Nichte Grellon und sein Sohn Roland. Ich bitte euch, sie willkommen zu heißen. Sie sind auf meine persönliche Einladung hier.“

Verhaltener Applaus. Die Blutguts setzten sich schnell wieder hin. Obwohl Rolo vom Nieselregen durchnässt war, wurde ihm sehr warm.

„Sie werden bestimmt jedem gern berichten von ihrem Heimatort Rabenstadt und dem Leben außerhalb des Nachtschattentals. Nutzt diese Chance. Kommen wir nun zu denen unter uns, die sich in diesem Jahr besonders hervorgetan haben.“

Rolo bemerkte einen Mann. Er schob einen gewaltig dicken Bauch vor sich her, den er unter schwarzer Kleidung versteckte. Ein Cape hing über seinen Schultern. Er stand nur da und schaute rüber. Rolo schupste seinen Vater an und deutete auf den neugierigen Fremden. „Belenus? Bist du das wirklich?“ Paps sprang von seinem Stuhl und näherte sich mit offenem Armen dem dicken Mann. Auch der schien ausgesprochen froh, Rolos Vater zu sehen. „Grellon, mein Junge“, schluchzte er. „Dass meine alten Augen dich noch einmal wiedersehen. Wie lang ist das her? Elf Jahre?“

Die beiden Männer umarmten sich herzlich und ignorierten den Protest der Sitznachbarn über die Störung.

„Zwölf Jahre“, sagte Grellon und löste sich aus der Umarmung. „So ziemlich genau zwölf Jahre, Belenus. Damals war Roland in etwa ein Jahr alt. Ach, Roland, komm schnell her!“

Rolo stand auf und näherte sich zögerlich.

„Das ist mein Sohn. Roland, das ist dein Onkel Belenus. Belenus Brock, um genau zu sein.“

Rolo streckte eine Hand aus, doch sein Onkel umarmte ihn kräftig und drückte ihn fest an sich.

„Wie deine Mutter siehst du aus. Das bricht mir das Herz.“ Selbst wenn Rolo hätte antworten wollen, die kräftige Umarmung nahm ihm jeglichen Atem. Schluchzend schob Belenus Rolo wie eine Strohpuppe von sich weg, um mit beiden Armen seine Schultern zu packen.

„Prächtiger Junge, prächtig.“ Er ließ von Rolo ab und zog ein großes Stofftaschentuch hervor, in das er sich geräuschvoll schnäuzte. Natürlich war es schwarz.

„Verzeiht mir. Ich bin ein alter Trottel.“

Rolo betrachtete den Mann genauer. Er hatte graues dichtes Haar, das streng nach hinten gekämmt war. Leicht gebeugt stand er da mit seinem beachtlichen Körperumfang. Er musste einiges über hundert Kilo wiegen. Welche Kraft in ihm steckte, hatte Rolo ja bereits gespürt. Als das Gesicht wieder hinter dem schwarzen Tuch auftauchte, sah Rolo freundliche Augen, ein ausgeprägtes Doppelkinn und einen dunklen Spitzbart.

„Wann seid ihr angekommen? Ihr müsst hungrig sein? Wie seid ihr hierher gekommen?“ Er legte beiden Blutguts freundschaftlich einen Arm um die Schulter und führte sie an einen freien Tisch, der etwas abseits stand. Mehr Apfelwein wurde gereicht. Paps berichtete von ihrer Fahrt bis zu ihrer Begegnung mit Hwarf. Den Ärger mit Kjeir sparte er allerdings aus, und auch Rolo hatte kein Bedürfnis, davon zu erzählen. Aber er nahm sich vor, Belenus später nach Solomon, dem Schäfer, zu fragen.

Der Sommer der Vergessenen

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